Eine Achillesferse

Philipp Otto

Achilles war ein großer Held der griechischen Sagenwelt, stark, klug, gewandt und vor allem (fast) unverwundbar. Seine Mutter, die Meeresgöttin Thetis, tauchte ihn nämlich nach der Geburt in den Fluss Styx, welcher die Unterwelt von der Oberwelt trennt. Da sie ihn jedoch an seiner Ferse festhalten musste, blieb diese Stelle unbenetzt vom Wasser des Flusses und wurde zu Achilles' einzigem Schwachpunkt, der später auch zu seinem Tod führte, als ihn just dort der Pfeil des Paris traf. Ähnliche Mythen finden sich sowohl in der Nibelungensage, in der ein Lindenblatt eine Stelle des Rückens von Siegfried bedeckte, als er im Drachenblut badete, und in der nordischen Mythologie, in der die einzigartige Gefährdung in der Gestalt eines Mistelzweigs auftaucht, die Balder, Sohn der Frigg, verletzlich macht und schließlich auch tötet. Heute wird der Begriff vor allem als Metapher verwendet und bezeichnet eine verwundbare Stelle eines Systems oder einer Taktik.

Unbestritten ist, dass die Informations- und Kommunikationstechnologie in einer immer vernetzteren Welt mehr und mehr zum Risiko für Unternehmen, für Verbraucher aber auch für Regierungen wird. Der Wahlkampf in Amerika und die mögliche Manipulation durch Wahlcomputer ist seit Wochen Thema eines Untersuchungsausschusses und die Hackerattacke auf das Netzwerk des Bundes und der Sicherheitsbehörden zeigt einmal mehr, dass selbst vermeintlich bestens geschützte Systeme dies nicht sind und schnell zum Spielball professioneller Hackergruppen werden können. Auch der aktuelle Lagebericht des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) verdeutlicht eine neue Qualität der Gefährdung. Hier heißt es: "Die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung durch Entwicklungen wie dem Internet der Dinge, Industrie 4.0 oder Smart Everything bieten Cyber-Angreifern fast täglich neue Angriffsflächen und weitreichende Möglichkeiten, Informationen auszuspähen, Geschäfts- und Verwaltungsprozesse zu sabotieren oder sich anderweitig auf Kosten Dritter kriminell zu bereichern. Die Cyber-Angriffe mit Erpressungs-Software (Ransomware) oder gezielte Angriffe auf den "Faktor Mensch" (CEO-Fraud) haben deutlich gemacht, welche Konsequenzen diese Entwicklungen haben und wie verwundbar eine digitalisierte Gesellschaft ist."

Fragt man Vorstände von Sparkassen, Kreditgenossenschaften oder Banken in Deutschland nach ihren größten Sorgen, so fallen immer wieder die gleichen drei Begriffe: Niedrigzinsen, Regulierung und Digitalisierung. Gegen die aktuell sehr expansive Geldpolitik kann man wenig tun und muss darauf hoffen, dass EZB-Präsident Mario Draghi nicht als Totengräber des Zinses in die europäische Notenbankgeschichte eingehen will und vor seinem Ausscheiden 2019 noch die - hoffentlich - sanfte Zinswende einleiten wird, sofern ihm die Entwicklungen in den USA und der Euro-Dollar-Kurs dafür überhaupt noch die Möglichkeit lassen. Ähnlich ist es mit dem "Regierungstsunami". Auch diesen müssen die Institute als gegeben hinnehmen und hoffen, dass sich die Deutschen mit ihrem Wunsch nach mehr Proportionalität für kleine und mittlere Häuser in Brüssel durchsetzen können.

Bleibt das dritte Thema: BaFin Executive Direktor Raimund Röseler hat hierzu eine klare Meinung: "Aber ganz ehrlich: Ich habe den Eindruck, hier reden wir über einen Nebenkriegsschauplatz. Regulierung mag kosten, sie ist aber nicht existenzgefährdend für gesunde Banken. Aber was sich da am Markt unter dem Stichwort Digitalisierung zusammenbraut, das hat das Potenzial bestehende Banken vom Markt zu fegen", warnte er jüngst auf dem Bundesbank Symposium Bankenaufsicht im Dialog.

Und weiter: "Die Rohstoffe der IT wie Rechengeschwindigkeit, Speicherplatz und Bandbreite kosten nicht mehr viel. Das ermöglicht es sehr vielen kreativen Köpfen kreative Lösungen zu entwickeln. Dies wird die etablierten Banken auf der Ertrags- und auf der Kostenseite treffen. Wenn Sie alle Bankgeschäfte bis hin zum Bezahlen Ihrer Einkäufe bequem mit Ihrem iPhone abwickeln können, dann ist es dem Kunden eigentlich egal, wer die Bank ist, deren Struktur sie gerade nutzen. Die Kundenbindung verlagert sich von der Bank weg, hin zum Anbieter der App. Und wenn Sie Ihre Prozesse nicht höchst effizient gestalten, dann wird es Anbieter geben, die das besser können und damit Kostenvorteile gegenüber Ihnen generieren. [...] Die fortschreitende Digitalisierung führt dazu, dass diese neuen Wettbewerber ihre Prozesse gänzlich neu aufsetzen und vollständig digitalisieren. So etwas bedarf nicht viel Personal. Banken werden sich anpassen müssen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Zur Anpassung reicht es sicher nicht, die vorhandenen IT-Systeme etwas aufzupäppeln, mit ein paar Web-Anwendungen zu kombinieren und ein hübsches Hintergrundbild einzufügen. Anpassung heißt, das Geschäftsmodell komplett zu ändern, die Wertschöpfungskette zu digitalisieren und laufend zu optimieren, die Kommunikation mit den Kunden zu ändern."

Die Branche selbst scheint das Thema ebenfalls erkannt zu haben. Noch 2012 hatten Differenzierungsmerkmale wie Preisführerschaft, Kostenführerschaft und Technologieführerschaft die geringste Bedeutung. Das hat sich komplett gedreht. In der im vergangenen Jahr veröffentlichten Lünendonk-Trendstudie "Zukunft der Banken 2020" werden bis zum Jahr 2020 die heutigen Schlusslichter Kosten- und Technologieführerschaft spürbar wichtiger für den Geschäftserfolg der Banken. Es geht vor allem um Leistungsfähigkeit, Produktivität und Kreativität. Die vier Merkmale, auf die es nun ankommt, sind für die befragten Bank- und Sparkassenführungskräfte die Weiterentwicklung von Onlinebanking und Mobile Apps (+ 34,0 Prozent), die Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit (+ 24,7 Prozent), die Geschwindigkeit und Leistungsfähigkeit der Geschäftsprozesse (+ 20,7 Prozent) sowie die Innovationsfähigkeit beziehungsweise die Entwicklung innovativer Produkte und Services (+ 20 Prozent).

Erkennen ist das eine, umsetzen das andere. Denn mit der Umsetzung einer zukunftsfähigen IT-Strategie sind vielfältige Herausforderungen verbunden. Zum einen sind die Systeme häufig veraltet und nicht mehr in dem Maße leistungsfähig, wie es für einen digitalen Wandel vonnöten wäre. Man erinnere sich nur an die Schelte von John Cryan, der kurz nach seinem Amtsantritt 35 Prozent der IT der Deutschen Bank als untauglich bezeichnete. Zweitens kostet ein solcher Wandel Geld, enorm viel Geld, was viele Häuser schlicht nicht aufbringen können. Die Zinsmargen sinken seit Jahren, den Provisionsergebnissen gelingt es dank den bei Verbrauchern ungeliebten Gebührenerhöhungen erst langsam, die Rückgänge im Zinsgeschäft auszugleichen, gesammelte Erträge müssen für auskömmliche Kernkapitalquoten gehortet werden.

Drittens gleicht ein solcher digitaler Wandel einer Operation am offenen Herzen des lebenden Patienten. Anders als die branchenfremden Wettbewerber können die Institute nicht auf der grünen Wiese ein neues System bauen und sich dabei nur auf einige ausgewählte Produkte und Dienstleistungen konzentrieren. Es gilt vielmehr, den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten und parallel Fortschritte in den Systemen zu erzielen. Und viertens schließlich fehlt den Banken und Sparkassen schlicht und einfach das entsprechende Personal. IT-Spezialisten sind rar und teuer, die Arbeitszeiten in den Banktarifverträgen alles andere als akzeptabel für diese kreative Zielgruppe, die eher nachts arbeitet und morgens schläft. Immerhin kommt die BaFin den Häusern dahingehend entgegen, dass ab einer gewissen Gremiengröße auf die bisher verpflichtend vorgeschriebene Erfahrung im Kreditgeschäft verzichtet wird und branchefremde Spezialisten direkt in den Vorstand berufen werden können.

Wie die Zukunft ganz konkret aussehen wird, ist natürlich ungewiss. Und die deutschen Banken und Sparkassen haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Anpassungsfähigkeit ein um das andere Mal erfolgreich unter Beweis gestellt. Das müssen sie nun mehr denn je, denn der Umbruch hin zu einer digitalen Gesellschaft ist tief, vielleicht tiefer als andere Umwälzungen zuvor. Die IT der Institute wird dabei entweder Achillesferse oder Wachstumsmotor sein.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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