Der Brexit, seine Technik und die Folgen für Banken

Rechtsanwalt Peter Scherer LL.M., GSK Stockmann + Kollegen, Frankfurt am Main - Das Referendum zum Verbleib in der EU oder zum Austritt spaltet Großbritannien in zwei Lager, auch quer durch die beiden Regierungsparteien der vergangenen Jahrzehnte. Ob sich in den verbleibenden knapp acht Wochen bis zur Abstimmung noch eine klare Tendenz abzeichnen wird, lässt sich auch nach der grundsätzlichen Unterstützung durch den Oppositionsführer noch nicht sagen. Je näher der Termin für das Votum rückt, umso intensiver suchen Befürworter und Gegner nach den entscheidenden Argumenten, um die Stimmung der Bevölkerung zu beeinflussen. Der Autor erörtert zunächst wichtige Vor- und Nachteile eines Austritts für beide Seiten und schildert dann an der möglichen Prozedur für ein geordnetes Austrittsverfahren die etwaig enttäuschten Erwartungen der Befürworter eines Austrittes. Ob mit oder ohne feste Regelung für einen möglichen Austritt ist sein Fazit klar: Ein Brexit hätte für alle Beteiligten, sprich für Großbritannien wie für die verbleibenden EU-Staaten, weit mehr Nach- als Vorteile. (Red.)

Der mögliche Ausstieg des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (UK) aus der Europäischen Union (EU), der "Brexit", ist in den letzten Monaten zur realen Möglichkeit geworden. Das sollte einen eigentlich nicht wirklich überraschen, denn schon der UK-Beitritt 1973 war keineswegs unumstritten und es hat immer euroskeptische Positionen in der britischen Politik gegeben. Auffällig im UK heute ist zum einen, dass die Ablehnung der EU nicht entsprechenden Protestparteien, wie zum Beispiel der UKIP, vorbehalten, sondern in der Mitte der Regierungspartei, der Konservativen, angekommen ist. Und zum anderen, dass sie, gerade in den letzten Monaten, einhergeht mit einer wachsenden allgemeinen Fremdenfeindlichkeit, die man aus dem (in der Folge der Entkolonialisierung) traditionellen Einwanderungsland UK nie erwartet hätte.

Abstimmungsdatum steht - Ausgang offen

Getrieben von den immer besseren Umfrageergebnissen für UKIP und noch mehr von seinen eigenen EU-kritischen Parteifreunden hat der britische Premierminister David Cameron den Wählern einen Volksentscheid (Referendum) über den EU-Austritt versprochen. Dieses Referendum sollte bis spätestens Ende 2017 stattfinden. Jetzt steht der 23. Juni 2016 als Datum dafür fest.

Um zu vermeiden, dass dieses Referendum zugunsten eines Brexit ausgeht, hatte Premierminister Cameron eine Liste von Forderungen aufgestellt, diese mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten und der EU selbst verhandelt und es tatsächlich geschafft, dass dem UK weitgehend entgegengekommen wurde: volle Sozialleistungen für EU-Einwanderer ins UK erst nach vier Jahren, Kindergeldzahlungen für daheimgebliebene Kinder von EU-Einwanderern nur in Höhe der dortigen Zuwendungen, Überwachung des UK-Finanzmarktes und der UK-Banken auch künftig durch das UK, kein Zwang zur "immer engeren Union", nationale Parlamente bekommen ein Mitsprache- und (unter bestimmten Voraussetzungen) sogar ein Vetorecht gegen EU-Gesetze und ein stärkerer Kampf gegen "unnötige" EU-Gesetzgebung, das heißt auch Zurücknahme von Regulierungen.

Doch der britischen Presse und natürlich den anderen Brexit-Befürwortern ist all das nicht genug. Wie das Referendum am Ende ausgehen wird, ist jetzt noch offen. Fest steht hingegen, dass ein Brexit nunmehr tatsächlich im Bereich des Möglichen liegt.

Vorteile? Nachteile!

Mehr britische Souveränität, weniger Einfluss der Kontinentaleuropäer auf das eigene Land, weniger Bürokratie (obwohl die ureigene englische Gesetzgebung zum Teil mindestens so teure und tiefgehende Beschränkungen wie die EU-Gesetzgebung schafft) und mehr Pragmatismus, besserer Schutz der eigenen Grenzen, das erhoffen sich die Brexit-Gegner vor allem. Bei ökonomischen Vorteilen ist in aller Regel nur die Rede von den einzusparenden EU-Mitgliedsbeiträgen. Das sollen rund 0,5 Prozent des Nationaleinkommens sein, was in etwa 10 Milliarden Euro jährlich entspräche.

Umgekehrt scheinen die ökonomischen Nachteile für das UK sehr viel offensichtlicher und dramatischer zu sein. Nur zu wie viel wirtschaftlichen Verlusten es durch den Wegfall innereuropäischen Handels und durch neue Steuern und Zölle in diesem Handel kommen wird, ist noch ernsthaft umstritten: Zwischen 1,1 Prozent und 9,5 Prozent des britischen Bruttosozialprodukts wird das wohl liegen und es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass der Rückgang des Bruttosozialprodukts durch die Finanzmärktekrise bei 7 Prozent gelegen habe, was die längste und schwerste Rezession der britischen Wirtschaftsgeschichte ausgelöst habe, wovon das Land sich erst jetzt langsam erhole.

Besonders hart treffen würde es die Londoner City, also die stärkste Industrie des UK, die Finanzindustrie. Diese leidet zurzeit ohnehin schon unter anderem an der zunehmenden Attraktivität Singapurs, das daran arbeitet, London langsam den Rang als wichtiges "Off-shore"-Zentrum des Welt-Finanzsektors streitig machen zu wollen. Bislang profitiert die City aber enorm von der Eurozone, denn der Euro wird zum größten Teil dort gehandelt, als Währung wie auch in Form Euro-denominierter Wertpapiere.

Schwierige Selbsterkenntnis

Dieser Handel könnte leicht Richtung Kontinent, insbesondere Richtung Frankfurt (als Sitz der Europäischen Zentralbank und wichtigstes Finanzzentrum Europas neben der City) abwandern. Schon in den letzten Monaten gibt es wieder stärkeres Interesse von Unternehmen des internationalen Finanzsektors am Zuzug nach Frankfurt. Der Anreiz, nicht nach London, sondern nach Frankfurt und damit ins Zentrum der Euro-Finanzzone zu gehen, würde durch den Brexit deutlich wachsen. Die Folgen für des UK könnten weniger Wirtschaftswachstum, Kapitalflucht, Arbeitsplatzverluste in der City und Verlust von Steuereinahmen sein und all das in beträchtlichem Ausmaß.

Dabei sollten gerade in der heutigen Zeit, in der die politischen Ziele der britischen Regierung, der anderen EU-Regierungen und die der EU-Institutionen ähnlich sein sollten, nämlich die, die auch die allermeisten EU-Bürger bewegen: Mehr Subsidiarität (wo muss Souveränität wirklich auf die EU übertragen werden und wo sollte eher eine Rückübertragung auf die nationale Ebene stattfinden?), Transparenz und Effizienz einerseits und weniger Bürokratie und Regelungswut anderseits!

Selbst wenn man als britischer Brexit-Befürworter denken mag: "Sollen sich die Europäer doch um ihre Ziele kümmern und wir kümmern uns um uns", sollte man ob der drohenden Nachteile und Gefahren in sich gehen und bedenken: "Es hat etwas von historischer Kurzsichtigkeit zu glauben, dass England ähnlich wie im 18. und 19. Jahrhundert abermals über die Weltmeere herrschen könnte. Heute kann nur die Europäische Union ihre Staaten vor dem Niedergang jedes einzelnen von ihnen schützen und sich im neuen Konzert mächtiger Nationen Gehör verschaffen" (Hadrien Bajolle, Der Brexit: gefährlich für die EU, verheerend für Großbritannien, Treffpunkt Europa vom 6. Mai 2015).

Es war und ist für Frankreich hart zu begreifen, dass es trotz seiner Kolonialvergangenheit keine "Grande Nation" mehr ist. Es war und ist für Deutschland hart zu begreifen, dass es trotz seines enormen wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit (dem Wirtschaftswunder) und seiner auch heute starken Wirtschaft kein weltpolitisch bedeutendes Land ist. Und eine solche Selbsterkenntnis ist natürlich auch für das UK hart. Und dennoch ist es wahr: Ohne die EU sind die europäischen Staaten relativ bedeutungslos geworden.

Aber auch die EU hätte bei einem Brexit deutliche Nachteile zu verkraften: Sie würde kleiner werden, damit auch wirtschaftlich wie politisch an Substanz verlieren und in der Welt - im Handel wie in der Machtpolitik - ein wenig weniger wichtig sein. Auch intern würde das Projekt der von Natur aus schwierigen europäischen Integration geschwächt. Und logistisch müsste zum Beispiel die europäische Bankaufsichtsbehörde EBA von London auf den Kontinent verlagert werden. Wirtschaftlich müsste die Rest-EU auf den viertgrößten Beitragszahler verzichten und das gemeinsame Budget müsste zunächst deutlich verkleinert oder die Rest-EU-Staaten entsprechend mehr belastet werden.

Deutliche Nachteile auch für die EU

Schließlich würde das deutsche Bruttosozialprodukt allein durch einen Brexit vermutlich 0,3 bis 2 Prozent einbüßen, was wohl rund 700 Euro pro Deutschem entspräche. Hinzu käme, dass Deutschland als größter Netto-Beitragszahler vermutlich noch stärker zur Kasse gebeten beziehungsweise in die Haftung genommen würde, was den deutschen Steuerzahler viel Geld kosten könnte. Schlimmer noch: Die Gewichte im obersten Entscheidungsorgan der EU, dem Europäischen Ministerrat, würden sich verschieben.

Zu Recht ist schon in der Presse darauf hingewiesen worden, dass dort bislang die eher "ordnungspolitisch-liberal ausgerichteten Länder" um Deutschland und dem UK einerseits und anderseits die eher "protektionistisch-interventionistisch orientierten Länder" über etwas mehr als 35 Prozent der Stimmen, also über ein "qualifiziertes Veto", verfügen. Dieses Gleichgewicht würde zerstört. Und so würde Deutschland, obgleich dann vermutlich noch stärkerer Nettozahler, an politischem Einfluss verlieren, was am Ende auch zu einem Kostenfaktor (Stichwort Transferunion) für Deutschland werden könnte.

Vor- oder Nachteile hin oder her, was passiert, wenn das UK-Referendum zugunsten eines Brexit ausfällt? Könnte das UK wirklich aus der der EU austreten? Ja!

Ein EU-Austritt ist dem UK heute rechtlich tatsächlich möglich. Das war nicht immer so klar. Ursprünglich sahen die Europäischen Verträge weder Ausschluss noch Austritt eines Mitgliedsstaates vor. Erst der Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (in Kraft seit 1. Dezember 2009) schuf mit Artikel 50 EU-Vertrag (EUV) ein Verfahren für den geordneten Austritt aus der EU. Zuvor war das Recht zum Austritt mindestens umstritten und lange Zeit auch nur schwer vorstellbar.

Austritt rechtlich möglich

Die Europäischen Verträge enthielten keine ausdrücklichen Austrittsregeln und ob europarechtlich souveräne Staaten auch frei sind, von ihren internationalen Verpflichtungen wieder zurückzutreten, war umstritten. So hatte in Deutschland das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon in seinem Maastricht-Urteil (BVerfG, Urteil vom 12. Oktober 1993, Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) 89, 155/ 190) festgestellt: "Deutschland ist einer der 'Herren der Verträge', die ihre Gebundenheit an den 'auf unbegrenzte Zeit' geschlossenen Unions-Vertrag [...] mit dem Willen zur langfristigen Mitgliedschaft begründet haben, diese Zugehörigkeit aber letztlich durch einen gegenläufigen Akt auch wieder aufheben könnten." Und in seinem Lissabon-Urteil (BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009) hat das BVerfG noch einmal betont, dass die EU kein föderaler Staat sei, sondern unter EU-Recht die nationalen Identitäten ihrer Mitgliedsstaaten verfassungsrechtlich geschützt würden.

Unabhängig von der europarechtlich jedenfalls nicht ganz klaren Lage stellte sich aber auch die Frage, ob ein Austritt eines Mitgliedsstaates aus der EU unter Berufung auf die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage, möglich wäre. Hier wurde insbesondere die Wiener Vertragsrechtskonvention und deren Wegfall der Geschäftsgrundlage-Regeln (clausula rebus sic stantibus) diskutiert. Aber selbst diejenigen, die die konkrete Anwendbarkeit der Regeln der Wiener Konvention bezweifelten, räumten ein, dass es zumindest keine europarechtlichen Sanktionsmöglichkeiten gegen einen austretenden Staat gab.

Geordnetes Austrittsverfahren in vier Schritten

Heute ist die Rechtlage weit weniger unklar. Artikel 50 EUV regelt seit 1. Dezember 2009 den EU-Austritt eines Mitgliedsstaates durch ein geordnetes Austrittsverfahren. Dieses Verfahren läuft in vier Schritten ab:

1) Der austrittswillige Mitgliedsstaat teilt dem Europäischen Rat seine Austrittsabsicht mit; bestimmte Gründe müssen dabei nicht vorliegen oder angegeben werden (Artikel 50 Absatz 2 Satz 1 EUV).

2) EU und austrittswilliger Mitgliedsstaat handeln ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus. Das Verfahren dazu regeln Artikel 218 Absätze 3 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) und der Europäische Rat gibt in diesem Kontext Leitlinien vor. Das Austrittsabkommen soll auch den Rahmen für die künftigen Beziehungen zwischen dem dann ausgetretenen Ex-Mitgliedsstaat und der Rest-EU regeln (Artikel 50 Absatz 2 Sätze 2, 3 EUV).

3) Der Europäische Rat im Namen der Union beschließt das Austrittsabkommen mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europaparlaments (Artikel 50 Absatz 2 Satz 4 EUV).

4) Mit Inkrafttreten des Austrittsabkommens finden die EU-Verträge auf den austretenden Staat keine Anwendung mehr. Aber ein solches Austrittsabkommen ist keine zwingende Voraussetzung für den Austritt des austrittswilligen Staates, denn kommt es bei dessen Verhandlung zu keiner Einigung, das heißt zu keinem Abschluss eines solchen Abkommens, finden die EU-Verträge auf den austretenden Staat dann keine Anwendung mehr, wenn seit der Mitteilung der Austrittsabsicht zwei Jahre vergangen sind (Artikel 50 Absatz 3 EUV).

Nur eine kurze Frist für Verhandlungen

Die Frist zur Aushandlung eines Austrittsabkommens ist mit zwei Jahren sehr kurz (insbesondere wenn man die übliche Arbeitsgeschwindigkeit der EU-Organe und die Komplexität der zahllosen in einem solchen Abkommen zu regelnden Materien vor Augen hat). Dahinter steht der Gedanke, dass es durch Artikel 50 EUV mit einzelnen Regelungsbereichen des EU-Rechts unzufriedenen Mitgliedsstaaten nicht zu leicht gemacht werden soll, aus der EU auszutreten und sich zugleich im Rahmen des Austrittsabkommens andere angenehme Aspekte des EU-Rechts zu sichern (cherry picking).

Artikel 50 Absatz 2 Satz 2 EUV spricht im Zusammenhang des Austrittsabkommens unter anderem von der Regelung der künftigen Beziehungen des austretenden Staates zur Rest-Union. Doch wie könnte eine solche Regelung aussehen? Mindestens fünf verschiedene Modelle für die künftigen Beziehungen zwischen UK und Rest-EU nach einem Brexit wären vorstellbar:

1) Das UK könnte (wie Island, Liechtenstein und Norwegen) Vertragsstaat des Europäischen Freihandelsabkommens (European Free Trade Association - EFTA) und als solches des mit der EU gemeinsam gebildeten Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) werden. Aber dann müsste das UK den gesamten "acquis communautaire", das heißt das gesamte EU-Recht weiter anwenden und könnte mithin die vom Brexit angestrebten Ziele nicht erreichen.

2) Für das UK noch schwieriger wäre es, wie die Schweiz, nur EFTA-, aber kein EWR-Vertragsstaat zu werden. Dann gäbe es erst einmal keinen freien Zugang zum Gemeinsamen Markt von EU/EWR. Es bedürfte zahlreicher einzelner Abkommen zwischen UK und EU. Und das Beispiel Schweiz zeigt, dass der Zugang zum Gemeinsamen Markt unter anderem auch durch die Akzeptanz der EU-Personenverkehrsfreiheit zu bezahlen ist, also derjenigen Regeln, die zuallererst zu den Brexit-Gründen zählen.

3) Eine weitere Alternative wäre eine Zollunion, in etwa so wie derzeit zwischen der EU und der Türkei. Doch das Bespiel Türkei zeigt auch das Problem: Der Türkei werden von der EU Zugeständnisse in Hinblick auf eine künftige mögliche EU-Mitgliedschaft gemacht und im Gegenzug muss die Türkei die meisten EU-Verordnungen und -Richtlinien (insgesamt einen nicht unbeträchtlichen Teil des "acquis communautaire") für sich akzeptieren, zum Bespiel im Finanzdienstleistungsbereich. Auch diese Alternative dürfte für das UK kaum vertretbar sein.

4) Ferner können die Beziehungen zwischen UK und Rest-EU künftig einfache Handelsbezeichnungen auf der Basis der Regeln des Welthandelsabkommens (World Trade Organisation - WTO) sein. Das UK wäre dann im Verhältnis zur Rest-EU einfach "Drittstaat". Zu diesem Ergebnis könnte es beispielsweise auch dann kommen, wenn ein Austrittsabkommen gemäß Artikel 50 Absatz 2 EUV nicht verabschiedet und das UK nach zwei Jahren gemäß Artikel 50 Absatz 3 EUV ausscheiden würde. Obgleich das UK dann keine ungewollten EU-Freiheiten und -Regeln mehr akzeptieren müsste, wäre eine solche Drittstaaten-Rolle kaum in seinem Interesse. Es gäbe dann wieder Zollschranken und keinen Gemeinsamen Markt, das heißt keine gemeinsame Freihandelszone.

5) Schließlich bleibt die gerade auch von Brexit-Befürwortern bevorzugte Möglichkeit eines "special deal", also einer individuellen (im Rahmen des oder zusätzlich zum Austrittsabkommen(s)) Regelung der UK/Rest-EU-Beziehungen. Dabei träumen die Euroskeptiker von einer Art "EWR leicht", das heißt von unbeschränktem Zugang zum Gemeinsamen Markt ohne Einhaltung ungeliebter EU-Regelungen und ohne Budgetzahlungen an die EU. Doch wie viele Träume wird auch dieser nicht wahr werden. Schon um kein Austrittssignal an andere Mitgliedsstaaten zu setzen und so letztlich den Anfang vom Ende der Union einzuläuten, könnte die Rest-EU sich auf einen solchen "deal" nicht einlassen; für eine Besserstellung des UK gegenüber der Schweiz oder Norwegen gäbe es keinen vernünftigen Grund und diese habe ja gerade jene Regeln zu akzeptieren, die das UK im Besonderen ablehnt.

Rechtliche Auswirkungen für den Finanzsektor

Die rechtlichen Auswirkungen eines Brexit - sowohl für die EU als auch für das UK - hängen also maßgeblich von dem im Austrittsverfahren ausgehandelten Austrittsabkommen nach Artikel 50 EUV ab, das (sollte es zustande kommen) als bilateraler völkerrechtlicher Vertrag die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem UK regelt. Dadurch würde sich auch nach einem Brexit der Status des UK gegenüber anderen (europäischen) Drittstaaten - also Ländern, die weder in der EU noch im EWR sind - unterscheiden.

Aufgrund der der über 40-jährigen Mitgliedschaft geschuldeten, engen Verflechtungen zwischen dem UK und der Rest-EU wäre es zumindest möglich, dass Übergangsregelungen zur zumindest teilweisen Beibehaltung des "acquis communautaire" vereinbart werden. Der Umfang, die Länge sowie die konkrete Ausgestaltung solcher Übergangsregelungen müssten aber zunächst ausgehandelt werden. Ob das gelingt, ist naturgemäß offen. Sicher ist jedoch, dass ein solcher Übergangsstatus endlich wäre und sich somit die Frage stellt, wie das rechtliche Verhältnis zwischen UK und Rest-EU nach Ablauf einer solchen Übergangsfrist aussehen könnte.

Die unterschiedlichen und derzeit nicht vorhersehbaren Zukunftsszenarien führen schon jetzt dazu, dass viele Unternehmen zwar einen EU-Ausstieg fürchten, aber noch keine weiteren Maßnahmen für den Ausgang des Referendums mit einem Pro-Brexit-Votum eingeleitet haben. Das könnte sich sehr schnell ändern. In jedem Fall ist zu erwarten, dass ein Pro-Brexit-Votum im Referendum zähe Verhandlungen zwischen der EU und dem UK nach sich ziehen wird. Die Ergebnisse solcher Verhandlungen sind derzeit nicht absehbar.

Passport-Regime am Ende?

Was würde das Verhandlungsergebnis für die Unternehmen und die Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals bedeuten? Was würde aus den Freiheiten des europäischen Binnenraums?

Durch den freien Dienstleistungsverkehr der EU haben bislang insbesondere Banken, andere Finanzdienstleister, Versicherungsgesellschaften und Investmentfondsmanager auf beiden Seiten des Kanals große Vorteile, da sie ihre Leistungen nicht nur national, sondern im gesamten EU- und EWR-Gebiet anbieten und vertreiben können.

Durch die geltenden europäischen Richtlinien und Verordnungen wurde innerhalb der EU/des EWR für solche Unternehmen ein einheitlicher Markt geschaffen, indem sie durch einen sogenannten Europäischen Pass die Möglichkeit haben, mit nur einer Erlaubnis in einem EU- oder EWR-Mitgliedsstaat in sämtlichen EU- und EWR-Staaten Dienstleistungen und Produkte entweder im grenzüberschreitenden Verkehr oder durch Errichtung einer Zweigniederlassung anbieten zu können. Dieses System Europäischer Pässe (Passport-Regime) verbunden mit dem englischen Muttersprachenvorteil Londons hat bislang dazu geführt, dass die Londoner City den international agierenden Banken, Finanzdienstleistern, Fonds, insbesondere aus den USA und Asien, als "Hub" zu den Märkten der EU dient.

Ohne Regelung: Kommt es zu einem Brexit (und zu keiner dauerhaften Regelung zwischen UK und Rest-EU, diese Regelungen auch weiterhin gelten zu lassen), würde die in London ansässige Finanzwirtschaft zukünftig nicht mehr vom Passport-Regime profitieren, mit der Konsequenz, dass der Standort London massiv an Attraktivität einbüßen würde.

Ende der "Hub"-Funktion der Londoner Tochterunternehmen

Die dort ansässigen und bislang vom Passport-Regime profitierenden Unternehmen brauchten unter Umständen für ihr EU-/EWR-Geschäft wieder (wie früher) entsprechende nationale Erlaubnisse/Lizenzen in den einzelnen betroffenen Ländern. Auch müssten sie bei ihren Tätigkeiten eventuell neue nationale Regeln des UK (zusätzlich zu den EU-Regeln auf dem Kontinent) beachten, was ihre Kosten negativ beeinflussen könnte. Das beträfe insbesondere auch die US- und asiatischen Großbanken/Investmentbanken, die zurzeit ihr stark regulatorisches Eigenkapital kostendes Europageschäft zentral über Londoner Tochterbanken und deren EU-/EWR-Zweigniederlassungen auf dem Kontinent steuern und nur ihr kein oder wenig regulatorisches Eigenkapital kostendes Geschäft über Tochtergesellschaften auf dem Kontinent betreiben.

Da die "Hub"-Funktion der Londoner Tochterunternehmen entfallen würde, weil nur EU-/EWR-Unternehmen via Passport-Regime auf dem ganzen Kontinent ihr regulatorisches Eigenkapital nutzen können, müssten diese "Hubs" vernünftigerweise auf den Kontinent, insbesondere ins Euro-Zentrum und an den Sitz der EU-Bankenaufsichtsbehörde EZB, das heißt nach Frankfurt, verlagert werden.

Dagegen werden Brexit-Befürworter argumentieren, dass einer solchen Verschiebung von der Londoner City nach Frankfurt oder allgemein Richtung Kontinent dadurch begegnet werden könnte, dass man dann im UK ein neues eigenes und für diese Institute attraktiveres Aufsichtsregime (jenseits der EU-Regularien) schaffen, so die City wieder attraktiver machen und den Wegzug begrenzen könne. Und auch das stimmt, aber eben nur in gewissem Umfang. Derzeit ist in der Londoner City bereits ein Trend zur Verlagerung von Geschäft wahrzunehmen, insbesondere nach Singapur, da das Aufsichtsregime des asiatischen Stadtstaats als besonders attraktiv und vor allem die Praxis der dortigen Aufsichtsbehörde (Monetary Authority of Singapore - MAS) als vernünftiger und solche mit mehr Augenmaß gilt.

Diesem Trend könnte durch ein neues UK-Aufsichtsregime etwas Wind aus den Segeln genommen werden. Aber weder würde ein solches neues nationales Finanzaufsichtsregime des UK für sich genommen etwas am Wegfall des Passport-Regimes und dem daraus fließenden Attraktivitätsverlusts Londons ändern, noch könnte die britische Regierung bei einem neuen Aufsichtsregime gerade für Banken durch Absenkung der Anforderungen und der Verwaltungsstandards die Attraktivität der City beliebig erhöhen. Zum einen würden das die Wähler im UK so wenig goutieren wie im Rest von Europa und in den USA. Und zum anderen wird auch jede britische Regierung wissen, dass in einer Post-Finanzmärktekrise-Welt hohe aufsichtliche Anforderungen und Verwaltungsstandards wichtig für die Finanzmarktstabilität und damit auch wichtig für die Standortattraktivität sind. Es kommt auf Augenmaß an, nicht auf drastische Maßnahmen.

Neue nachhaltige Kostenblöcke

Im Ergebnis wird ein Brexit also die Attraktivität der Londoner City als Finanzzentrum effektiv beschädigen - jedenfalls dann, wenn es keine dem entgegenwirkenden Regelungen in einem Austrittsabkommen geben wird.

Umgekehrt hätte ein Brexit aber auch negative Auswirkungen auf die grenzüberschreitend in das UK hinein oder dort per EU-Zweigniederlassung aktiven Banken, andere Finanzdienstleister, Versicherungsgesellschaften und Fondsmanager aus der Rest-EU beziehungsweise dem EWR. Denn auch diese könnten das bislang genutzte Passport-Regime nicht mehr in Anspruch nehmen und müssten im UK (vorbehaltlich spezieller Regeln in einem Austrittsabkommen) dortige nationale Erlaubnisse/Lizenzen einholen. Zudem hätten sie dort, zusätzlich zu den EU-Regularien, eventuelle neue nationale UK-Regeln zu beachten. Auch für sie würde das einen neuen nachhaltigen Kostenblock bedeuten. In diesem Kontext mag hier und da sogar das eine oder andere betroffene EU-/EWR-Unternehmen überlegen, ob ihm das die UK-Präsenz oder das UK-Geschäft wert ist.

Allenfalls eine spezielle Regelung im Austrittsabkommen, so ein solches gelänge, könnte an diesen negativen Folgen etwas ändern.

Mit Regelung: Möglich wäre es zwar (aber in keinem Fall sicher!), dass zum Beispiel im Austrittsabkommen eine - mehr oder weniger dauerhafte - Bestandsschutzregelung (sogenanntes "Grandfathering") für bereits in der EU aus dem UK heraus tätige Unternehmen beziehungsweise für im UK aus der EU heraus tätige Unternehmen - für deren grenzüberschreitende Dienstleistungen oder für solche, die über eine Zweigniederlassung erbracht werden - getroffen wird. Die bis dahin bestehende Rechtsunsicherheit ist jedoch gewaltig. Falls es überhaupt zu einer solchen Regelung kommt (denn die Rest-EU dürfte daran deutlich weniger Interesse haben als das UK und vertragstaktisch am deutlich längeren Hebel sitzen), stellt sich die Frage, inwieweit eine Bestandsschutzregelung auch für neue Dienstleistungen und/oder Produkte gilt beziehungsweise anwendbar ist. Abgesehen davon würde selbst eine langfristige Bestandsschutzregel irgendwann einmal auslaufen müssen.

Aus EU-Sicht kann es eine dauerhafte Regelung nur innerhalb der EU beziehungsweise des EWR oder über einen (zum Beispiel mit der Schweiz vergleichbaren) Sonderstatus geben, der aber nicht einseitig die Vorteile des freien Waren- und Dienstleistungs- und gegebenenfalls Kapitalverkehrs gewähren kann. Im Gegenzug müssten auch die Personenverkehrsfreiheit (die das UK ja gerade in den Brexit zu treiben scheint) und die Übernahme bestimmter Kosten des gemeinsamen Marktes akzeptiert werden. Ohne eine solche Perspektive müsste ein Bestandsschutz klar endlich sein.

Die EU hätte allgemein wenig bis gar keinen Anreiz, im Falle eines Brexit dem UK bei den Bedingungen von Vereinbarungen entgegenzukommen. Denn das könnte sich als die "Saat des Bösen" herausstellen und andere EU-Mitgliedsstaaten auf den Gedanken bringen, die meisten wirtschaftlichen Vorteile der EU weiter haben zu können, ohne die Lasten der Mitgliedschaft tragen zu müssen. So könnte es in der EU entweder zu einer Art "Kultur des Erpressertums" kommen oder zum Einstieg in die Auflösung der bisherigen Union.

Auch die Schweiz und Norwegen sind kein so gutes Beispiel für das UK, denn die bezahlen die von der EU gewährten Handelsvorteile mit Zugeständnissen in anderen Bereichen, zum Beispiel der Personenverkehrsfreiheit - und gerade die scheint das UK ja zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

Mehr Nach- als Vorteile

Ein Brexit hätte für alle Beteiligten weit mehr Nach- als Vorteile. Dennoch könnte er kommen. Er ist rechtlich möglich. Ob und mit welchem Inhalt ein Austrittsabkommen zustande kommt, ist offen. Kommt es nicht, wären viele europaweit tätige Unternehmen des Finanzsektors getrieben, sich kurzfristig neu zu organisieren, um weiterhin das EU-Passport-Regime nutzen zu können, das heißt mehr vom Kontinent (insbesondere von Frankfurt) aus und weniger aus der Londoner City heraus zu agieren. Kommt ein Austrittsabkommen zustande, wären langfristige Übergangsregeln für die vorhandenen EU-Pässe sowohl von EU-/deutschen Banken, anderen Finanzdienstleistern, Versicherungsgesellschaften und Fondsmanagern im UK wie umgekehrt aus dem UK in die Rest-EU wichtig.

Allzu weit entgegenkommen könnte die EU dem UK in den Verhandlungen über ein Austrittsabkommen nicht, ohne ihre eigene Zukunft zu gefährden. Was die Brexit-Befürworter erreichen wollen (volle Teilnahme an der Freihandelszone ohne Mitgliedsbeiträge und ohne Personenverkehrsfreiheit), werden sie nicht erreichen. Aber die Londoner City würde bei einem Brexit auf jeden Fall beschädigt; Frankfurt könnte profitieren.

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