Im Blickfeld

Keine Heiligen

Das Rotlichtgewerbe floriert weltweit. Und nirgends kann der nicht immer untadelige Ehemann und Partner entsprechende Lokalitäten ungestörter aufsuchen als auf Geschäftsreise. Nur dann sind keine bohrenden Nachfragen einer misstrauischen Partnerin zu befürchten, warum es denn gar so spät geworden sei. "Und überhaupt: Wonach riechst Du denn?" Was niemand weiß, macht auch niemanden heiß. Nur: Öfter als man denkt, weiß es eben doch jemand, und mitunter gerät dann das vermeintlich private Treiben ganz unversehens ins Licht der Öffentlichkeit - siehe Ergo und Wüstenrot. Der mediale Aufschrei darüber ist umso lauter, als es sich um Vertreter einer Branche handelt, die ohnehin schon mit Argusaugen beobachtet wird.

Der Grundsatz "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert" gilt also für niemanden weniger als für die Finanzbranche. Und auch die von Prominenten geschätzte Erfahrung, dass jeder neue Skandal einen alten aus den Schlagzeilen verdrängt, gilt in diesem Umfeld kaum noch - eher im Gegenteil. Im Wiederaufwärmen alter Geschichten sind die Medien dieser Tage groß. Und so verfestigt sich der öffentliche Eindruck immer mehr, dass man den Finanzdienstleistern samt und sonders nicht trauen könne - ob es dabei nun um kaum kontrolliertes Spekulieren einzelner Investmentbanker, um Boni, um nicht bedarfsorientierte Beratung oder eben um Incentive-Reisen geht.

Letztere sind natürlich - auch vor dem Hintergrund der Diskussion um Boni und provisionsgetriebene Beratung - ein sensibles Thema. Und es darf durchaus erstaunen, dass es sie in der Finanzbranche in den letzten drei Jahren überhaupt noch gegeben hat. Denn wo immer Vertriebler für ihre Absatzerfolge belohnt werden, liegt der Vorwurf, es gehe eben doch nur um Quantität statt Qualität, praktisch schon in der Luft, selbst dann, wenn alles untadelig abläuft. Gerade dafür kann aber kein Unternehmen die Garantie übernehmen - schließlich werden die Mitarbeiter nach dem gemeinsamen Dinner nicht im Zimmer eingeschlossen.

Was nach Ende des offiziellen Veranstaltungsprogramms geschieht, kann niemand kontrollieren. Und es wird - Verhaltenskodex hin oder her - immer Menschen geben, die die Gelegenheit nutzen. Solange dergleichen Dinge in privatem Rahmen, also auf eigene Rechnung ablaufen, muss man sie nicht gutheißen. Sie dem Unternehmen anzulasten, für das der Betreffende arbeitet, ist aber unfair. Schließlich käme auch niemand auf die Idee, etwa dem Hartmannbund oder einem Klinikum vorzuwerfen, was am Rande von Ärztekongressen nächtens geschieht.

Hier sollte die Öffentlichkeit imstande sein, Geschäftliches von privaten Aktivitäten Einzelner zu trennen und anzuerkennen, dass ein Vertriebler seine Kunden individuell gut beraten kann, auch wenn er privat kein Heiliger ist. Und so bleibt den Unternehmen nur eins: Ansatzpunkte, an denen sich die Öffentlichkeit reiben könnte, so weit wie möglich zu reduzieren. Incentive-Reisen, das muss spätestens jetzt klar sein, gehören zweifelsfrei in diese Kategorie. Der Wüsten-rot-Konzern hat bereits die Konsequenzen gezogen und sie als "nicht mehr zeitgemäß" abgeschafft. Andere werden folgen. Und das ist zweifellos richtig.

Vielleicht wird die Branche sogar überlegen müssen, ob und in welcher Form sie auf Anreizsysteme im Vertrieb ganz verzichten kann. Denn ganz gleich, wie Bonussysteme gestaltet werden: Kritik wird sich an jeder Gestaltungsform entzünden - schon allein des Neidfaktors wegen. Ein Totalverzicht wäre also die unverfänglichste Lösung, aber auch die am schwierigsten zu realisierende.

Schließlich ist der Wettbewerb um die Berater enorm. Solange Incentives also nicht geradezu verboten werden, wird es vermutlich immer wieder Zweifelhaftes geben. sb

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