Zinsen und Schulden als Wahlkampfthema

Dr. Berthold Morschhäuser

Die maßgeblich aus der expansiven Geldpolitik der Europäischen Zentralbank resultierende Entlastung des deutschen Staatshaushaltes durch den niedrigeren Schuldendienst dürfte in den kommenden Wochen mit hoher Wahrscheinlichkeit direkt oder indirekt zu einem Wahlkampfthema werden. Schon vor der wirklich heißen Phase der politischen Wahlkampfrhetorik sind immer wieder Stimmen laut geworden, die Einsparungen an Zinsausgaben im Bundeshaushalt zur deutlichen Aufstockung staatlicher Investitionen einzusetzen. Den Ökonomen der Deutschen Bundesbank ist es nun zu verdanken, solche Diskussionen nicht nur abstrakt führen zu müssen, sondern mit aktuellen Zahlen belegen zu können. Im Monatsbericht Juli 2017 haben sie für Deutschland und die anderen EU-Länder umfangreiche Daten zusammengetragen, die die Dimension der Entlastungen verdeutlichen und damit zu einer Versachlichung der Debatte beitragen können. Für Deutschland wurde gemessen am Stand des Vorkrisenjahres 2007 eine Halbierung der Zinsausgaben ermittelt. In konkreten Zahlen bedeutet das für Bund, Länder und Gemeinden allein im vergangenen Jahr 2016 eine Ersparnis von 47 Milliarden Euro und kumuliert seit 2007 sogar eine Entlastung in der Größenordnung von 240 Milliarden Euro. Im gesamten Euroraum werden die Einsparungen seit 2008 auf nahezu 1 Billion Euro oder knapp 9 Prozent des dort erwirtschafteten Bruttoinlandsproduktes (BIP) beziffert.

Schon diese wenigen Eckdaten unterstreichen die finanziellen Spielräume, die die Geldpolitik den Eurostaaten mit ihren Leitzinssenkungen seit Mitte 2008 und in der Folge mit weiteren unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen bis hin zu den umstrittenen Anleihekäufen bietet. Ohne jede Frage haben all diese Maßnahmen erst einmal dazu beigetragen beziehungsweise es erst ermöglicht, die unmittelbaren Folgen der Finanzkrise und dann der Euro- und Staatenkrise zu bewältigen. Die erkaufte Zeit von mittlerweile neun Jahren über die akute Krisenbewältigung hinaus für eine merkliche Bereinigung ihrer Haushaltsdefizite zu nutzen, haben die Staaten freilich versäumt oder bewusst vernachlässigt. So wurde die staatliche Schuldenquote nur in einem einzigen Land des Euroraums, nämlich Malta, unter den Stand des Jahres 2007 (62,39 Prozent) zurückgeführt. Mit 58,25 Prozent gehört das Land damit zu den gerade einmal sechs der 19 Länder, die per Ende 2016 staatliche Schulden von unter 60 Prozent des BIP ausweisen und damit dieses Maastricht-Kriterium erfüllen. Fünf dieser Länder, nämlich die baltischen Staaten Estland (9,49 nach 3,66 Prozent), Lettland (40,13 nach 8,41 Prozent) und Litauen (40,23 nach 15,87 Prozent) sowie Luxemburg (20,02 nach 7,72 Prozent) und die Slowakei (51,94 nach 30,1 Prozent), haben dieses Verschuldungskriterium im gesamten Zeitraum nie verletzt. Für die Niederlande (62,26 nach 42,74 Prozent) und Finnland (63,58 nach 33,98 Prozent) liegt seine Einhaltung in Reichweite.

Deutschland weist Ende 2016 staatliche Schulden von 68,33 Prozent des BIP auf, nach 63,66 Prozent Ende 2007. Neben den Niederlanden und insbesondere Irland (75,46 Prozent für Ende 2016 nach 119,49 Prozent 2012 und 23,87 Prozent 2007) gehört es zu den lediglich drei Ländern, die ihre Schuldenquote nach den Höchstständen im Zuge der Finanzkrise wieder deutlich in Richtung der Zielmarke zurückgeführt haben. Für Griechenland hat die EU-Kommission für das vergangene Jahr 179,03 Prozent errechnet nach 103,1 Prozent im Jahre 2007, für Italien 132,61 Prozent nach 99,79 Prozent und für Frankreich 96,5 Prozent nach 64,35 Prozent. Betrachtet man schließlich die aktuellen Belastungen der Eurostaaten gemessen an der Quote der staatlichen Zinsausgaben zum BIP ist derzeit Portugal mit 4,24 Prozent am stärksten betroffen, gefolgt von Italien mit 3,96 Prozent sowie Griechenland und Slowenien mit jeweils 3,21 Prozent.

Vornehme Zurückhaltung legt sich die aktuelle Bundesbankanalyse hinsichtlich einer direkten Bewertung der wichtigsten Ursache für die massive Entlastung der staatlichen Haushalte auf - nämlich die Geldpolitik der EZB und der anderen Notenbanken. Es werden lediglich die Auswirkungen ihrer Maßnahmen in Zahlen festgehalten sowie einige Szenarien für die weitere Entwicklung der Staatsschulden aufgezeigt. So wird etwa klar und deutlich auf die Gefahr hingewiesen, bei einer möglichen Zinswende angesichts der immer noch hohen Schuldenstände das Vertrauen des Kapitalmarkts in die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen zu verlieren und die Geldpolitik erneut dem Druck auszusetzen, weitere expansive Maßnahmen einleiten zu müssen. Mit Blick auf Deutschland werden Bund, Länder und Gemeinden wiederholt ermahnt, sich nicht dauerhaft auf die außergewöhnlich günstigen Finanzierungsbedingungen zu verlassen. Für ganz Europa wird für die vergangenen drei Jahre der Tendenz nach ein Stocken der Konsolidierungsbemühungen registriert. Ebenfalls ziemlich ernüchternd klingt der Hinweis auf die Verschlechterung der Primärsalden in der Mehrzahl der Länder. Szenarien für den möglichen Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik werden ebenso wenig durchgespielt wie Zeitfenster zur behutsamen Umsteuerung.

Dabei ist es durchaus von elementarer Bedeutung, ob das Vertrauen in grundsätzlich stabile Kapitalmärkte die Handlungen der Marktteilnehmer bestimmt oder eher das Wissen um fehlende Handlungsalternativen der Europäischen Zentralbank und der anderen Notenbanken. Dass Spekulationen auf Letzteres durchaus zum Kalkül der Märkte gehören, lässt sich in den vergangenen Wochen in den USA wie in Europa sehr anschaulich an dem Wechselspiel zwischen verbalen Vorbereitungen eines kontrollierbaren Ausstiegs aus der expansiven Geldpolitik der Notenbanken und den daraus resultierenden Marktreaktionen erkennen. In den USA werden gerade wieder Stimmen laut, den nächsten Zinsschritt nach oben weiter hinauszuzögern. Und EZB-Präsident Draghi konnte einmal mehr seine Flexibilität demonstrieren. Den Renditesprung der Anleihemärkte nach seinen Andeutungen zu einer besseren Konjunkturlage in Europa anlässlich der EZB-Tagung Ende Juni in Sintra konnte er mit seiner Bestandsaufnahme bei der EU-Ratssitzung Ende Juli wieder einfangen, indem er der EZB-Geldpolitik sinngemäß noch auf geraume Zeit eine konjunkturfördernde Aufgabe zuschreibt. Angesichts der tatsächlichen Geldpolitik ist diese aber doch sehr weite und gewiss diskussionswürdige Auslegung des Mandats seines Hauses keineswegs überraschend. Den Märkten wie auch der europäischen Politik signalisiert sie auf geraume Zeit weitere finanzielle Haushaltsspielräume. Diese im hiesigen Wahlkampf allerdings mit konkreten Wahlversprechen aller Art pauschal als Verfügungsmasse für Investitionen des Staates zu belasten, erscheint dennoch gewagt. Dafür ist das Gebilde aus Geldpolitik und Marktreaktionen zu labil und die Risiken zu schwer kalkulierbar. Ob aber im deutschen Wahlkampf Raum für den Blick auf mögliche Zweit- oder Drittrundeneffekte der vermeintlich üppigen Entlastungsspielräume des Staatshaushaltes bleibt?

Dr. Berthold Morschhäuser , ehem. Chefredakteur , Fritz Knapp Verlag

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