Karlsruher Ouvertüre?

Philipp Otto, Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist in Artikel 127 Absatz 1 des AEU-Vertrags festgelegt: "Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (im Folgenden ESZB) ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten." Weiter heißt es dort: "Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung der in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Ziele der Union beizutragen." Die Europäische Union hat verschiedene Ziele (siehe Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union), unter anderem die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität sowie eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. Preisstabilität ist somit nicht nur das vorrangige Ziel der Geldpolitik der EZB, sondern auch ein Ziel der Europäischen Union als Ganzes. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und der Vertrag über die Europäische Union stellen also eine klare Rangfolge der Ziele für das Eurosystem auf, wobei aus ihnen deutlich hervorgeht, dass Preisstabilität der wichtigste Beitrag ist, den die Geldpolitik zu einem günstigen wirtschaftlichen Umfeld und einem hohen Beschäftigungsniveau leisten kann.

So schreibt es die Europäische Zentralbank über sich selbst und meint, ihre Befugnisse damit eindeutig definiert zu haben. Doch genau über diese Befugnisse gibt es seit mehreren Jahren Streit. Der Vorwurf lautet monetäre Staatsfinanzierung. Bereits 2014 wandte sich das Bundesverfassungsgericht erstmals in seiner Geschichte im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens an den Europäischen Gerichtshof, um zu klären, ob die im Rahmen des "Outright Monetary Transactions"-Programms getätigten Käufe von Staatsanleihen mit dem Unionsrecht zu vereinbaren seien. Mit seinem Urteil vom 16. Juni 2015 hat der EuGH diese Vereinbarkeit bestätigt. Nach verschiedenen Einwänden aus Karlsruhe hatte der EuGH schließlich Ende 2018 geurteilt, dass die Käufe nicht gegen das EU-Recht verstoßen.

Für viele Beobachter beziehungsweise Kritiker der expansiven EZB-Politik ist diese Einschätzung falsch. Denn ihrer Meinung nach zielt das OMT-Programm faktisch auf den Erhalt der Euro-Währungszone in ihrem Mitgliederbestand ab. Das wiederum ist eine Zielsetzung, die nicht mehr in den Bereich der Geldpolitik fällt. Setzt man das voraus, schwindet die Legitimität der Unabhängigkeit der EZB. Denn je mehr geld- und wirtschaftspolitische Zuständigkeiten ineinander übergehen, desto mehr wandelt sich zudem das Verhältnis zwischen EZB, Euro-Mitgliedstaaten und EU zu einem politisch geprägten Kooperationsverhältnis, in welchem das Primat der Preisstabilität durch andere Ziele überdeckt werden kann. Da hilft es auch nicht, dass die EZB beziehungsweise die nationalen Notenbanken die Staatsanleihen nicht direkt, sondern nur indirekt über die Finanzmärkte ankaufen.

Nach der Billigung des OMT-Programms durch den Europäischen Gerichtshof war wieder das Bundesverfassungsgericht am Zug. Und wie. In ihrem Urteil vom 5. Mai 2020 haben die Karlsruher Richter die Beschlüsse der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen als kompetenzwidrig eingestuft. "Die Auffassung des Gerichtshofs, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar", heißt es in der Urteilsbegründung.

Die Karlsruher Richter kommen daher in ihrem Urteil zu dem Schluss: "Ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen wie das PSPP, das erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hat, setzt insbesondere voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen jeweils benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziels, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 Prozent zu erreichen, unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen, missachtet daher offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit."

Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung konnte der Senat dagegen nicht feststellen. Aber: "Das PSPP verbessert die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können; es wirkt sich daher erheblich auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten aus. Es kann insbesondere dieselbe Wirkung haben wie Finanzhilfen nach Art. 12 ff. des ESM-Vertrags. Umfang und Dauer des PSPP können dazu führen, dass selbst primärrechtskonforme Wirkungen unverhältnismäßig werden. Das PSPP wirkt sich auch auf den Bankensektor aus, indem es risikobehaftete Staatsanleihen in großem Umfang in die Bilanzen des Eurosystems übernimmt, dadurch die wirtschaftliche Situation der Banken verbessert und ihre Bonität erhöht. Zu den Folgen des PSPP gehören zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen sind. So ergeben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken. Wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen bleiben aufgrund des auch durch das PSPP abgesenkten allgemeinen Zinsniveaus weiterhin am Markt. Schließlich begibt sich das Eurosystem mit zunehmender Laufzeit des Programms und steigendem Gesamtvolumen in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil es das PSPP immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln kann."

Diese und andere erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hätte die EZB gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen, so das Bundesverfassungsgericht. Der EZB-Rat hat nun drei Monate Zeit, nachvollziehbar darzulegen, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Nach dieser Frist ist es der Bundesbank ansonsten untersagt, an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken.

Man darf natürlich davon ausgehen, dass es den klugen Juristen der Zentralbank gelingen wird, diese Verhältnismäßigkeit zufriedenstellend darzulegen. Von daher wird sich nicht viel ändern, das ESZB wird auch in den kommenden Monaten eifrig die Notenpresse anwerfen und milliardenschwere Anleihekäufe vornehmen, um die Folgen der Corona-Krise für Staaten und Menschen einigermaßen erträglich zu gestalten. Die Karlsruher Entscheidung ist also zunächst einmal nicht mehr als ein erhobener Zeigefinger. Entsprechend gelassen - zumindest nach außen hin - fallen auch die ersten Reaktionen von EZB und Bundesbank, von EU-Kommission und Bundesregierung aus.

Deutlicher kritischer und damit auch besorgter sind die Reaktionen aus den europäischen Nachbarländern, beispielsweise aus Frankreich und Italien. Zu Recht. Denn das Karlsruher Urteil trifft die ohnehin schon hin- und hergerissene Staatengemeinschaft in einer prekären Lage und könnte nur die Ouvertüre zu einer neuerlichen und sehr viel intensiveren Diskussion um EU und die Gemeinschaftswährung Euro sein. Denn es ist natürlich ein besonderes Signal nationaler Souveränität, wenn ein Gericht aus dem größten Mitgliedsland Beschlüsse des obersten europäischen Gerichtes anzweifelt und europäischen Institutionen eine Überschreitung ihrer Kompetenzen vorwirft. Aus einer Krisenintervention der EZB droht eine strukturelle Weichenstellung für die Europäische Union und die Europäische Währungsunion in die falsche Richtung zu werden.

Ob man da noch auf den Euro trotz all seiner Vorzüge wetten sollte?

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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