Finanz-Analphabetismus

Deutsche mit geringster Finanzbildung in Europa Quelle: Ipsos im Auftrag der ING DiBa.

Alle Kinder weltweit sollten eine Grundschule besuchen, die ihnen kostenfreie Bildung in guter Qualität bietet. Allen Jugendlichen und Erwachsenen sollte der Weg zum lebenslangen Lernen offenstehen. Und die weltweite Analphabetenquote sollte um 50 Prozent gesenkt werden. Das waren die globalen Bildungsziele, auf die sich Regierungen von 164 Ländern im Jahr 2000 beim World Education Forum in Dakar (Senegal) geeinigt haben. Erreichen wollte die Weltgemeinschaft sie binnen 15 Jahren.

Mit dem Weltbildungsbericht, den die Unesco in diesem Jahr vorstellte, wird jetzt eine ernüchternde Bilanz gezogen. Weltweit knapp 100 Millionen Kinder, die meisten in ärmeren oder krisengeschüttelten Ländern, haben auch heute noch so gut wie keine Chance auf einen Grundschulabschluss. Betroffen von dieser Bildungsmisere ist in den Problemländern jedes sechste Kind. Nur in etwa der Hälfte der Länder weltweit gebe es überhaupt flächendeckende Grundschulangebote für alle Kinder. Demnach habe nur ein Drittel der Länder die im Jahr 2000 in Dakar beschlossenen Ziele einer messbaren "Bildung für alle" erreicht, teilte die Unesco mit.

Und in Deutschland? Hierzulande leben derzeit etwa 81,3 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge können 7,5 Millionen davon weder lesen noch schreiben, sind also Analphabeten. Noch schlimmer scheint die Situation beim Rechnen. Schon an der an sich sehr einfachen Aufgabe 1-2 + 1-4 scheitern viele. Nur 57 Prozent der Erwachsenen mit Hauptschulabschluss konnten die Rechnung richtig beantworten und selbst zwölf Prozent der Erwachsenen mit Abitur kapitulierten. Und das ist nur eines von vielen erschreckenden Ergebnissen einer aktuellen Studie zur Rechenkompetenz der Bürger in Deutschland. Angesichts solcher Zahlen kann und darf es nicht verwundern, dass die Deutschen auch ein Volk ökonomischer beziehungsweise finanzieller Analphabeten sind. Die Bundesbürger selbst räumen ein, eine unzureichende wirtschaftliche Grundbildung zu haben, und auch zahlreiche Studien der vergangenen Jahre fördern immer wieder erschreckende Unwissenheit zutage. 35 Millionen Verbraucher in Deutschland, das sind 53 Prozent, geben in einer europaweiten Studie von ING Diba und Ipsos Marktforschung an, keine Finanzbildung zu haben. Lediglich Spanien erzielt bei der Umfrage einen vergleichbar schlechten Wert.

Der amerikanische Industrielle Henry Ford soll einmal gesagt haben: Es ist gut, dass die Menschen das Bank- und Geldsystem nicht verstehen, sonst hätten wir eine Revolution noch morgen früh." Das mag bezweifelt werden. Denn wenn Menschen einen derart entscheidenden Wirtschaftszweig, der ihren Alltag so begleitet wie die Banken- und Versicherungswirtschaft, nicht verstehen, können sich die Dinge nicht im kritischen Dialog weiterentwickeln. Gebildete und informierte Verbraucher sind also ein wichtiger Faktor für eine innovative, wachstumsstarke und nachhaltige volkswirtschaftliche Entwicklung. Darin sind sich alle Akteure, gleich ob Politik, Verbraucherschutz oder Bankenlobby einig. Und es ist daher im Interesse aller Akteure, die Lücke zwischen dem Idealbild des rationalen Verbrauchers und dem realen Verbraucher so gering wie möglich zu halten. Die Umsetzung dieser Erkenntnis ist allerdings genauso mangelhaft, wie das Problem kompliziert ist. Statt konstruktiver Lösungssuche herrscht organisierte Verantwortungslosigkeit. Es dominieren Schuldzuweisungen und der Schuldige ist zumeist sehr schnell ausgemacht, nämlich die Finanzdienstleistungsindustrie, die von dummen Verbrauchern profitiert, weil man die besser abzocken kann.

Die Folge ist der zunehmende Eingriff in Geschäftspraktiken und Geschäftsmodelle. Nur: Eine permanent verschärfte Bankenregulierung, die von absoluten Spezialisten ausgearbeitet wird, hilft nur bedingt weiter. Keine Frage, der Verbraucher ist zu schützen und Banken wie Versicherungen haben in der Vergangenheit viele Fehler gemacht. Hier muss sich in Sachen Kundenorientierung und Transparenz noch viel tun. Doch bewahren verunsicherte Berater, die mittlerweile für ihr tägliches Brot mitunter schon persönlich haftbar gemacht werden können, seitenweise Produktinformationsblätter, stundenlange Beratungsgespräche mit entsprechend umfassenden Protokollen die Bürger wirklich vor Fehlentscheidungen in finanziellen Angelegenheiten? Oder führen sie nicht nur zu noch mehr Finanz- und Sparfrust und dem noch größeren Unwillen, sich mit ökonomischen Fragestellungen auseinanderzusetzen? Letzteres ist zu vermuten.

Damit machen es sich die Verantwortlichen zu einfach und lösen das Kernproblem nicht. Der Bundespräsident hat in seiner Rede zum Deutschen Bankentag 2014 richtig festgestellt, dass die Banken in Sachen Transparenz und damit besserer Verständlichkeit finanzieller Angelegenheiten eine Bringschuld haben. Doch Joachim Gauck sieht auch den Bürger in der Pflicht, konstatiert eine Holschuld der Verbraucher. "Wer die Quellen unseres Wohlstands verstehen, wer persönliche Chancen nutzen und Risiken einschätzen will, der muss sich informieren und in Finanzfragen kompetenter werden. Er darf sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass man über Geld nicht spricht", so der Bundespräsident. Es braucht für ein erfolgreiches Miteinander auch in Finanzfragen den mündigen Bürger. Doch wer muss was leisten?

Wie diverse Studien zeigen, unter anderem die zitierte von ING Diba und Ipsos, kommen die Schulen der Aufklärung nicht oder nur unzureichend nach. Wie wäre es also, wenn plötzlich ein Chef oder Ex-Chef einer Großbank eine öffentliche und verständliche Vorlesung über das Finanzsystem halten würde? Oder wie wäre es, wenn die Bundesbank einen renommierten Vertreter schicken würde, den Geldumlauf zu erklären? Vielleicht würde schon allein der Promi-Charakter dafür sorgen, dass die Menschen zuhören. Aber ist das auch gewollt? Angebote zur Verbesserung des Finanzwissens von Kindern und Jugendlichen aber auch Erwachsenen gibt es aus der Branche zuhauf. Viele Banken und Sparkassen stellen Materialien für den Unterricht zur Verfügung und schicken sogar Mitarbeiter unentgeltlich in die Schulen oder Abendschulen.

Doch die allgegenwärtige Skepsis gegenüber "der Wirtschaft" und "den Banken" führt dazu, dass diese meist gut gemeinten Angebote als verwerfliche Lobbyarbeit und Kundenfang öffentlich zerredet und dann meist auch abgelehnt werden. Banken traut man alles zu, nur nichts Gutes. Aber sollte man nicht den Branchenvertretern eine faire Chance geben und nicht hinter jedem Banker als Gastredner einen gierigen Geschäftemacher wittern? Das oft gehörte Argument, mit Vertretern der Finanzbranche in Klassenzimmern mache man die Böcke zu Gärtnern, ist zu kurz gedacht. Denn unter den Böcken sind viele, die sich bestens auskennen. Und: Banken müssen dringend Vertrauen aufbauen, das sie in der Finanzkrise verloren haben. Solange sich die Kultusminister nicht auf ein umfassendes ökonomisches Lehrangebot einigen können, ist etwas immer noch besser als nichts.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft

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