Reformfähig

Philipp Otto Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Die Corona-Pandemie bleibt ein anhaltender Stresstest für die Gesundheitssysteme in den einzelnen Ländern und eine große Herausforderung für den Zusammenhalt und die Solidarität innerhalb Europas. Die Erschütterungen der Finanz- und Schuldenkrise sind auch zu Beginn des Jahres 2022 noch immer nicht vollständig überwunden, was sich nicht zuletzt an einer zaudernden EZB zeigt, die (noch) nicht gewillt ist, einen Exit aus der expansiven Geldpolitik des vergangenen Jahrzehnts zumindest anzudeuten, wie es andere Notenbanken tun und bereits getan haben. Die Flüchtlingsfrage stellt Europa nach wie vor vor enorme Schwierigkeiten, auch wenn sich der Brennpunkt von den Mittelmeerstaaten weit in den Osten verlagert hat. Was damals Erdogan, ist heute Lukaschenko. Den Austritt Großbritanniens hat die Union allen Unkenrufen zum Trotz erstaunlich gut überstanden. Gleichwohl stellt der anhaltende und sich mitunter verschärfende Populismus das Konstrukt Europa in nahezu allen Ländern der Union infrage. Und der Klima wandel sorgt für Spannungen zwischen den Generationen ("How dare you"), erfordert neue Konzepte der Energieversorgung, wobei die Länder dabei keineswegs in die gleiche Richtung denken, und beflügelt eine enorme Transformation des täglichen und wirtschaftlichen Lebens hin zu immer mehr Digitalisierung.

Wie ist es da um die Tragfähigkeit der Wertegemeinschaft der Europäischen Union bestellt, wie steht es um Solidarität und Gemeinschaftssinn? Kann Europa all diese Herausforderungen bewältigen? Die Chancen dafür stehen keineswegs so schlecht, wie von manchen befürchtet, von anderen erhofft. Es gilt, dieses vor mehr als sechzig Jahren entstandene und immer wieder angepasste und verfeinerte Konstrukt Europa in den zwanziger Jahren des neuen Jahrhunderts - die sicherlich nicht so golden werden, wie die des vergangenen - erneut anzufassen und anzupassen, um es schlagkräftiger zu machen und für mehr Akzeptanz der europäischen Idee zu sorgen. Eine demokratisch gefestigtere, handlungsfähigere und strategisch souveränere Europäische Union ist die Grundlage für unseren Frieden, Wohlstand und Freiheit, heißt es dazu im Koalitionsvertrag der neuen bundesdeutschen Ampelregierung um Bundeskanzler Olaf Scholz. Das ist mit Blick auf die Machtspiele zwischen den USA, China, Russland und Europa sicherlich richtig. Und auch die Umbrüche, vor denen die einzelnen Länder Europas stehen, lassen sich sicherlich nur schwerlich allein national bewältigen. Doch ist es zumindest fraglich, ob sich das Ziel von SPD, Grünen und FDP, dass nämlich die Reformen in einem föderalen europäischen Bundesstaat münden, sich tatsächlich verwirklichen lässt. Ausgeschlossen ist es aber nicht. Denn es spricht manches dafür, dass die EU tatsächlich in der Lage ist, sich einmal mehr neu zu erfinden und damit die Integration voranzutreiben.

Da ist das im Sommer 2020 verabschiedete Investitions- und Wachstumsprogramm Next Generation EU (NGEU), das wichtige Grundlagen für den Wiederaufbau schafft und einen Meilenstein in der Geschichte der Europäischen Union darstellt. Denn erstmals in der Geschichte wird dieser Fonds durch Schulden finanziert, die von der EU selbst aufgenommen und lediglich durch Garantien der Mitgliedsstaaten abgesichert werden. Darüber hinaus ist es den Verhandlern dieses Abkommens gelungen, einen Kompromiss zwischen reinen Transferzahlungen und der von einigen Mitgliedsländern geforderten reinen Kreditvergabe zu finden: 500 Milliarden Euro Transfers und 250 Milliarden Kredite. Bleibt die schwierige Frage nach der Mittelverwendung, denn nicht wenige Kritiker des Abkommens fürchten, der Wiederaufbaufonds untergrabe die Haushaltsdisziplin in der EU und ebne den Weg in eine "Transferunion", in der einige Mitgliedsstaaten auf Kosten anderer leben.

Die Europäische Kommission hat erklärt, dass sie NGEU nicht nur als Mittel zur Erhöhung der Defizitausgaben in Europa und zur Umverteilung der Mittel zwischen den Ländern betrachten wird, sondern auch als Möglichkeit, die öffentlichen Ausgaben in Richtung europäischer politischer Prioritäten zu lenken, insbesondere in Richtung des Green New Deal und der digitalen Transformation. Entsprechend wurde die Inanspruchnahme der NGEU-Mittel an vier Bedingungen geknüpft. Wenn es gelingt, die eher allgemein formulierten Ziele, die den Mitgliedsstaaten zweifelsohne einen großen Ermessensspielraum in Bezug auf die Verwendung der Mittel lassen, einzuhalten, kann das für die weitere Entwicklung und Integration der EU ein wesentlicher Schritt sein. Ist es dann doch gelungen, die Sorgen vor einer Transferunion zu widerlegen und eine echte gemeinsame Investitions- und Wachstumsoffensive zu starten. Nun gleich von einer Verstetigung solcher Maßnahmen zu träumen, ist sicherlich verfrüht. Michael Hüther argumentiert in dieser Ausgabe dafür, Markus Ferber dagegen.

In eine ähnliche Richtung gehen die angestoßenen Überlegungen zu einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Dieser wurde im Frühjahr 2020, als es darum ging, die durch Corona ausgelösten Turbulenzen zu bekämpfen und die Wirtschaft in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu stabilisieren, ausgesetzt. Mit Erfolg, wie sich eineinhalb Jahre später zeigt. Aber der Preis ist hoch: Schätzungen zufolge wird die Verschuldung der 19 Euroländer Ende 2021 im Schnitt auf über 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ansteigen. Lediglich fünf Länder der Eurozone halten aktuell die im Vertrag von Maastricht vor 30 Jahren festgelegte Höchstgrenze von 60 Prozent für die Staatsverschuldung ein. Ab 2023 soll das aber wieder verbindlich für alle gelten. Utopisch!

Klaus Regling, als Geschäftsführender Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus einer der wichtigsten Hüter fiskalischer Disziplin in der EU, plädiert für eine Reform des Stabilitäts- und Wachsumspaktes, auch weil die Regeln im Zuge vieler Überarbeitungen kompliziert und schwer vermittelbar geworden seien und sich die Zeiten in den vergangenen 30 Jahren doch spürbar verändert haben. Der Vorschlag: Die bestehende 3-Prozent-Grenze für das laufende staatliche Budgetdefizit wird beibehalten, während der Referenzwert für die Gesamtverschuldung von 60 Prozent auf 100 Prozent des BIP erhöht wird, was gerechtfertigt scheint, da damit eine deutlich geringere Zinsbelastung verbunden ist als mit einem Schuldenstand von 60 Prozent Mitte der neunziger Jahre. Für Regling wäre ein solcher Schritt eine gute Gelegenheit, überholte Gegensätze, zum Beispiel zwischen "Nord" und "Süd", fallen zu lassen. Für ihn haben die Länder im Euroraum weit mehr gemeinsame als gegensätzliche Interessen. Das bleibt wahrlich zu hoffen.

Viel auf diesem Weg wird auch davon abhängen, wer das durch den Abschied Angela Merkels entstandene Machtvakuum in Europa und damit dem internationalen Geflecht künftig ausfüllen wird. Der französische Präsident Emmanuel Macron würde dies sicherlich mehr als gerne tun. Eine Chance, sich zu positionieren, hat er gleich zu Beginn des neuen Jahres. Denn Frankreich übernimmt im ersten Halbjahr 2022 den Ratsvorsitz in der EU. Allerdings muss er für seine Wiederwahl in diesem Jahr gleichzeitig in Frankreich selbst den rechten Präsidentschaftskandidaten wie Marine Le Pen, Éric Zemmour oder Valérie Pécresse den Wind aus den Segeln nehmen. Ob dieser Spagat gelingt, wird das erste Halbjahr 2022 zeigen.

Auch Mario Draghi wäre sicherlich mit all seiner politischen und geldpolitischen Erfahrung ein guter Kandidat. Und die Reformen in Italien sprechen für ihn. Allerdings hat er aufgrund seiner EZB-Vergangenheit natürlich den Makel, allzu lax mit Themen wie Stabilität und Euro umgegangen zu sein. Es bleibt also wohl an Olaf Scholz hängen, der sich bislang noch zurückhält. Aber der Mensch wächst schließlich mit seinen Aufgaben und manche Sterne gehen etwas später auf als andere.

"Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen", erklärten 34 Staats- und Regierungschefs aus Europa und Nordamerika am 21. November 1990 in der "Charta von Paris". Es wäre schön, wenn dies mehr als 30 Jahre danach tatsächlich gelebt würde. Denn ohne Europa würde es für alle schwer, auch wenn Europa manchmal schwerfällt.

Ich wünsche Ihnen allen einen guten Start in ein munteres, fröhliches und erfolgreiches Jahr 2022! Bleiben Sie uns gewogen.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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