Kein Gespenst mehr

Philipp Otto Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Gespenster sind am liebsten unsichtbar, treiben sich im Dunkeln herum, erscheinen, wenn überhaupt, nur zeitweilig, um jemanden zu erschrecken, lieben das Geheimnisvolle, lassen sich nur schwer beschreiben und erklären und erfahren daher wenig Zuneigung - kaum einer glaubt an sie. Wird deshalb so gerne vom "Inflationsgespenst" gesprochen? Weil die Preissteigerung unerklärlich ist, weil sie viele erschreckt und weil nicht jeder daran glaubt? Vor allem Zentralbanker in den Türmen der EZB am Frankfurter Mainufer nicht?

Damit ist es spätestens seit Putins Einmarsch in die Ukraine vorbei. Konnten die Währungshüter Bedenken von Ökonomen, Bankern, Wirtschaftsführern, bezeichnenderweise kaum von Politikern, lange Zeit noch mit dem Hinweis auf die Pandemie abtun, müssen sie nun anerkennen, dass die Preissteigerung kein vorübergehendes Phänomen mehr ist, sondern sich längerfristig festsetzen wird. Noch im September 2021 schrieb EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel: "Eine sachliche Einordnung der jüngsten Preisanstiege und künftigen Risiken ist wichtig, weil gerade in Deutschland Ängste geschürt werden. Da wird von Weimarer Verhältnissen gesprochen, und es werden Parallelen zu den 1970er-Jahren gezogen. Ich werde erläutern, dass diese Vergleiche irreführend sind. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die aktuelle Geldpolitik zu permanent höherer Inflation oder gar zu einer Hyperinflation führen wird." Heute schreibt die Ökonomin, die wie ihre Kollegen auch viel zu lange von einer deutlichen Abschwächung der Preissteigerung im Jahr 2022 ausging, das nicht mehr. Und alle, die damals schon gewarnt haben, dürfen sich bestätigt fühlen. Die EZB hat sich geirrt. Leider!

Für Deutschland betrug die Inflationsrate im März 2022 stolze 7,3 Prozent. Höher war sie laut Statistischem Bundesamt zuletzt 1951 mit 7,6 Prozent. In den dieser Tage viel zitierten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts betrug sie 1973 in der Spitze 7,1 Prozent, 1981 durch den rasanten Anstieg der Ölpreise dann 6,3 Prozent. Bundesbank-Präsident Joachim Nagel wird da erfrischend deutlich: "Wir erwarten im Jahresdurchschnitt 2022 eine Inflationsrate, die bei 6 Prozent liegen kann. Das ist natürlich zu viel. Diese hohen Inflationsraten dürfen sich nicht verfestigen." Denn diese hohe Inflation trifft zwar auf eine immer noch wachsende Wirtschaft, allerdings lässt das Tempo spürbar nach. Viele Ökonomen erwarten gar einen Wachstumsschock. Nachdem die Prognosen für Europa und Deutschland bereits Ende vergangenen Jahres angepasst wurden, korrigierten die Forscher sie mit Ausbrechen des Ukraine-Krieges noch einmal kräftig nach unten. Die Konjunktur in Deutschland wird den Prognosen zufolge in diesem Jahr nur noch um 1,5 bis 1,8 Prozent wachsen. Für die Eurozone wurden die Erwartungen von 3,2 Prozent auf 2 Prozent zurückgenommen. Weltweit rechnet der IWF noch mit einem Zuwachs um 4,4 Prozent.

Und sie trifft auf eine Welt, in der die Staaten immer mehr auf Pump leben. Die weltweite Staatsverschuldung stieg 2021 auf einen Rekordwert von 65,4 Billionen US-Dollar. Seit Ausbruch der Pandemie Anfang 2020 hat sich die Staatsverschuldung damit weltweit um mehr als ein Viertel erhöht. Von den großen Industrieländern verzeichnete Deutschland den größten prozentualen Anstieg: Die Verschuldung stieg um 14,7 Prozent und damit fast doppelt so kräftig wie der weltweite Durchschnitt. Tendenz steigend: Laut dem zweiten jährlichen Janus Henderson Sovereign Debt Index wird die weltweite Staatsverschuldung im Jahr 2022 um weitere 6,2 Billionen US-Dollar auf den neuen Rekordwert von 71,6 Billionen US-Dollar zulegen. Glücklicherweise sind die Schuldendienstkosten trotz der steigenden Verschuldung niedrig und liegen weltweit mit 1,6 Prozent sogar um zwei Prozentpunkte unter dem Vorjahreswert Und die trotz Pandemie kräftige Weltwirtschaftserholung ließ das Verhältnis zwischen Schulden und BIP von 87,5 Prozent im Jahr 2020 auf 80,7 Prozent 2021 sinken. Damit ist Schluss: Laut Janus Henderson wird die weltweite Zinslast im laufenden Jahr währungsbereinigt um rund 14,5 Prozent auf 1160 Milliarden US-Dollar steigen.

Diese Mischung ist gefährlich. Und sie offenbart das gesamte Dilemma der EZB, wobei Dilemma ganz im klassischen Sinne als Wahl zwischen zwei Übeln zu verstehen ist. Denn die Notenbank hat sich in eine Sackgasse manövriert, aus der sie ohne Weiteres nicht mehr herauskommt. Reagiert sie mit den klassischen geldpolitischen Mitteln, erhöht also die Zinsen, läuft sie Gefahr, die ohnehin schwächelnde Wirtschaft weiter in eine Abwärtspirale zu treiben. Gleichzeitig würde sich die Refinanzierung der Staaten in der Eurozone verteuern. Und das kann und wird nicht jedes Land ohne Schaden aushalten. Tut sie es nicht, drohen Inflationsraten im zweistelligen Bereich und im schlimmsten Fall die Stagflation. Vielleicht kann die EZB also gar nicht anders, als ihr Tun zu verteidigen. "Wir werden auf kurze Sicht mit höherer Inflation und niedrigerem Wachstum konfrontiert sein", räumt EZB-Präsidentin Christine Lagarde Ende März zwar ein, betonte aber im gleichen Atemzug, dass sich weder eine nachhaltige Rezession noch eine immer höhere Inflation abzeichneten. Wunschdenken, Hoffnung, Überzeugung?

Noch nie ist es einer Geldeinheit gelungen, ihren Wert dauerhaft stabil halten zu können. Das lehrt uns die Geschichte. Das muss man sich vor Augen halten, denn damit verkommt der Glaube an die monetären Manöver der für monetäres Maßhalten, für monetäre Disziplin also verantwortlich gemachten Institutionen und Personen zu einem monetären Mythos. Monetäre Maßarbeit gibt es nur in der Geldtheorie. Zudem stellt sich die Frage nach den Verantwortlichen. Die Schuld wird hin- und hergeschoben zwischen den Politikern, die den öffentlichen Aufwand munter hinaufschrauben einerseits, und den Verbrauchern, die genau das von ihnen fordern andererseits. Die Schuld kann den Gewerkschaften, die die Einkommen immer weiter emporpressen ebenso angelastet werden, wie den Arbeitgebern, die sich emporpressen lassen, den Unternehmen, die die Preise immer weiter erhöhen ebenso wie den Konsumenten, welche diese Preise bewilligen.

Schuld trifft die Notenbanken einerseits, die von den politischen Kräften überfahren werden und die Geschäftsbanken andererseits, die sich im System des Kreditgeldes des Strudels der fast automatischen Expansion des Geldvermögens nicht erwehren können. All das zeigt: Es gibt keine Alleinschuld, sondern viele Verantwortlichkeiten. Leider. Denn gerade diese Erkenntnis führt zu einem fortgesetzten Herumreichen des Schwarzen Peter. So schwer die Ursachenforschung, so trostlos und entmutigend die Aussichten. Auf den Bänken des Parlamentes wird sich nicht viel ändern lassen. "Politisch unmöglich" schallt es aus allen Ecken und Enden, wenn nach Mäßigung und einer Rücknahme vermeintlich wohlstandsichernder und -wahrender Wählergeschenke gerufen wird. Ebensowenig wird sich die Mehrzahl der Arbeitnehmervertreter nicht plötzlich zu unternehmensfreundlichen Arbeitgeberverstehern entwickeln. Viel zu viel Freude macht doch der immerwährende Klassenkampf auch heute in der sich stetig weiter entwickelnden digitalen Dienstleistungsgesellschaft.

In einer solchen Gemengelage kommen naturgemäß Zweifel auf, ob die tatsächlichen Möglichkeiten der Geldpolitik, dem entgegenzuwirken nicht überschätzt werden. Historisch betrachtet gibt es im Wettlauf von Zins- und Mindestreservepolitik und Inflationsrate keinen Sieger. Denn wie das frühere EZB-Direktoriumsmitglied Getrude Tumbel-Gugerell schon früh nach Gründung der EZB richtigerweise festgestellt hat: "Die Geldpolitik greift steuernd in die Wirtschaftsentwicklung ein, sie hat jedoch auch nur begrenzte Wirkung." Denn geldpolitische Entscheidungen können allenfalls mittelfristig Einfluss auf das Preisniveau haben. Sie können weder Strukturreformen auf Arbeits- und Gütermärkten erzeugen noch zu einer besseren Integration der Finanzmärkte beitragen. Und Geld-"Politik" braucht zur wirksamen Inflationsbekämpfung immer auch die Unterstützung der öffentlichen Hände.

Die Frage ist längst nicht mehr ob, auch nicht mehr wann, sondern eigentlich nur noch wie dem Gespenst Inflation begegnet werden kann. Doch da ist sie wieder, jene "monetäre Melancholie", die der Gründer und frühere Chefredakteur dieser Zeitschrift, Volkmar Muthesius, schon Anfang der siebziger Jahre traurig bemerkte. Wir werden sie aushalten müssen.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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