Deutschland und der Euro

Philipp Otto

Der 1. Januar 1999 stellt einen Meilenstein in der Währungsgeschichte dar. Völlig zu Recht, denn die Geburt des Euro ist zweifelsfrei ein einzigartiges Ereignis. Erstmals übertrugen souveräne Staaten damals ihre geldpolitische Verantwortung auf eine supranationale Institution. Heute ist der Euro gesetzliches Zahlungsmittel in 19 europäischen Ländern mit mehr als 338 Millionen Einwohnern. Und auch wenn die europäische Einheitswährung nie ganz unumstritten war, so stand sie doch selten so sehr in der Diskussion und vielleicht so kurz vor dem Scheitern wie gegenwärtig.

Das liegt auf den ersten Blick an der für den Euro verantwortlichen supranationalen Institution, der Europäischen Zentralbank. Deren Arsenal an - noch durch das Mandat der Preisstabilität gedeckten oder sich schon im Bereich der unerlaubten mittelbaren oder unmittel baren Staatsfinanzierung bewegenden - geldpolitischen Instrumenten hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, über das man kaum noch neutral und frei von Emotionen diskutieren kann. Und es sind keineswegs nur die Banken und Sparkassen aus Deutschland, die warnend den Finger heben, da sie um ihre Erträge und damit auch um ihre Zukunft fürchten. Wie sollen manche Staaten ihre Schulden zurückzahlen? Die politischen Versäumnisse sind so groß, dass ein "gar nicht" immer wahrscheinlicher wird. Und wenn doch, dann vermutlich erst in so langen Zeiträumen, dass kaum einer der heute Verantwortlichen wirklich beurteilen kann, ob die Politik des billigen Geldes etwas gebracht hat oder nicht.

Es fragen sich zudem die Akteure beispielsweise an den Pfandbriefmärkten, ob all die Investoren, die die Zentralbank durch ihre Käufe aus dem Markt verdrängt, im Falle einer Normalisierung wieder zurückkehren werden. Die Kurse der Unternehmensanleihen haben freudig erregt auf die Ankündigungen der EZB reagiert, allerdings wird es auch hier nur eine Frage der Zeit sein, bis sich erste Zeichen einer gewissen Illiquidität im Markt breitmachen. Was heißt das eigentlich für eine Kapitalmarktunion, die ebenfalls das Ziel hat, den Kapitalmarktzugang für Unternehmen zu verbessern? Braucht man das noch, wenn die Notenbanken doch ohnehin alles aufkaufen? EZB-Präsident Mario Draghi selbst räumte schon einmal ein, dass die Geldpolitik der niedrigen Zinsen und die Anleihekäufe den Wert von Finanzanlagen nach oben getrieben und damit deren Besitzer begünstigt hätten. Schließlich: Was ist mit Erspartem und der Altersvorsorge?

Der frühere Ifo-Chef Hans-Werner Sinn, bekanntermaßen kein Freund der EZB und ihrer Politik, hat jüngst vorgerechnet, allein 2015 hätten die im Vergleich zu 2007 extrem niedrigen Zinsen Deutschland als Ganzes etwa 89 Milliarden Euro Wohlstand gekostet. Insgesamt dürften sich die bundesrepublikanischen Vermögensverluste durch den Niedrigzins seit 2008 auf 327 Milliarden Euro belaufen, kalkuliert Sinn. Und auch wenn solcherlei Berechnungen natürlich keineswegs unumstritten sind, da sie immer nur auf dem Vergleich zu einem früheren Zustand beruhen, so ist unzweifelhaft, dass ernsthafte Konsequenzen für Rentner und Sparer eine Folge dieser Geldpolitik sein werden.

Das ruft nun auch die deutsche Politik auf den Plan, denn sicherlich sind die Schmerzen hierzulande am größten. Wolfgang Schäuble jedenfalls attackierte die EZB ungewöhnlich scharf, auch wenn er mittlerweile ein wenig zurückruderte. Er forderte die Notenbanker zu einem Ausstieg aus der ungewöhnlichen Geldpolitik auf, da die Einsicht wachse, dass das "Übermaß der Liquidität inzwischen mehr Ursache als Lösung des Problems" sei. Zur Verteidigung des ökonomischen Mainstreams, der diese Geldpolitik stützt, gebe es aber nur das Argument, dass der Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik noch schwerer werde als die Beibehaltung, so der deutsche Finanzminister. Dieser eindeutige Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB sorgte natürlich für Irritationen. Bei den Betroffenen in der EZB selbst, aber auch in anderen europäischen Ländern. Schließlich waren es die Deutschen, die aus Sorge vor einem schwachen Euro bei Gründung der EZB eben genau auf die größtmögliche Unabhängigkeit gepocht hatten.

Draghi sagte dazu, eine freundliche und lebendige Debatte sei durchaus willkommen, weil sie der EZB die Möglichkeit gebe, ihre Geldpolitik zu erläutern, eine bestimmte Art der Kritik könnte allerdings als Gefahr für die Unabhängigkeit angesehen werden. So seien die Angriffe von deutscher Seite ein Thema im EZB-Rat gewesen. Man sei sich geschlossen einig darüber, dass solche Angriffe auf die Unabhängigkeit abgewehrt werden müssten. Und der oberste Währungshüter warnte gleich noch: "Jedes Mal, wenn die Glaubwürdigkeit einer Zentralbank infrage gestellt wird, führt das zu einer Verzögerung bei der Verwirklichung ihrer Ziele - und dazu, dass sie schlussendlich noch aggressiver vorgehen muss. Unsere Politik funktioniert, sie ist wirksam. Gebt uns Zeit", so der EZB-Präsident. Das scheint gewirkt zu haben, denn mittlerweile erhält die Notenbank kräftig Unterstützung aus Deutschland für die "alternativlose" Geldpolitik. Nicht nur Bundeskanzlerin Merkel sprach sich für eine Beibe haltung bei, auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, wahrlich kein Freund der unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen, und Vorstandskollege Andreas Dombret, zuständig für die Bankenaufsicht und damit auch nicht unbetroffen, verteidigten die ultralockere Geldpolitik. Während es bei Merkel nur Ja für die EZB heißt, folgt bei den Bundesbankern immerhin noch das "ja, aber ...", nämlich bitte nicht mehr zu lange.

Klar ist, Deutschland braucht höhere Zinsen. Klar ist auch: Die EZB ist mit der Aufgabe, die sie sich selbst auferlegt hat, derzeit überfordert. Sie kann nicht gleichzeitig die Fehler der Staaten ausbügeln, die ihre Haushalte nicht in den Griff bekommen oder nicht in den Griff bekommen wollen, die Banken zwingen, die Wirtschaft über eine verstärkte Kreditvergabe anzukurbeln und versuchen, gegen den Ölpreisverfall eine höhere Inflation zu erreichen. All das natürlich immer nur unter dem Vorbehalt, dass es zum Mandat einer ausschließlich auf Preisstabilität ausgerichteten Notenbank gehört. Schließlich ist es doch vor allem Aufgabe der Politik in den jeweiligen Ländern, Altlasten zu bereinigen und wachstumsfreundliche Bedingungen zu schaffen, auch wenn das mit großen Anstrengungen und mitunter schmerzhaften Einschnitten für die Bevölkerung verbunden ist. Doch oft sind die vielen Monate günstigster Finanzierungsbedingungen einfach ungenutzt vorbeigegangen.

Auch an anderer Stelle zeigen sich die Grenzen einer homogenen Geldpolitik für Nationalstaaten mit heterogenen Bedingungen deutlich auf: Während deutsche Banken liebend gerne mehr Kredit vergeben würden, um den Negativrenditen zu entkommen, sind Institute vor allem in Südeuropa nach wie vor nahezu ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und müssten erst den Berg an notleidenden Finanzierungen aus den Büchern bekommen. Aber der Schwächste gibt in einem solchen Konzert nun mal die Richtung vor, egal ob diese stimmt.

Es zeigt sich mittlerweile mehr denn je jenes "Spannungsverhältnis der besonderen Art", dass einer der Gründungsväter des Euro, Otmar Issing, damals schon ausgemacht hatte. Nämlich eine einheitliche Geldpolitik auf der einen und Nationalstaaten, die ihre Kompetenzen - oder soll man lieber sagen Zuständigkeiten - auf dem Gebiet der Wirtschaft und Finanzen überwiegend behalten, auf der anderen Seite. Verbunden mit der Flüchtlingsproblematik, den Spannungen mit dem Islam, zunehmenden Ost-West - und vielleicht bald auch Nord-Süd-Konflikten sowie dem Aufkommen von populistischen und nationalistischen Gruppierungen in europäischen Ländern, aber auch in Amerika und den Philippinen, entsteht hier eine Mischung, wie man sie seit Jahr zehnten in Deutschland nicht mehr beobachten konnte.

Dafür kann die EZB nichts, vielmehr macht die EU-Kommission derzeit einen zu schlechten Job. Aber die Angst der Menschen um ihre eigene Zukunft wächst. Und die Notenbank ist für gutes und stabiles Geld und damit ein gewisses Grundvertrauen in die Zukunft verantwortlich. Hier gibt es sicherlich Verbesserungspotenzial. Derzeit beschäftigen noch die Exit-Debatte (aus der ultralockeren Geldpolitik) und die Brexit-Gefahr die Gemüter und Schlagzeilen. Sollte aber noch eine D-Exit-Debatte dazukommen, weit ist das nicht mehr hin, wäre das wohl das Ende eines geeinten Europas. Vielleicht wollte man damals zu viel in der Hoffnung, dass die Währungsunion schon zur politischen Union führen werde. Doch selbst daran wird Europa nicht zugrunde gehen, auch wenn das die Bundeskanzlerin anders sieht. "Ihr" Europa dagegen vielleicht schon.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
Noch keine Bewertungen vorhanden


X