Mehr Mut!

Philipp Otto

Foto: Fritz Knapp Verlag

"Die wirtschaftliche Wiedererstarkung unseres Vaterlandes aus einer Lage, die vielen aussichtslos zu sein schien, die Schritte zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa und zur Schaffung einer echten Weltwirtschaft sind Meilensteine, welche auf dem Weg zu einer Festigung der Widerstandskraft unserer freien Welt stehen. Hier hat das wirtschaftspolitische Aufbauwerk Ludwig Erhards seinen geschichtlichen Standort. Die Idee dieser Politik beruht auf der Weckung und Entfaltung der Initiativkräfte, ohne welche die Wirtschaft in bürokratischer Unfreiheit erstarren müsste, und zugleich auf der Einsicht in die sozialen Bedingungen und Notwendigkeiten, welche das moderne Leben stellt." So heißt es im Vorspann eines von Erwin von Beckerath, Fritz W. Meyer und Alfred Müller-Armack für den früheren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard herausgegebenen Sammelbandes. Dieser erschien 1957 zum 60. Geburtstag Erhards am 4. Februar im Fritz Knapp Verlag und damit im gleichen Jahr wie Erhards wohl bekanntestes Werk "Wohlstand für Alle".

Dieses Zitat könnte inhaltlich aber auch aus der heutigen Zeit stammen, 63 Jahre nach dem 60. Geburtstag des früheren Bundeswirtschaftsministers und späteren Bundeskanzlers. Natürlich sind wir - zum Glück - weit von der Schrecklichkeit der Kriegsjahre entfernt, von den Folgen der Menschen- und Wertevernichtung, der Währungsvernichtung und der gesellschaftlichen Umschichtung mit immerwährenden politischen Unsicherheiten. Deutschland erfreut sich mittlerweile 75 Jahre ohne Krieg.

Und doch sind die Menschen in diesem Land wieder einmal besorgt, betroffen, orientierungs- und perspektivlos. Schuld ist ein Virus, den einzufangen gar nicht so einfach ist. Entsprechend stellt sich einmal mehr die Frage nach der richtigen Wirtschaftsordnung, nach dem zeitgemäß ausgewogenen Zusammenspiel zwischen mitunter grausamen freien Märkten, der schützenden sozialen Komponente und der richtigen Rolle des Staates.

"Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems. Sie ist das Problem." Alle Merkel-Gegner freuen sich an dieser Stelle zu früh. Denn mit diesem Satz aus seiner Antrittsrede ebnete der frühere US-amerikanische Präsident Ronald Reagan 1981 den Weg für die neoliberalistische Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten in den folgenden Jahren, mit einem Staat, der sich aus wirtschaftlichen Angelegenheiten herauszuhalten und lediglich für Infrastruktur und Rechtssicherheit zu sorgen hat. So weit, so gut. Doch immer dann, wenn es zu Problemen kommt, wenn eine Krise heraufzieht, ist es mit dem freien Markt nicht mehr so weit her und gewinnen Merkantilisten und Keynesianer die Oberhand.

Nach der Finanzkrise 2008 sprangen Regierungen mit Hunderten von Milliarden Euro, Dollars und Pfund ein, um einen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems und Marktaustritte zu verhindern. Lediglich die für das globale Zusammenspiel eher unwichtige Lehman Brothers ließ man pleitegehen.

Und ganz aktuell versuchen Politiker weltweit erneut, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Entscheidungen wie Lockdowns durch eine enorme Geldflut abzumildern. Allein die Bundesrepublik Deutschland hat Corona-Hilfen in Höhe von 350 Milliarden Euro bereitgestellt und weitere 400 Milliarden an Bürgschaften. Die EU noch einmal 750 Milliarden Euro. Und selbst Regierungen, die das freie Spiel der Märkte besonders laut predigen, verteilen Geld: Der US-Kongress machte zwei Billionen Dollar locker, Präsident Donald Trump ließ Schecks in Höhe von 1 200 Dollar an jeden Steuerzahler ausstellen. Und sogar Brasilien schüttete in der schlimmsten Phase eine monatliche Corona-Nothilfe für arme Familien aus, die in vielen Fällen sogar höher lag als deren ansonsten übliches Einkommen, woraufhin die Umfragewerte des keineswegs unumstrittenen rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro in die Höhe schnellten.

In solchen Zeiten stellt sich natürlich die Frage: Wie viel Staat ist nötig, wie wenig Staat ist möglich? Wieder einmal. Und es stellt sich zwangsläufig die Frage, was von den neoliberalen Vorstellungen und Absichten der Vordenker einer sozialen Marktwirtschaft für die praktische Politik übrig geblieben ist und wie die zeitgemäße Ausgestaltung auszusehen hat? Für das Konzept der sozialen Marktwirtschaft sind solche Zweifel nichts Neues. Schon die Entstehungsgeschichte des wirtschaftspolitischen Leitbildes der Bundesrepublik war davon geprägt. Galt es doch, die unerwünschten sozial- und gesellschaftspolitischen Bedingungen der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts endlich abzuschütteln und einen Gegenpol zu den Zeitströmungen einer zentralverwalteten Staatswirtschaft zu setzen.

Es ging im Kern darum, die soziale Komponente in einer freiheitlich und demokratischen Gesellschaftsordnung zu verankern, breiten Bevölkerungsschichten eine Teilhabe am wirtschaftlichen Wachstum zu sichern, ohne das freie Spiel der Marktkräfte grundsätzlich infrage zu stellen. Wachstum war das Zauberwort.

Die Meinungen dazu lagen weit auseinander: "An eine freiheitliche und freizügige Ordnung zu glauben, oder ihr gar zu vertrauen, erschien den meisten Politikern und Praktikern vermessen", schreibt Erhard selbst im Vorwort des Buches "Deutsche Wirtschaftspolitik - Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft". Doch in den folgenden Jahren festigte sich "die Überzeugung, dass sich diese Ordnung für ein fleißiges und redliches Volk segensreich auswirke und die einzig gemäße Form eines würdigen Lebens ist." Doch es folgten das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967, diverse Konjunkturprogramme in den siebziger Jahren, die Berliner und Brüsseler Regulierungs- und Harmonisierungswut, die Finanzkrise und nun schließlich die Covid-19-Pandemie. Immer wieder gilt die soziale Marktwirtschaft bei den einen als deutlich überfordert und den anderen durch übermäßige staatliche Eingriffe gelähmt.

Sie wird auch das überstehen und sich durchsetzen. Denn auch wenn der Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung beispielsweise Chinas in den vergangenen Jahren im Vergleich zu Deutschland, Europa, aber auch den USA den Eindruck zuließe, dass die Staatswirtschaft doch die zeitgemäßere und damit bessere Wirtschaftsordnung sein könnte, so darf nicht vergessen werden, dass die allgemein als notwendig empfundene Reform des Sozialstaates nur mit einem breiten gesellschaftspolitischen Konsens möglich ist. Die Neigung zu einem abrupten Kurswechsel ist aber weder in der Politik noch in der Gesellschaft festzustellen. Man möge sich nur ein derart massives Vorgehen gegen die eigenen Bürger hierzulande vorstellen, wie das in China der Fall ist, wenn doch schon angesichts der Corona-Maßnahmen der Bundesregierung über eine Diktatur geschimpft wird.

Die Reformvorschläge sind vielfältig. Sie reichen bei den Autoren dieser besonderen Neujahrsausgabe zum Jahreswechsel 2020/2021 von weniger staatlicher Regulierung und der Bereitschaft, Marktaustritte zu akzeptieren (Roland Koch) über eine bewusste Stärkung der Innovationskraft unserer Wirtschaft (Jan Cernicky und Martin Schebasta), die Abkehr von einer Vergemeinschaftung der Kosten des Sozialsystems (Joachim Starbatty), mehr Gemeinwohlorientierung anstelle der Konzentration wirtschaftlicher Macht bei einigen wenigen Spielern (Sahra Wagenknecht), konsequentem Bürokratieabbau (Steffen Kampeter) und einer Neuordnung des Arbeitsmarktes mit weniger Leih- und Zeitarbeit (Frank Werneke) bis zur Einbeziehung von Selbstständigen in die Alterssicherungssysteme (Gundula Roßbach).

Man mag bedauern, dass die Politik nicht zu großen Schritten fähig ist. Aber wenn alle Beteiligten die vielen kleinen Schritte gehäuft und vorausschauend in Richtung Eigenverantwortung und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit lenken und diesen Weg nicht gleich wieder mit vermeintlich schützenden, aber eigentlich nur hemmenden Stolpersteinen erschweren, hat Erhards Modell der Sicherung des Wohlstands durch Wachstum durchaus eine Zukunft. Aber es braucht mehr Mut.

Die Redaktion Ihrer Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen wünscht allen Lesern ein gutes und erfolgreiches Jahr 2021.

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Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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