Die Angst vor der Freiheit

Philipp Otto, Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Es waren bewusst gewählte starke Worte: "Wir stehe heute vor einem neuen Bretton-Woods-Moment. Da ist eine Pandemie, die bereits mehr als eine Million Menschenleben gekostet hat. Da ist eine wirtschaftliche Schieflage, die die Weltwirtschaft in diesem Jahr um 4,4 Prozent schrumpfen lässt und bis Ende kommenden Jahres eine geschätzte Produktionsleistung von 11 Billionen US-Dollar vernichten wird. Und da ist eine unbeschreibliche menschliche Verzweiflung angesichts großer Disruption und zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder wachsender Armut. Wir stehen erneut vor zwei großen Aufgaben: Gegen die Krise von heute vorzugehen - und ein besseres Morgen aufzubauen." Kristalina Georgiewa, die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), wollte auf der diesjährigen Jahrestagung von IWF und Weltbank im Oktober nicht beschwichtigen oder beruhigen. Sie wollte wachrütteln.

Wir erinnern uns: Im Juli 1944 kamen Finanzminister und Notenbankgouverneure aus 44 Staaten im Rahmen der internationalen Währungs- und Finanzkonferenz der Vereinten Nationen in Bretton Woods, New Hampshire, zusammen, um über eine verbesserte weltweite wirtschaftliche Zusammenarbeit zu beraten und sich den verheerenden Folgen des Zweiten Weltkriegs gemeinsam entgegenzustemmen. Heraus kam das Bretton-Woods-Abkommen, dessen Kern das neu geschaffene internationale Wechselkursregime war, demzufolge sich die Mitgliedsstaaten verpflichteten, aufgrund von Paritätswerten, die in Gold oder dem damals goldkonvertiblen US-Dollar festzulegen waren, den Wechselkurs ihrer Währungen durch unlimitierte Interventionen innerhalb festgelegter Bandbreiten zu halten. Darüber hinaus wurden mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zwei unterschiedliche Institutionen ins Leben gerufen. Während der IWF mithilfe kurz- bis mittelfristiger Kreditvergabe aus dem allgemeinen, von den Mitgliedsstaaten finanzierten Reservetopf einzelne Länder bei Zahlungsbilanzungleichgewichten direkt unterstützen sollte, lag der Fokus der Weltbank auf reiner Entwicklungshilfe in Form von Projektfinanzierungen.

Seitdem ist viel passiert. Da das internationale Währungsgeflecht sich in den folgenden Jahren keineswegs als so statisch erwies, wie in Bretton Woods angenommen, kam es 1973 zum Zusammenbruch des auf Gold beziehungsweise Dollar basierenden Systems fixer Wechselkurse. Seitdem dürfen diese floaten. Zweitens sind die Finanz- und Kapitalmärkte enorm gewachsen und scheinen längst ausreichend liquide, um Zahlungsbilanzungleichgewichte zu decken. Drittens schließlich leben wir längst ein einer global vernetzten Welt, in der Transaktionskosten auf ein Minimum reduziert sind. Und viertens schließlich ist die Zahl der Mitglieder des Internationalen Währungsfonds geradezu explodiert: von 29 Staaten zu Beginn auf zuletzt 189.

Aufgrund dieser doch massiven Veränderungen hat der IWF eigentlich seine Existenzberechtigung schon längst verloren. Doch in verzweifelten Versuchen, ihn nicht abschaffen zu müssen, wurden ihm im Laufe der Jahre immer weitere, immer neue Aufgaben übertragen: Mikroökonomische Strukturreformen, Bankenaufsicht, Finanzmarktregulierung, Konkursrecht, Arbeitsmarktpolitik, Makropolitik, Steuerreformen, Lender of last resort ... es fiel und fällt schwer, den Überblick zu behalten, für was der IWF alles zuständig sein soll oder auch schon nicht mehr ist. Am Bedeutungsverlust ändert all das nicht viel.

Von daher kann man die Aussagen von Kristalina Georgiewa zum erforderlichen "neuen Bretton Woods" durchaus auch als cleveren Versuch werten, dem Internationalen Währungsfonds international endlich wieder zu entsprechender Wahrnehmung und damit Bedeutung zu verhelfen. So appellierte sie in ihrer Rede an "die Chance, einige anhaltende Probleme anzugehen - geringe Produktivität, langsames Wachstum, hohe Ungleichheiten, eine drohende Klimakrise. Wir können es besser machen, als nur die Welt vor der Pandemie wieder aufzubauen - wir können eine Welt aufbauen, die widerstandsfähiger und nachhaltiger ist".

Doch der Weg dahin ist bekanntermaßen steinig und lang. Denn die bisherigen globalen fiskalische Maßnahmen in Höhe von rund 12 Billionen US-Dollar und die Ausweitung der Bilanzen der großen Zentralbanken um 7,5 Billionen US-Dollar haben lediglich geholfen, die drohenden Einbrüche der Weltwirtschaft zu begrenzen. Der Ausblick für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung ist laut Georgiewa aber nach wie vor schwierig, ungleichmäßig, unsicher und anfällig für Rückschläge. Von daher dürften die Staatsprogramme im Kampf gegen die Krise auf gar keinen Fall zurückgefahren werden. Im Gegenteil: Öffentliche Ausgaben - vor allem solche in grüne Projekte und in digitale Infrastruktur - könnten laut IWF Millionen neue Jobs schaffen und die Wende bringen.

Der Staat muss es also wieder einmal richten. Mit dieser Meinung steht der Internationale Währungsfonds keineswegs alleine da. Die Europäische Zentralbank wird ihre Ankaufprogramme demnächst vermutlich ausweiten. Und viele europäische Staaten sind ebenfalls bereit, angesichts der auf Europa zurollenden zweiten Welle der Corona-Pandemie alle fiskalpolitischen Möglichkeiten auszuschöpfen - den Risiken einer enorm steigenden Staatsverschuldung zum Trotz.

Da schwingt sie wieder mit, diese Angst vor der Freiheit. Zugegeben, freie Märkte sind nicht besonders nett. Sie reagieren am liebsten schnell und schonungslos auf Nutzen wie Schaden in allen möglichen Welten - in Politik und Wirtschaft ebenso wie dem sogenannten Gesellschaftlichen. Sie nehmen scheußlich wenig Rücksicht auf alle Schwächen, menschliches Versagen inklusive. Sie belohnen nur zu oft und nur zu offensichtlich die ohnehin schon Starken und Mächtigen, streicheln die Gewinner ohne die Verlierer zu trösten, bevorzugen die Unternehmenden gegenüber den Zauderern oder all jenen, die es "halt nicht bringen". Kein Zweifel also, dass jeder, dem Effizienz das höchste ist, zumindest in der materiellen Welt keine effizientere Organisation unserer Existenz finden kann als die des Marktes. Und solange materielles Wohlergehen der großen Mehrheit das allerliebste ist, behalten die Märkte auch immer recht.

Mit zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit des Einzelnen wie des Gesamten steigt dann aber immer auch die Unzufriedenheit mit jenem freien Spiel der Märkte - die in der Regel zu Einschränkungen der Freiheit führt. Da ist zum einen das Bedürfnis nach dem Schutz der vermeintlich Schwächeren vor der vollen Konfrontation mit den Leistungsträgern. Das mag helfen. Allerdings ist längst noch nicht ausdiskutiert, ob die so geschaffenen Reservate dauerhaft schützenswert sein müssen, oder ob man damit nur vorübergehend die Entwicklung zur neuen vollen Marktfähigkeit ermöglichen will. Ebenso unklar ist, ob die im Tierreich zu beobachtende Beißhemmung, sprich jene Zurückhaltung, wenn der Untergebene endgültig die Flügel streckt, nicht auch in der Marktwirtschaft auftreten würde.

Zum anderen wird der Ruf nach staatlicher Hilfe immer auch als Schutz vor Strafe laut. Wie gesagt, freie Märkte können grausam sein. Da ist der Einzelne oder sind die Einzelnen doch bitte schön vor allzu heftigen Reaktionen der Marktteilnehmer auf Versäumnisse, Schlamperei, Unordnung, ebenso wie auf Irrtümer und Fehler zu bewahren - gleichwohl ob all das auf Vorsatz oder Fahrlässigkeit beruht.

Diese Angst vor der Freiheit hat ihre Berechtigung. Doch dürfen Eingriffe bitte immer nur vorübergehend Schutzwirkungen entfalten und muss Fehlverhalten bitte weiterhin mit Marktaustritten bestraft werden. Mit Blick auf die vom IWF beschworene neue Gemeinsamkeit beim Aufbau einer besseren Welt muss Ende 2020 ernsthaft bezweifelt werden, inwieweit dies in einer Zeit des "America/China/ Europe/Turkey or Russia First", der Handelskonflikte, des Protektionismus, des Erstarkens nationaler Kräfte, der mangelnden Kompromissbereitschaft und dem zunehmenden Egoismus, der ein Stück weit auch der Angst vor der Freiheit innewohnt, möglich scheint. Noch geht es vielen Menschen halt einfach zu gut - trotz Corona.

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Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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