Von den Schwierigkeiten politischer Wunschvorstellungen

Philipp Otto Chefredakteur, Foto: Verlag Fritz Knapp GmbH

Wer möchte heute schon Politiker sein? Der Job ist schlecht bezahlt. Man hat jede Menge Stress und ist weit von einer 5-Tage- und 38-Stunden-Woche entfernt. Man kann es niemandem recht machen. Man ist immer und an allem schuld. Und die Restlaufzeit ist mitunter sehr kurz. Wie viel besser haben es da doch die Manager, die zwar vor viele ähnliche Probleme gestellt sind, aber wenigstens vernünftig entlohnt werden.

Nun kann man fragen, war das früher anders? Nein, grundsätzlich nicht. Aber der Grad an Unsicherheit, der die eigenen Entscheidungen betrifft, nimmt gefühlt immer mehr zu. Seien es Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie oder die schnell fortschreitende Digitalisierung samt ihrer Folgen für Kommunikation und gesellschaftliches Zusammenleben - man kann immer weniger auf Erfahrungen zurückblicken. Kurt Tucholsky wird dazu in den Mund gelegt: "Erfahrung heißt gar nichts. Man kann seine Sache auch 35 Jahre lang schlecht machen."

Moderne Zeiten sind unsichere Zeiten - so lautet der Befund soziologischer Gegenwartsdiagnosen. Gemäß der Theorie reflexiver Moderne verlieren vertraute Rahmenbedingungen wie gesellschaftliche Klassen, Nationalstaaten, Institutionen oder die Erwerbsarbeit an Bedeutung. Es herrschen Intransparenz, Vernetztheit, Variabilität, Irreversibilität und Eigendynamik. Das heißt, es müssen immer mehr Entscheidungen getroffen werden und immer mehr Entscheidungen müssen unter Unsicherheit getroffen werden. Das erhöht das Risiko falsch zu liegen beziehungsweise nachjustieren zu müssen. Das wiederum fördert natürlich die Unzufriedenheit - der Betroffenen selbst ebenso wie das ihrer Wähler und Nichtwähler.

Denn der Anspruch, den alle an Politiker haben, ist doch, dass diese durch ihr Denken Probleme der Gesellschaft lösen und durch ihr Handeln Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. So nachzulesen bei Wikipedia. Auch diese Unzufriedenheit ist keineswegs ganz neu. "Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es; Was zu geben sei, die wissen's droben." Mit diesen Worten ließ schon Johann Wolfgang Goethe Prometheus sich gegen die Götter auflehnen, hadernd mit dem eigenen Schicksal. Ja, wenn die "da oben" nur mehr anders tun würden, dann ginge es mir besser. Doch so einfach ist es nicht, war es nie, kann es nicht sein. Denn zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft manchmal eine Lücke.

Das fängt mit Europa an. Der 1. Januar 1999 stellt einen Meilenstein in der Währungsgeschichte dar. Völlig zu Recht, denn die Geburt des Euro ist zweifelsfrei ein einzigartiges Ereignis. Erstmals übertrugen souveräne Staaten damals ihre geldpolitische Verantwortung auf eine supranationale Institution. Heute ist der Euro gesetzliches Zahlungsmittel in 19 europäischen Ländern mit mehr als 338 Millionen Einwohnern. Und er ist - wenn auch nie ganz unumstritten - stabil und hat sich längst hinter dem US-Dollar zur weitsichtigsten Reservewährung der Welt aufgeschwungen.

Eines hat sich aber nicht bewahrheitet: Der Wunschtraum Helmut Kohls und vieler seiner Weggefährten, dass aus der Währungsunion irgendwann auch eine politische Union würde, quasi automatisch. Kohls Vision war die eines starken, politisch geeinten Europas. Die Gemeinschaftswährung war für ihn nur ein Mittel zum Zweck: Mit dem Euro glaubte er, seine Vision unumkehrbar zu machen. "Ich hätte mir vielleicht noch deutlichere Fortschritte gewünscht und dass mehr Bereiche bereits zum jetzigen Zeitpunkt in Gemeinschaftskompetenz überführt worden wären", heißt es in seinen Erinnerungen über den Maastrichter Vertrag vom Februar 1992. Doch so viel ging damals nicht. Geht es heute? Muss es heute gehen?

Viele haben sich mittlerweile vom Traum der europäischen Einigkeit entfernt, empfinden die Europäische Union als Belastung - manche sagen gar als Albtraum. Das liegt an der wachsenden Sorge viele Europäer vor Abstieg und Armut, das liegt an hoher Arbeitslosigkeit, vor allem Jugendarbeitslosigkeit, an Perspektivlosigkeit, an einem Verlust von Identität und gefühlter Gerechtigkeit. Europa und die Eurozone sind schnell gewachsen, vielleicht zu schnell. Nicht jeder war für diesen Schritt bereit. Aber das führt nun zu einer Machtverschiebung in Europa mit wachsender Bedeutung der Süd-Süd- und Ost-Süd-Kooperationen.

Die Grundidee von Europa, die Grundidee eines Verbundes souveräner Staaten, der im Machtgefüge zwischen Ost (China) und West (USA) eine bedeutendere Rolle einnehmen kann als jeder einzelne Staat für sich allein, ist nach wie vor richtig. Bereits vor über 60 Jahren hat Jean Monnet, einer der Gründungsväter der Europäischen Union, festgestellt: "Unsere Länder sind zu klein geworden für die gegenwärtige Welt, gemessen an den modernen technischen Mitteln, gemessen an dem Amerika und Russland von heute, dem China und Indien von morgen." Aber der Gedanke Europa bedeutet auch die Aufgabe von Souveränität und den Glauben und das Vertrauen in dieses Europa. Gefühlt ist der Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa, die schon Winston Churchill 1946 erstmals forderte, weiter geworden als noch vor einigen Jahren.

Das geht, bleibt man bei Europa und dem Euro, mit der EZB weiter. Idee des Euro war und ist es, den europäischen Binnenmarkt zu fördern und für Wirtschaftswachstum und Wohlstand zu sorgen. Doch steigt mit dem Euro auch die Wahrscheinlichkeit, dass manche versuchen, auf Kosten anderer zu leben, dass systemische Probleme entstehen oder sich verstärken: ein Staat steckt das nationale Bankensystem an, oder umgekehrt, und die Probleme breiten sich über Ländergrenzen hinweg aus. Den Euro stabil zu halten, war und ist die Hauptaufgabe der Europäischen Zentralbank.

Mittlerweile ist die EZB mit der Fülle der Aufgaben, die man ihr auferlegt hat, überfordert. Sie kann nicht gleichzeitig das Fehlverhalten mancher Staaten ausbügeln, die ihre Haushalte nicht in den Griff bekommen oder nicht in den Griff bekommen wollen, mit Negativzinsen gegen einen drohenden Wirtschaftsabschwung ankämpfen, indem sie Banken dadurch zwingt, Kredite zu vergeben, statt Einlagen zu horten, durch Anleihekäufe für enorme Liquidität zu sorgen und eine stabile Inflation bei 2 Prozent zu erreichen. Gegen diese Überfrachtung mit Aufgaben hilft auch die neue Strategie nicht. Gemeinschaft heißt auch Eigeninitiative. Es ist zuvorderst Aufgabe der Länder, ihre Probleme zu bekämpfen. Die EZB will und soll dafür bestmögliche Rahmenbedingungen schaffen. Doch viel zu oft sind in den vergangenen Jahren diese Bemühungen einfach ungenutzt vorbeigegangen.

Mit der zunehmenden Komplexität wächst auch der keineswegs nur politische Wunsch nach Vergleichbarkeit und Transparenz. Entsprechend werden von europäischen Institutionen, derer es wahrlich einige gibt, mehr und mehr Vorschriften erlassen, genau dies zu fördern. Beispiel Bankenaufsicht. Über Regulierung, Bankenunion, Einlagensicherung und Ähnliches werden nicht nur gleiche Regeln aufgestellt, die dann bei der nationalen Umsetzung mitunter wieder eine ordentliche Trennschärfe aufweisen, sondern es wird auch auf eine immer größer werdende Homogenität hingewirkt, manche sprechen gar von Strukturpolitik.

Dabei ist doch längst erwiesen, dass heterogene Systeme den Wettbewerb und damit auch Innovationen fördern und sich als wesentlich stabiler gegen externe Schocks erweisen. Ein völlig gleich aufgestelltes Bankensystem mit nur noch wenigen aktiven Spielern ist zwar besser begreiflich, birgt aber viel höhere Risiken. Leider kommt dieser Gedanke in der gegenwärtigen Homogenisierungsdebatte viel zu kurz.

Untrennbar verbunden mit dem Wunsch nach politischem Erfolg ist natürlich der Wunsch nach Akzeptanz und nach Anerkennung. Man möchte gefallen. Entsprechend wird längst nicht mehr nur im Wahlkampf die schützende Hand und das Füllhorn des Staates über alles und jedes gehalten und ausgegossen, was dies vermeintlich sichert. Beispiel Verbraucherschutz. Dieser hat mittlerweile eine Bedeutung erlangt, dass man sich als mündiger Bürger mitunter fragt: Brauche ich diese Fürsorge und Zuneigung wirklich?

Und häufig ist die Kreditwirtschaft ob ihrer sehr besonderen Stellung als Branche "sui generis" intensiv betroffen. Zugegeben: Banken und Sparkassen machen sicherlich nicht alles richtig. Und sie haben natürlich zu einem gewissen Image in den vergangenen Jahren auch beigetragen. Aber der Ruf, der durch verbraucherpolitische Entscheidungen erzeugt wird, wird den vielen ordentlich am Kunden arbeitenden Häusern nicht gerecht. Man verlangt von der Kreditwirtschaft - teils zu Recht - eine besondere Sorgfalt, aber mitunter auch zu viel.

Egal ob Banken das gängige "Stillschweigen ist Zustimmung" nutzen, was viele andere Branchen übrigens auch tun, ihnen durch Dritte - in diesem Fall die EZB - entstehende Kosten an Kunden weitergeben, unverschämterweise für ihre Dienstleistung auch noch Geld wollen, Vermittlungshonorare einstreichen und, und, und - der Verbraucherschutz ist sofort zur Stelle. Dabei kann doch jeder Kunde sich seine Bank frei wählen und bei Unzufriedenheit die Bankverbindung wechseln. Oder wird die Kreditwirtschaft gar verdächtigt, ein Kartell zu sein? Manchmal könnte man es vermuten.

Zum berühmten Füllhorn des Staates nur so viel: Der deutsche Sozialstaat kostet viel Geld. Und zur Bewältigung der Corona-Pandemie wurde die Verschuldungsmaschinerie auf Hochtouren angeworfen. Im ersten Halbjahr ist der Saldo aus Einnahmen und Ausgaben von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen auf stolze 80,9 Milliarden Euro angewachsen. Das ist der höchste Stand seit 1995, als die Treuhandschulden der DDR in den Staatshaushalt übernommen wurden. Von Januar bis Juni 2020 betrug das Minus noch 47,8 Milliarden Euro. So leben die Politiker von heute mit ihren Versprechungen und Handlungen auf Kosten anderer in der Zukunft.

Hoffentlich finden sich auch in Zukunft ausreichend Menschen, mit Träumen und Visionen, die sich auf die Politik einlassen werden und auf die man dann wieder so herrlich schimpfen kann. Wir brauchen Sie. Und wie sagte schon Konrad Adenauer: "Nehmen Sie die Menschen wie sie sind - andere gibt's nicht."

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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