MIPIM-SPECIAL

EIN STARKER HANDEL FÜR VITALE INNENSTÄDTE

Michael Reink, Foto: Hoffotografen

Mit einem eindringlichen Appell wandte sich der Handelsverband Deutschland (HDE) zu Jahresbeginn 2020 an die Bundespolitik: "Die Probleme der Händler bringen ganze Innenstädte ins Wanken. Wo der Handel stirbt, sterben Stadtzentren und Dorfgemeinschaften", heißt es in dem an Bau- und Innenminister Horst Seehofer adressierten Brandbrief. Um der drohenden Verödung deutscher Innenstädte entgegenzuwirken, müssten von Politik, Gesellschaft und auch den Immobilienbesitzern größere Anstrengungen unternommen werden. Im vorliegenden Beitrag werden die in einem "Elf-Punkte-Plan" zusammengefassten Forderungen detailliert vorgestellt. Red.

Der Handel ist und bleibt die Leitfunktion der Innenstädte: Die Meldungen um zunehmende Leerstände in den Handelslagen sowie die weiterhin hohen Umsatzzuwächse im Bereich des Onlinehandels verstellen den Blick für die Tatsache, dass der stationäre Handel in den Innenstädten weiterhin die Leitfunktion ist und in Zukunft bleiben wird. Auch wenn die Sogwirkung des Handels in einigen Innenstädten durch eine verminderte Flächenpräsenz zurückgeht, ist dies nicht gleichbedeutend mit einer veränderten Rangfolge der Innenstadtfunktionen.

Stirbt der Handel, stirbt die Stadt

Für Innenstädte mit einer verminderten Flächenpräsenz des Einzelhandels ist leider zu konzertieren, dass sie meist nicht nur eine nachlassende Handelsfunktion zu beklagen haben. In der Regel liegen breitere Funktionsstörungen vor. Ob diese durch die Steigerung anderer Funktionen aufgefangen werden können muss bezweifelt werden, da mit der Wohnfunktion keine Zentralitätssteigerung verbunden ist und andere Wirtschaftsbereiche wie etwa Banken oder Versicherungen ebenfalls die Filialnetze aufgrund der Digitalisierung konsolidieren. Im Ergebnis bleibt der Einzelhandel auch in diesen Innenstädten mit Funktionsstörungen die Leitfunktion.

Zudem zeigt die jüngste vom Handelsverband Deutschland (HDE) unterstütze Studie des IFH "Vitale Innenstädte 2018", dass der Hauptanlass zum Besuch der Innenstädte mit deutlichem Vorsprung das Einkaufen ist. Außerdem ist festzuhalten, dass über den Einzelhandel auch die höchsten Mieteinnahmen aller Innenstadtfunktionen zu erzielen sind. Demnach ist ein Mieterwechsel vom Einzelhandel zu einer anderen Funktion oft mit Mindereinnahmen verbunden.

Diese können dazu beitragen, dass die Immobilien an Rentabilität verlieren, die Ertrags- und schlussendlich die Buchwerte der Immobilien neu bemessen werden müssen und notwendige Instandsetzungs- und Renovierungsarbeiten verzögert oder gar nicht durchgeführt werden (können). Letzteres hat einen negativen Einfluss auf das bauliche Erscheinungsbild des Mikrostandortes und trägt nicht zur Attraktivität der Innenstadt bei.

Forderung: Wichtige städtebauliche Maßnahmen (Verkehrsführung, Baustellen, Ansiedlung von Frequenzbringern et cetera) müssen konsequent auf die Wirkungen bezüglich des Handels und somit der Versorgung der Bevölkerung untersucht werden. Die Händler sichern die Zukunft der Stadtzentren. Stirbt der Handel, stirbt die Stadt.

Investitionen in die Zukunft müssen sich rechnen

Digitale Infrastruktur ausbauen: Der Handel war schon immer serviceorientiert und hat den Kunden ein umfassendes Angebot geboten. Doch die Anforderungen an kundenorientierten Service sind für den Handel im Zuge der Digitalisierung extrem gestiegen. Die Digitalisierung ist dabei kein alleiniger Verursacher von Veränderungen. Vielmehr ist sie ein Katalysator der Veränderungen. So sind im Zeitraum von 2010 bis 2019 rund 35 000 Geschäfte vom Markt verschwunden.

Um dem Kundenwunsch nach größerer Transparenz sowie immerwährender Verfügbarkeit von Waren Rechnung zu tragen, sind Investitionen in den digitalen Kundenservice unumgänglich. Dies erfordert nicht nur erhebliche Investitionen in die (hoffentlich) richtigen Innovationen und den Aufbau von kognitiven Netzen in der Logistik (zum Beispiel B2C - letzte Meile), sondern auch ein völlig neues Know-how von den Mitarbeitern.

Ein erheblicher Teil dieser Investitionen macht aber nur Sinn, wenn diese Technik reibungslos funktioniert und auch beim Kunden "ankommt". Das hierzu notwendige schnelle Internet ist jedoch in großen Teilen Deutschlands nicht vorhanden. Auch die Vergabe der 5G-Lizenzen wird kurzfristig an diesem Zustand nichts ändern. Leider ist ein Versagen der Bundespolitik festzustellen, welches nicht mit "Willensbildung" allein behoben werden kann.

Forderung: Die Internetanbindung muss bundesweit beschleunigt werden. Dabei sollten die vielschichtigen Smart-City-Ansätze der Kommunen gestärkt werden.

Stärkeres Bewusstsein für die Stadtgestaltung

Baukultur und Flair erhalten: Das Thema "Baukultur" ist seit jeher eine Kernkompetenz des Handels. Viele der baugeschichtlich bedeutenden Innenstädte werden geprägt durch gute Handelsarchitektur. Auch wenn das Thema Einzelhandel einen hohen Stellenwert bei den wichtigsten Anziehungspunkten der Innenstädte hat, überwiegt bei den Kunden der Wunsch nach einem guten Ambiente und Flair. Der Kunde wünscht sich "gute Orte" mit einer hohen Aufenthaltsqualität.

Diese "guten Orte" ergeben sich durch die areal-bauliche Gestaltung beziehungsweise durch die Gebäude sowie Plätze und Grünflächen. Daraus wird ablesbar, dass der Handel bei der Gestaltung der Innenstädte intensiv mit den Kommunen zusammenarbeiten muss, da der Handel nur bedingten Einfluss auf die bauliche Gestaltung der Innenstädte hat. Die Gestaltung von Plätzen und Grünflächen ist komplett das Kompetenzfeld der Kommunen.

Forderung: Das Bewusstsein der Kommunen für die Bedeutung der Stadtgestaltung muss gestärkt werden. Hierzu sind Gestaltungsbeiräte verpflichtend einzurichten. Zudem muss die Baukultur bei der Vergabe von Städtebauförderung immer zu einem Kriterium der Mittelvergabe werden.

Schließungen sind ein gesamtgesellschaftliches Problem

Handel ist Heimat - die soziale Funktion der Branche honorieren: Der HDE erwartet insbesondere in Mittelstädten, die im Einzugsgebiet von Großstädten oder den Metropolen liegen, eine deutliche Zunahme der Leerstände. Dies ist verbunden mit einer Verringerung der Versorgungsdichte und wird zunehmend die "gleichwertigen Lebensverhältnisse" infrage stellen. Die Auswirkungen reichen für den Bürger jedoch viel weiter, weil mit dem Schließen von alteingesessenen Geschäften auch ein Verlust an Heimat und somit Identifikation einhergeht.

Zudem schätzt der Kunde das Engagement des Handels zur Stärkung des Standortes sowie die Unterstützung von sozialen und karitativen Einrichtungen. Der stationäre Handel verbindet daher aus Sicht der Kunden gleichzeitig die Versorgungsfunktion mit einer sozialen Rolle und prägt im starken Maße das Heimatgefühl der Menschen. Deshalb ist der prognostizierte Verlust von Geschäften bei der gleichzeitigen Zunahme von Leerständen ein gesamtgesellschaftliches Problem. Der Handel ist "Kulturraumpfleger der Innenstädte".

Forderung: Die Politik muss den Handel mit dem gesamten Spektrum seiner Wirkung für die Bevölkerung wahrnehmen. Der Handel benötigt eine zentrale Anlaufstelle für alle Belange zur Versorgung der Bevölkerung in der Bundesregierung.

Erreichbarkeit des Standortes Innenstadt sicherstellen: Zurzeit wird die Erreichbarkeit der Innenstädte stark durch die Diskussion um Fahrverbote dominiert. Der Handel hat durch intensive Lobbyarbeit die Verantwortungsträger auf die Folgewirkungen der Fahrverbote aufmerksam gemacht (weitere Frequenzverluste in den betroffenen Innenstädten und Ausweichen der Kunden auf alternative Versorgungsmöglichkeiten - Grüne Wiese, Internet).

Jedoch sind die Klagen juristische Verfahren, die im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung zu Recht nicht zu lobbyieren sind. Daher ist die Politik nun aufgefordert, die Rahmenbedingungen eines Mobilitätswandels handelsverträglich zu gestalten.

BMVI nimmt Vorschlag zu "Nachtlogistik" auf

Die Dekarbonisierung des Verkehrs ist dabei nur ein Handelsstrang. Denn: Auch wenn die Schadstoffwerte durch die Erneuerung und Dekarbonisierung des Fahrzeugbestandes unterhalb der gesetzlichen Grenzwerte liegen werden, ist das Problem des drohenden Verkehrsinfarktes nicht gebannt. Dies gilt im besonderen Maße für die hochverdichteten Innenstadtbereiche. Sowohl der Güterverkehr als auch der Personenverkehr werden in den nächsten Jahren deutlich anwachsen.

Allein die Zunahme der durch den Onlinehandel induzierten Verkehre wird die Verkehrsinfrastruktur an Grenzen führen. Daher arbeitet der HDE an Strategien zur Vermeidung des Verkehrsinfarktes. Dabei ist die Möglichkeit zur Umstellung auf Lieferzeiten in den Abend- und Nachtstunden eine der zentralen Forderungen. Erfreulicherweise hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur die "Nachtlogistik" mittlerweile in das "Innovationsprogramm Logistik 2030" der Bundesregierung aufgenommen.

Forderung: Die Politik muss Fördermaßnahmen ergreifen, um den Verkehrsinfarkt zu vermeiden. Hierzu gehören Erleichterungen bei der Genehmigung von Nachtanlieferungen um den Verkehr tagsüber zu Stoßzeiten zu entzerren.

Immobilienbesitzer in die Pflicht nehmen: Die zum Teil durch Umsatzverschiebungen zugunsten des Onlinehandels bestehenden Umsatzverluste bei etlichen Händlern werden zu betriebswirtschaftlichen Problemen führen. Daher ist der Handel gezwungen, insbesondere seine Fixkosten zu betrachten und Einsparpotenziale zu heben. Eine große und zugleich verhandelbare Position sind die sogenannten "Lagerenten", also die Miete, die ein Händler vor Ort bezahlt.

Handel liefert nach wie vor die höchste Mietrendite

Wenn allein festzuhalten ist, dass der Onlinehandel zehn Prozent der Gesamtumsätze generiert und einige Branchen mittlerweile Umsatzverschiebungen zugunsten des Onlinehandels von bis zu 40 Prozent zu verzeichnen haben (Consumer Electronics), ist es unverständlich, dass die Mieten nicht im gleichen Maß angepasst werden. An den Top-7-Standorten ist zwar eine Stagnation respektive ein leichter Rückgang der Mieten zu beobachten. Die schwachen Handelslagen verzeichnen sogar teilweise deutliche Mietminderungen bei einer Neuvermietung.

Dennoch ist festzuhalten, dass von einer "Mietpartnerschaft" zwischen den Vermietern und dem Handel nicht gesprochen werden kann. Die Immobilieneigentümer haben immer noch nicht verstanden, dass der Handel selbst bei einer aktiven Mietminderung immer noch die Branche ist, die an dem Standort die höchste Rendite bringt. Daher ist in der Zukunft leider von einem deutlichen Anstieg von Leerständen in den Handelslagen auszugehen.

Forderung: In allen Bundesländern müssen Gesetze zur Einrichtung von Business Improvement Districts (BIDs) verabschiedet werden müssen. Die bestehenden Gesetze sind zu harmonisieren.

Kompensation für nachlassende Sogwirkung

Kooperationen stärken: Die Flächennachfragen der Expansionisten der diversen Handelsbranchen sind sehr unterschiedlich. Es ist jedoch ein eindeutiger Trend zu einer insgesamt nachlassenden Flächennachfrage sowie zu einer Verminderung der durchschnittlichen Flächengröße zu erkennen. Zudem sinken in vielen Innenstädten seit Jahren die Kundenfrequenzen. Daher müssen sich die Innenstadtakteure Gedanken machen, wie man dem begegnen kann.

Interessanterweise wird jedoch auch in den Kommunen an Maßnahmen gearbeitet, die die Sogwirkung der öffentlichen Verwaltung für die Innenstädte und somit auch den Einzelhandel vermindern wird. Gemeint ist die sukzessive Umstellung von Verwaltungsvorgängen im Zuge der kommunalen E-Gouvernement-Strategien. Diese sind berechtigt und werden von den Bürgern immer stärker gefordert beziehungsweise werden sich vorausseitlich zu einem Gunstfaktor von Kommunen entwickeln. Die Städte sind aber gleichzeitig aufgefordert Maßnahmen zu entwickeln, die die nachlassende Sogwirkung zu kompensieren vermögen.

Eine Funktion, die eine zusätzliche Sogwirkung auslösen kann, wurde zu großen Teilen im Laufe der Jahre aus den Innenstädten verdrängt: das "warenaffine" Handwerk. Gründe waren für das Handwerk vor allem unrentierliche Mieten sowie Umweltauflagen. Neue Produktionstechniken und die "smarte Produktion" sowie stark nachlassende Mieten in schwachen Innenstädten können heutzutage allerdings wieder zu einer symbiotischen Nachbarschaft mit dem Handel führen. Des Weiteren sind das lokale Stadtmarketing sowie Citymanagement zu stärken, leider ist das Profil dieser Berufsstände aber nicht eindeutig festgelegt.

Forderung: Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen an die gewünschte Nutzungsmischung im Gebietstyp "Kerngebiet" (zum Beispiel TA Lärm) angepasst werden. Zudem bedarf es einer bundeseinheitlichen Profilbeschreibung des Berufsbildes City- und Stadtmarketing durch eine allgemeingültige Zertifizierung der Organisationen.

Vorgaben der Raumordnung modernisieren: Der HDE hat zusammen mit dem Bundesbauministerium 2016 die erste Studie zu den möglichen räumlichen Auswirkungen des Onlinehandels auf die Innenstädte veröffentlicht. Im Ergebnis wird festgehalten, das der Onlinehandel erhebliche Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten und somit der Bewegung im Raum hat.

Fehlerhafte Berechnungen in der Raum- und Regionalplanung

Dabei entzieht sich der Onlinehandel jedoch den bewährten Regularien der Raumordnung, bis hin zu der Tatsache, dass die Umsatzverschiebungen durch den Onlinehandel in den Konzepten zur Raumsteuerung nicht berücksichtigt werden, sodass die Raumplanung zurzeit mit fehlerhaften Kennziffern bezüglich der Einzelhandelssteuerung arbeitet.

Gleichzeitig findet keine wirksame Steuerung im interkommunalen Austausch statt, sodass die Regionalplanung wenig Einfluss auf eine optimale Versorgung der Bevölkerung hat. Jede Kommune errechnet für sich die Kaufkraftpotenziale im eigenen Einzugsgebiet ohne zu bedenken, dass es Überlagerungen der Einzugsbereiche gibt. Dies führt in der Summe zu Potenzialen, die in der Realität nicht vorhanden sind. Der Handel ist jedoch bei seinen eigenen Investitionen auf verlässliche Raumanalysen angewiesen, um Fehlinvestitionen zu vermeiden.

Hier findet das Gegenstromprinzip nach § 1 Absatz 3 ROG Anwendung, wonach die Entwicklung der Teilräume einerseits und die Entwicklung des Gesamtraumes andererseits, miteinander zu harmonisieren sind. Die kommunale Selbstverwaltung findet allerdings in der Praxis kein verhältnismäßiges Regulativ. Aufgrund der anstehenden Probleme durch zunehmende Leerstände ist es für eine gute Stadtplanung mittlerweile unerlässlich, die Flächenpotenziale im Sinne einer raschen Neuvermietung laufend systematisch zu erfassen und mithilfe einer GIS-basierten Software zu visualisieren.

Forderung: Die Überprüfung und Anpassung der Einzelhandels- und Zentrenkonzepte muss eine Standardaufgabe der Kommunen werden. In diesem Zusammenhang muss auch die Regionalplanung bei der Abstimmung dieser Konzepte gestärkt werden. Zudem müssen die Kommunen zur besseren Steuerung der Leerstände ein bundeseinheitlich standardisiertes kommunales Leerstandskataster führen.

Lebensmittelmärkte: Ansiedelung neben der Innenstadt

Einfachere Baugenehmigung für Nahversorger: Die Bundesbürger sind mit der Versorgung von Waren des täglichen Bedarfs in allen Landesteilen überwiegend zufrieden oder sehr zufrieden. Das ist auch das Ergebnis der engen Netzdichte an Nahversorgungsstandorten des Lebensmitteleinzelhandels von zirka 38 000 Standorten bundesweit. Dabei wird das Filialnetz mit zunehmender Bevölkerungsdichte engmaschiger - ganz im Sinne einer optimalen Versorgung der Bevölkerung.

Das Filialnetz des Lebensmitteleinzelhandel bietet der zu versorgenden Bevölkerung ein an den Kundenbedürfnissen ausgerichtete Auswahl an Waren sowie moderne Einkaufsmöglichkeiten. Diese werden über permanente Investitionen in die Handelsstandorte erreicht, sodass Deutschland über eines der modernsten Filialstandorte verfügt.

Die Ausrichtung an den Kundenbedürfnissen bedingt jedoch, dass die Flächengrößen über ein Maß von 800 Quadratmetern Verkaufsfläche mittlerweile die Regel sind. Gleichzeitig verzichten die bisher sehr großflächigen Anbieter weitestgehend oft auf innenstadtrelevante "Randsortimente", sodass Flächenbedürfnisse zwischen 1 200 und 2 500 Quadratmeter bestehen.

Da der Lebensmitteleinzelhandel verbrauchernah (fußläufig) angesiedelt werden soll, kann eine ansonsten gewünschte Konzentration auf den Handelsstandort Innenstadt für den Lebensmitteleinzelhandel relativiert werden. Dieser hat sich neben der Innenstadt ganz bewusst verbrauchernah und somit dezentral anzusiedeln.

Leider stößt die Modernisierung dieses Filialnetzes aber immer wieder an Grenzen der Genehmigungspraxis. Obschon der zentrale § 11 Absatz 3 Satz 4 der BauNVO ausdrücklich sagt, dass "(...) Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen bereits bei (...) mehr als 1 200 Quadratmetern Geschossfläche nicht vorliegen (...)".

Davon ist im Sinne einer typischen Atypik beim Lebensmitteleinzelhandel regelmäßig auszugehen. "Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Lebensmitteleinzelhandels für die Sicherung einer verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung sind nach dem Leitfaden von großflächigen Lebensmittel einzelhandelsbetrieben in größeren Gemeinden und Ortsteilen auch oberhalb der Regelvermutungsgrenze von 1 200 Quadratmetern Geschossfläche aufgrund einer Einzelfallprüfung dann "nicht zwingend negative Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung und den Verkehr anzunehmen", wenn (1) der Flächenanteil für nicht nahversorgungsrelevante Sortimente weniger als zehn Prozent der Verkaufsfläche beträgt und (2) der Standort verbrauchernah, hinsichtlich des induzierten Verkehrsaufkommens "verträglich" sowie städtebaulich integriert ist. (siehe Urteil des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 27. März 2019).

Forderung: Großflächige Lebensmittelmärkte an städtebaulich integrierten Standorten haben regelmäßig keine negativen städtebaulichen Auswirkungen und müssen in Zukunft einfacher genehmigt werden.

Lebensmodell "Landgemeinde" ernst nehmen

Entwicklung des ländlichen Raumes stärken: Zurzeit erleben wir in Deutschland einen deutlichen Zulauf in die Großstädte beziehungsweise Metropolen. Da bisher eine starke Korrelation zwischen Arbeiten und Wohnen besteht, werden diese bundesdeutschen Wanderungsbewegungen auch durch die hohe Arbeitsplatzdichte in den Oberzentren verursacht. Dabei existiert in der Bevölkerung jedoch kein ausgeprägtes Bedürfnis nach einem Lebensmodell "Großstadt", ganz im Gegenteil: Nur 21 Prozent der Bundesbürger präferieren das Leben in der Großstadt. Demgegenüber möchten 45 Prozent gern in einer Landgemeinde leben.

Der Handel reagiert auf diese innerdeutschen Migrationsbewegungen mit einer Verlagerung der Versorgungssituation. Einfach ausgedrückt: Wo der Kunde ist, ist der Handel. Dieses an sich symbiotische Verhältnis wird in den Landesteilen zum Problem, wo die Bevölkerung unter einen Schwellenwert absinkt, an dem ein betriebswirtschaftlich auskömmliches Handelsangebot nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Daher muss gegengesteuert werden und der Wunsch nach einem Lebensmodell "Landgemeinde" ernst genommen werden. Hierzu ist das Paradigma "das Wohnen folgt der Arbeit" aufzulösen.

Dabei bietet gerade die Digitalisierung durch die Ermöglichung von Home-Office-Modellen Lösungen. Daher befürwortet der HDE die neuerliche Auffassung des Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, wonach: "Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (...) ohne die Wirtschaft nicht zu erreichen [ist]. (...) Das geht nur, wenn wir uns zum politischen Ziel setzen, die Arbeitsplätze wieder näher zu den Menschen zu bringen" (Bundesminister Horst Seehofer, November 2018).

Forderung: Die Politik muss mithilfe von Investitionen in den ländlichen Raum gegensteuern. Ein Faktor dabei ist ein flächendeckender und rascher Breitbandausbau - auch zur Ansiedlung neuer Arbeitsplätze. Zudem müssen staatliche Behörden sowie Hochschulen und vom Staat getragene wissenschaftliche Einrichtungen bewusst als Kristallisationskerne im ländlichen Raum angesiedelt werden.

Keine vollständige Freigabe der Sonntagsöffnung

Verlässliche Sonntagsöffnung: Das Verbraucherverhalten hat sich grundlegend verändert. Der Kunde ist nicht mehr nur auf stationäre Geschäfte angewiesen, um sein Bedürfnis nach Waren aller Art zu befriedigen. Im Gegensatz zum Onlinehandel, der an sieben Tagen die Woche geöffnet hat, müssen die stationären Geschäfte an Sonntagen geschlossen bleiben. Dies führt zu einer erheblichen Wettbewerbsverzerrung. Zwar sehen die Ladenöffnungsgesetze der Länder bereits heute eine begrenzte Anzahl an Sonntagsöffnungen im Jahr vor. Hierfür bedarf es jedoch stets eines besonderen Anlasses wie etwa einer Messe.

Die dazu entwickelten Anforderungen der Verwaltungsgerichte sind zudem so hoch, dass die Kommunen kaum noch rechtssichere Genehmigungen erteilen können. Viele Händler verzichten daher von vornherein auf eine Sonntagsöffnung, zumal die Gewerkschaft ver.di auch regelmäßig gegen diese Genehmigungen klagt. Die vollständige Freigabe der Sonntagsöffnung steht aber nicht zur Diskussion. Ziel des HDE ist es stattdessen, die rechts sichere Durchführung einer begrenzten Anzahl verkaufsoffener Sonntage im Jahr zu erreichen.

Forderung: Der Anlassbezug muss wegfallen. Stattdessen sollten für eine begrenzte Anzahl von verkaufsoffenen Sonntagen im Jahr in den Ladenöffnungsgesetzen der Länder abstrakt-generelle Gründe, wie der Erhalt lebendiger Innenstädte, gesetzlich definiert werden. Eine Einzelfallentscheidung wäre damit entbehrlich und Kommunen und Händler bekämen die benötigte Rechtssicherheit. Das Verfahren zur Antragstellung hat sich am Grundsatz der schlanken Verwaltung beziehungsweise Entbürokratisierung zu orientieren.

DER AUTOR MICHAEL REINK Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik, Handelsverband Deutschland - HDE e.V., Berlin
Michael Reink , Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik , Handelsverband Deutschland - HDE e.V., Berlin
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