Leitartikel

Nachgezählt

"Man findet, wenn man säubert und siebt, Briefe und Bilder und andere Sachen, die es eigentlich gar nicht mehr gibt", dichtete einst Erich Kästner. Und tatsächlich fand auch das Statistische Bundesamt bei seiner Inventur am 9. Mai vor zwei Jahren 1,5 Millionen "Karteileichen", genauer gesagt Einwohner, die es eigentlich gar nicht gibt. Zwar hatten die Meldebehörden auf Basis der letzten Volkszählung fleißig die amtliche Statistik fortgeschrieben, doch dabei offensichtlich so manchen Mitbürger doppelt erfasst. Nach dem aktuellen Zensus lebten hierzulande vor zwei Jahren nur noch 80,2 Millionen Menschen. Die regional größte Differenz zwischen Zensus- und Fortschreibungsstatistik weist übrigens Berlin mit minus 5,2 Prozent auf. Deutliche Unterschiede gibt es allerdings auch in Hamburg mit minus 4,6 Prozent und Baden-Württemberg mit minus 2,5 Prozent. Am besten hatte Rheinland-Pfalz seine Einwohnerstatistik geführt, wo man sich nur um 0,2 Prozent verzählte.

Auf kommunaler Ebene fallen die Ergebnisse noch unterschiedlicher aus. Demnach hatten 7 013 der insgesamt 11 339 Gemeinden in Deutschland zum Stichtag weniger Einwohner als bis dahin angenommen. In den Großstädten waren die prozentualen Abweichungen für Aachen mit minus 8,5 Prozent, gefolgt von Mannheim mit minus 7,5 Prozent und Würzburg mit minus 6,8 Prozent am größten. Siegen, Hildesheim, Salzgitter und Cottbus verloren gar ihren Status als 100 000-Einwohner-Stadt, sodass jetzt nur noch 76 Kommunen diese Größenordnung erreichen. Dabei lagen in immerhin 16 Kommunen die aktuellen Zensuszahlen um mindestens 10 000 Einwohner unter den Werten der Bevölkerungsfortschreibung. Für viele Kommunen bergen die Ergebnisse eine beträchtliche Brisanz. Denn ein Teil der Steuereinnahmen und Zuschüsse von Bund und Ländern richten sich nach den offiziellen Einwohnerzahlen. Städte und Kreise, die jetzt nach unten korrigieren müssen, werden künftig für ihre Aufgaben weniger Geld zur Verfügung haben als in den Haushalten ursprünglich eingeplant. Kommunen, die wegen der ohnehin schon schwierigen Finanzlage und der Schuldenbremse drastisch sparen müssen, werden öffentliche Leistungen jetzt noch mehr einschränken. Freuen dürfen sich dagegen die 4 120 Gemeinden, in denen laut Zensus mehr Menschen leben, als es die Bevölkerungsfortschreibung ermittelte. Lediglich in 206 Gemeinden gab es keine Unterschiede.

Doch nicht nur bei den Einwohnern, sondern auch bei den Wohnungen ist man bislang von falschen Zahlen ausgegangen. Nach aktueller Zählung gab es zum Zensusstichtag 19,1 Millionen Gebäude, in denen sich Wohnungen befanden, und 10 000 bewohnte Unterkünfte. Insgesamt hatte Deutschland zu diesem Zeitpunkt 41,3 Millionen Wohnungen. Zieht man davon Wohnheime und bewohnte Unterkünfte ab, bleiben immerhin noch 40,8 Millionen Wohnungen übrig. Das sind eine halbe Million mehr als in der bislang gültigen Fortschreibung des Wohnungsbestandes. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Nachfrage und das Angebot lokal sehr deutlich auseinander liegen können. Zwar ist der Leerstand im Bundesdurchschnitt mit 4,4 Prozent als moderat zu bezeichnen, doch gibt es eine relativ große Schwankungsbreite. In Chemnitz, Leipzig und Halle lag die Quote über zehn Prozent. Dagegen ist die Wohnraumversorgung in Hamburg, Jena, Münster und Oldenburg mit einem Leerstand von weniger als zwei Prozent besonders angespannt. Dass es diese Probleme gibt, war freilich längst bekannt. Doch die aktuelle Statistik liefert belastbares Datenmaterial, das zuverlässiger ist als die bisherige Fortschreibung des Wohnungsbestandes. Wünschenswert wäre gewesen, wenn der Gebäudebestand auch hinsichtlich der Ausstattung, der energetischen Sanierung und den Miet- und Kaufpreisen sowie Grundstückswerten erfasst worden wäre.

Anhand der jetzt vorliegenden Daten wird vor allem die Dringlichkeit politischen Handelns deutlich. Deutschland braucht einerseits eine aktivere Wohnungsbaupolitik, deren Instrumente jedoch so vielfältig sein müssen, dass den sehr unterschiedlichen Entwicklungen in den Regionen, Städten und Kreisen entsprochen werden kann. An dieser Stelle ist unter anderem darüber nachzudenken, ob die Aufteilung der Förderprogramme zwischen Bund, Ländern und Kommunen noch angemessen und zweckdienlich ist oder auch hier reformiert werden müsste. Neben der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ist auch weiterhin der Abriss von Überkapazitäten zu unterstützen. Damit einher geht die Anpassung der lokalen Infrastrukturen. Dafür brauchen die Kommunen einerseits eine nachhaltige, auskömmliche und verlässliche Kapitalausstattung. Andererseits ist es in der Stadtentwicklungspolitik stärker als bislang geboten, interkommunal zusammenzuarbeiten. Hier jedoch sind die Gemeinden selbst gefragt, die im Standortwettbewerb um Einwohner, Unternehmen und Einzelhandelsumsätze zu oft wie einst die Duodezfürsten ihre partikularen Interessen verfolgen.

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