IMMOBILIEN UND STEUERN

"WENN BAUGEBOTE NICHT GREIFEN, DANN SOLLTE EINE SAFTIGE GRUNDSTEUER FÜR LEERSTAND GENUG ANREIZE SCHAFFEN"

Boris Palmer, Foto: Manfred Grohe

Die Lage am Tübinger Immobilienmarkt ist repräsentativ für viele aufstrebende Städte in Deutschland: Mehr und dabei vor allem bezahlbarer Wohnraum werden dringend benötigt. Ähnlich wie bei anderen Themen denkt der seit 2007 amtierende Oberbürgermeister Boris Palmer auch hier gerne unkonventionell. Im vergangenen Jahr etwa schrieb er persönlich rund 250 Privateigentümer von baureifen Grundstücken an, um diese unter Berufung auf § 176 BauGB ("Baugebot") zur zeitnahen Bebauung oder zum Verkauf der Flächen zu animieren - alternativ drohten Bußgelder und letztlich der Zwangsverkauf an die Stadt. Wie sich diese "Brieffreundschaften" bislang entwickelt haben, was er vom Berliner Mietendeckel hält und welche Hoffnungen er an die bevorstehende Grundsteuerreform knüpft, verrät Palmer im Gespräch mit "Immobilien & Finanzierung". Red.

Herr Palmer, Tübingen boomt: Seit Jahren wachsen Wirtschaft, Arbeitskräfte und Einwohnerzahl - und mit ihnen der Druck auf Mieten und Preise am Wohnungsmarkt. Wie angespannt ist die Situation derzeit?

Der hiesige Wohnungsmarkt ist extrem angespannt, vor allem Menschen mit mittlerem Einkommen tun sich inzwischen sehr schwer. Sie müssen die Stadt mitunter sogar verlassen, wenn sich ihre Lebenssituation verändert. Das führt zu großen sozialen Spannungen.

Was sind in Ihren Augen die wesentlichen Ursachen dafür?

Es wirken viele Faktoren zusammen. Mit der wichtigste ist die seit Jahren währende Null- beziehungsweise Negativzinspolitik der EZB. Denn die führt dazu, dass sehr viel Kapital in Betongold fließt beziehungsweise dort geparkt wird. Das Ergebnis ist eine Preisinflation bei Immobilien sowie bei Grund und Boden. In Teilen Tübingens hat sich der Bodenpreis innerhalb von nur einer Dekade verdoppelt. Der zweite wesentliche Faktor ist der von Ihnen bereits angedeutete wirtschaftliche Erfolg. Tübingen hatte in den vergangenen 15 Jahren ein weit überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum, die Anzahl der Arbeitsplätze ist infolgedessen um rund 30 Prozent gestiegen. Der hohe Nachfragedruck speist sich also aus zwei Quellen: einerseits die Käuferseite, die Immobilien als attraktive Anlageobjekt entdeckt hat, andererseits der erhöhte Bedarf auf Nutzerseite wegen der anhaltend guten Perspektiven in der Stadt.

Warum gestaltet es sich mit Blick auf die Angebotsseite so schwierig, diese Nachfrage adäquat zu bedienen?

Das Angebot auf dem Wohnungsmarkt reagiert sehr träge und kann mit dieser extrem schnell gestiegenen Nachfrage nicht Schritt halten. Dafür gibt es einfach zu viele Restriktionen, man denke nur an das Planungsrecht, die lang andauernden Genehmigungsverfahren und zu guter Letzt natürlich die Begrenztheit der Fläche, insbesondere in einer ohnehin relativ kleinen Stadt wie Tübingen. Da muss von vornherein jede potenzielle Neubaumaßnahme sorgfältig abgewogen werden, beispielsweise gegen Fragen des Naturschutzes oder mit Blick auf alternative Nutzungen.

Welche grundsätzlichen Prioritäten verfolgen Sie im Rahmen der Stadtentwicklung?

Es kommt auf eine gute Mischung aus Ökologie, Ökonomie und Sozialem an. Den wirtschaftlichen Erfolg haben wir bereits und auch ökologisch sind wir erfolgreich, vor allem da wir nicht der Versuchung unterlegen sind, großflächige Trabantenstädte zu errichten. Stattdessen lag und liegt der Fokus auf der Erhöhung des Wohnungsbestands innerhalb der Stadtgrenzen. Und den sozialen Ausgleich versuchen wir insbesondere mithilfe der Erlassung sehr weitreichender Preisbindungsvorschriften im Wohnsegment herzustellen. Im Neubaubereich etwa müssen 90 Prozent der Wohnungen einer Preisbindung durch die Stadt unterliegen, ansonsten bekommt man kein Grundstück.

Wie reagieren Investoren auf solche Vorgaben, kommt es zu einem Rückzug auf breiter Front?

Nein, für die sind unsere Bedingungen akzeptabel. Das sieht man allein daran, dass uns nach wie vor jedes Grundstück förmlich aus den Händen gerissen wird. Dazu gilt es allerdings zu wissen, dass Tübingen für Großinvestoren zu klein ist. Wir haben zwar Vonovia als Bestandshalter, aber das sind überschaubare Dimensionen. Die in Tübingen aktiven Investoren können jedenfalls gut damit leben. Die hohe Stabilität ihrer Anlage kompensiert ganz offensichtlich die städtischen Auflagen.

Bedeutet preisgebundener Wohnraum die Bindung an den örtlichen Mietspiegel?

Ja, wobei wir verlangen, dass die Wohnungen mindestens zehn Prozent unter dem Mietspiegel bleiben. Darüber hinaus muss ein erheblicher Anteil - zwischen einem Drittel und der Hälfte - an gefördertem Wohnraum angeboten werden, sprich 30 Prozent unter dem Mietspiegel. Ich weiß, dass das durchaus strikte Vorgaben sind. Aber wir brauchen aufgrund des kurzfristig nicht realisierbaren Ausgleichs von Angebot und Nachfrage ein solches geschütztes Marktsegment, in dem die Mieten und Preise durch die Stadt kontrolliert beziehungsweise festgelegt werden. Anders lässt sich ein bezahlbares Angebot für alle Einkommensschichten nicht gewährleisten. Natürlich wird es uns auch damit nie gelingen, allen, die in Tübingen leben wollen, eine Wohnung anzubieten. Die Stadt darf aber keinesfalls zu einem Reichenghetto werden. Das würde der Markt ohne staatliche Leitplanken leider bewirken.

Wie groß ist dieses geschützte Marktsegment?

In Preisbindung und/oder öffentlichem Eigentum befinden sich derzeit etwa 20 Prozent des Wohnungsmarktes. Den Tiefpunkt bei den Sozialwohnungen haben wir dabei im Jahr 2015 überwunden und liegen jetzt wieder 30 Prozent über dem Niveau von 2000. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg ist seit 2000 etwa die Hälfte aller Sozialwohnungen verloren gegangen.

Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den städtischen Wohnungsbaugesellschaften zu?

Eine sehr große natürlich. Leider wurden viele kommunale Bestände Anfang der 2000er Jahre im großen Stil verkauft. Das war ein Riesenfehler, nicht nur weil die Liegenschaften heute ein Vielfaches an Wert besitzen, sondern vor allem da die politische Möglichkeit zur Einflussnahme auf den Wohnungsmarkt weitgehend verloren gegangen ist. Grundsätzlich sollten sich die Städte das Ziel setzen, etwa ein Drittel des Wohnungsmarkts zu kontrollieren. Nur dann wird die soziale Frage in einer Stadt angemessen berücksichtigt werden können. In den übrigen zwei Dritteln könnten im Gegenzug dann die Marktkräfte mehr oder weniger frei wirken.

Unter Ihrer Führung sind in Tübingen seit 2007 eine ganze Reihe von Beschlüssen zur Linderung des Wohnungsmangels gefasst worden. Welcher war in Ihren Augen der Wichtigste?

Das 2018 verabschiedete Handlungsprogramm "Fairer Wohnen" ist zweifellos ein großer Meilenstein. Mit ihm wurden Grundsatzbeschlüsse zur künftigen Bodenpolitik und die Entscheidung für den Ausbau des geschützten Marktsegments getroffen. Das Programm ist somit eine starke ordnungspolitische Antwort auf das Versagen des Marktes.

Sie gehen gewisse Dinge ganz bewusst öffentlichkeitswirksam an, um die Leute wachzurütteln. Wie kommt das im Bereich der Wohnungspolitik an?

Außerhalb Tübingens sind die Reaktionen zugegebenermaßen oftmals kontrovers. Hier in der Stadt kommt es allerdings außerordentlich gut an, denn die Betroffenheit ist extrem groß. Praktisch jeder kann hier das Problem des Wohnungsmangels und der Schwierigkeiten beim Wohnungswechsel nachvollziehen. Auch ist die Stadt traditionell eher linksliberal geprägt, sodass es wenig ideologische Grundsatzopposition gegen strikte Markteingriffe gibt. Entsprechende Beschlüsse werden deshalb meist einstimmig oder mit nur sehr wenigen Gegenstimmen gefasst.

Galt das auch für die von Ihnen im April 2019 verschickten Briefe an rund 250 Privateigentümer von baureifen Grundstücken, in denen diese zum Wohnungsbau unter Androhung von Enteignung aufgefordert werden?

Nein, dabei handelte es sich tatsächlich um eine der wenigen Ausnahmen. Hier ging es deutlich konfliktreicher zu und es gab am Ende nur eine knappe Mehrheit im Rat. Letztlich habe ich dabei aber nur mit dem Grundgesetz und dem Baugesetzbuch gedroht - nichts, was in irgendeiner Form illegal wäre. Aber da das Baugebot in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr angewandt wurde, hat dieses Vorgehen ein starkes Echo hervorgerufen.

Wie ist es gelaufen?

Ich habe den Eigentümern ungenutzter Grundstücke deutlich zu verstehen gegeben, dass ich bereit bin, die rechtlichen Instrumente anzuwenden, wenn sie nicht endlich aktiv werden. Aktiv werden heißt dabei selbst bauen, verkaufen, verpachten vermieten et cetera - eben alles, nur nicht leer stehen lassen. Wir haben auf diesem Weg innerhalb eines Jahres nun 30 Grundstücke zur Baureife gebracht. Ich bin zuversichtlich, dass es noch deutlich mehr werden, denn bisher haben wir die juristischen Verfahren noch gar nicht begonnen. Wenn man so will, sind das bis jetzt reine Brieffreundschaften mit den Eigentümern.

Sie gelten als Freund des Mietendeckels. Liebäugeln Sie nach den ersten gemachten Erfahrungen in Berlin eigentlich noch immer damit?

Einen Mietendeckel nach Berliner Vorbild würde ich tatsächlich nicht zur Nachahmung empfehlen. Angesichts der erzwungenen Mietsenkungen gehen die Kalkulationen vieler Vermieter einfach nicht mehr auf. Das wird nicht ohne negative Folgen für die Mieterseite bleiben, ganz zu schweigen von den erheblichen rechtlichen Problemen, die Berlin damit nun hat. Der Grundgedanke eines Mietendeckels, sprich dass die Mieten nicht mehr weiter ansteigen, ist meiner Meinung nach aber schon richtig. Wenn man als Kommune einen Mietpreisstopp für fünf Jahre setzt und parallel dazu massive Anstrengungen zum Abbau des Nachfrageüberhangs unternimmt, dann bin ich überzeugt, dass die allermeisten Investoren damit klar kommen würden. Die Renditen sind jetzt schon und auch ohne weitere Mietsteigerungen wirklich akzeptabel.

Sollte bei solchen Maßnahmen zwischen privaten Kleinvermietern und großen institutionellen Bestandshaltern unterschieden werden?

Das halte ich nicht für zielführend. Es geht nicht um ideologische Kleinkriege gegen verschiedene Eigentumsformen, sondern darum, dass die Mieten bezahlbar bleiben. Erfahrungsgemäß treten Probleme zwar durchaus auf, wenn es zu Eigentümerwechseln kommt. Da habe ich schon einige Fälle von aggressiven Investoren erlebt, die Mieter im Anschluss rausklagen und mithilfe umfangreicher Sanierungen oder Umbauten die Erträge verdoppelt oder verdreifacht haben. Doch das ist letztlich keine Frage der Rechtsform, sondern schlicht ein Mangel an sozialer Verantwortung der jeweils Handelnden.

Auch wenn die großen Bestandshalter wie Vonovia keinen relevanten Einfluss in Tübingen haben: Wie stehen Sie zu noch radikaleren Ideen aus der Hauptstadt wie etwa der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen"?

Um die Dramatik des Problems zu verdeutlichen, war das vielleicht sogar eine gute politische Initiative. Als Lösungsvorschlag halte ich es freilich für völlig unpraktikabel. Ich glaube auch nicht, dass der Artikel 15 des Grundgesetzes heute noch so ausgelegt werden kann. Und selbst wenn, wären solche Enteignungen im großen Stil schlichtweg unbezahlbar. Davon sollte man die Finger lassen.

Anfang November ist nach langem Hin und Her das Baulandmobilisierungsgesetz beschlossen worden. Wie fällt Ihr Urteil aus?

Wirklich zufrieden bin ich nicht. Mit Blick auf das Versprechen, wonach Baugebote vereinfacht durchsetzbar sein sollten, bin ich sogar richtig sauer. Denn de facto wurde das ins Gegenteil verkehrt, indem künftig alle Grundstückseigentümer mit Kindern vom Baugebot ausgenommen sind. Da kann ich in Tübingen vermutlich die Hälfte der Verfahren wieder einkassieren.

Es lässt sich überhaupt nicht nachvollziehen, warum für die eigenen Kinder 40 Jahre lang eine Baulücke vorgehalten werden kann, während andere Familien die Stadt verlassen müssen. Man kann das Haus doch bauen, anschließend vermieten und dann zu gegebener Zeit für den Eigenbedarf nutzen. Dieser Aspekt ist wirklich enttäuschend.

Wo sehen Sie Positives?

Die gelungenste Neuerung betrifft in meinen Augen die in § 34 BauGB geregelte Bebauung ohne Bebauungsplan im Innenbereich. Dort konnten Kommunen bislang keine Sozialbindungsauflagen im Bestand machen. Deshalb waren die § 34-Objekte oftmals die teuersten mit den höchsten Gewinnspannen. Das Einfordern von Sozialwohnungen wird hier nun aber möglich sein und somit ist das eine echte Verbesserung.

Wie bewerten Sie grundsätzlich die Arbeit der von Seehofer einberufenen Bauland-Expertenkommission?

Es war extrem wichtig, dass sich die Bundespolitik endlich dem Thema annimmt. Die Bilanz der Kommission fällt unterm Strich gemischt aus, das zeigt sich exemplarisch am Baulandmobilisierungsgesetz. Da sind gute Sachen drin, vieles geht letztlich aber nicht weit genug. Meiner Meinung nach wird es nicht ausreichen, um diese extremen Marktkräfte zu zähmen. Aber realpolitisch muss man immer sehen, was man kriegen kann. Mehr ist zum jetzigen Zeitpunkt offensichtlich nicht drin.

Als uneingeschränkt positiv werden Sie vermutlich die anstehende Reform der Grundsteuer erachten. Sie gelten als Anhänger des in Baden-Württemberg angedachten Bodenwertmodells. Welche Vorteile versprechen Sie sich davon?

Ich würde sogar behaupten, ich bin ein Antreiber und nicht nur ein Anhänger. Dieses Modell verhindert vor allem den äußerst kontraproduktiven Effekt, dass Nachverdichtungsmaßnahmen bestraft werden. Wer heute ein Bestandsgrundstück mit einem Dachgeschoss erhöht, der zahlt nach geltendem Recht erheblich mehr Grundsteuer, meist nicht nur wegen des neuen Dachgeschosses, sondern auch wegen der Neuveranlagung des Gebäudes. Mit der Bodenwertsteuer kann ein Grundstück viel besser ausgenutzt werden, ohne dass sich dabei die Grundsteuerlast erhöht, denn der Bodenwert wird vorher definiert. Das ist ein sehr vernünftiger Lenkungseffekt. Dazu kommt voraussichtlich in einigen Ländern ab 2025 die Grundsteuer C, die ich ebenfalls für eine gute Sache halte. Wenn Baugebote nicht greifen, dann sollte eine saftige Grundsteuer für Leerstand genug Anreize schaffen.

Unter Konrad Adenauer hat Deutschland Anfang der Sechziger mit der Grundsteuer C schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht ...

Adenauer hatte auch die schöne Theorie, dass es die Eigenheimzulage deshalb braucht, da Hausbesitzer keine Revolution machen. Da mag damals vielleicht was dran gewesen sein. Ich glaube aber, dass wir inzwischen ein gutes Stück weiter sind und darauf vertrauen können, dass Immobilieneigentümer keine Revolution anzetteln. Eine Grundsteuer C hätte heute also uneingeschränkt positive Effekte.

Sie werden also den Einsatz des Instruments anstreben?

Sobald wir die Option haben, werde ich das dem Gemeinderat vorschlagen, ja. Und nicht nur das: Ich würde auch den höchstzulässigen Steuersatz wählen, denn dann könnte ich die erwähnten Brieffreundschaften beenden und einfach nur den Steuerbescheid rausschicken. Das wirkt mit Sicherheit.

In vielen Städten wurde der Hebesatz für die Grundsteuer B in den vergangenen Jahren stetig angehoben, erste Kommunen liegen über beziehungsweise nahe 1 000 Prozent. Können Sie das nachvollziehen?

Klar kann ich das verstehen. Die Aufgaben und mit ihnen die Ausgaben der Kommunen steigen ständig und irgendwie muss das nun einmal finanziert werden. Ich gehe ohnehin davon aus, dass wir nach der Corona-Krise auf breiter Front kommunale Steuererhöhungen sehen werden. Man sollte sich wirklich nicht der Illusion hingeben, milliardenschwere Rettungspakete zu schnüren, ohne dass irgendjemand auch nur das Porto dafür bezahlt.

Stichwort Corona: Welche Effekte erwarten Sie dadurch auf die Stadtentwicklung? Droht eine Verödung der Innenstädte?

Es ist zu früh, um das beurteilen zu können. Einerseits ist es denkbar, dass die Leute nach so langer Zeit sozialer Entbehrungen das Bedürfnis verspüren, in die Innenstädte zu strömen. Es kann aber auch genauso gut sein, dass die Pandemie der Todesstoß für die Innenstädte ist, da die Geschäfte nicht durchhalten. Unabhängig davon ist es wichtig, dass wir Themen wie Homeoffice und Digitalisierung nun weiter forcieren. Das hätte für die Arbeitswelt, die Umwelt und somit letztlich auch die Stadtentwicklung etliche Vorteile. Man denke nur an die vielen Pendler.

Der soziale Kontakt ist und bleibt ein menschliches Grundbedürfnis. Dafür braucht es aber lebenswerte Städte mit großzügigen öffentlichen Räumen in Form von Parks, Grünflächen et cetera. Demgegenüber steht die Notwendigkeit einer immer stärkeren baulichen Verdichtung. Wie gehen Sie diesen Spagat an?

Der Fachbegriff dafür lautet "Doppelte Innenentwicklung" und er versucht, genau diese beiden Gegensätze zu versöhnen: Auf der einen Seite die flächenschonende Ansiedelung von Wohnraum und Arbeitsplätzen im innerstädtischen Bereich - bevorzugt auf ungenutzten Brachflächen -, auf der anderen Seite die verbesserte Zugänglichkeit von Grünflächen. Im Einklang mit dieser Theorie haben wir uns vor kurzem beispielsweise mit einem breit angelegten Grünkonzept für die Ausrichtung der Landesgartenschau beworben. Wir glauben fest daran, dass eine stark wachsende Stadt auch stark in ihre Parks und Grünflächen investieren muss.

Die Städtebauförderung feiert 2021 ihr 50-jähriges Bestehen. Welche Bedeutung hat das Instrument für Tübingen?

Die Städtebauförderung ist wirklich eine großartige Sache. Wir haben in den vergangenen 15 Jahren stark davon profitiert, oft wären Projekte ohne diese Zuschüsse von Bund und Land im Gemeinderat gescheitert. An der Städtebauförderung sollte also unbedingt festgehalten werden.

Die Grünen hatten vor kurzem ihren Bundesparteitag. Welchen Wunsch hätten Sie denn an einen potenziellen grünen Bauminister?

Mein größter Wunsch wäre eine Solarpflicht für Bestandsgebäude. Wenn wir nicht endlich intensiver die Dachflächen zur Energieerzeugung nutzen, dann sind die Klimaschutzziele nicht zu erreichen. Außerdem ist es den Leuten nicht mehr zu vermitteln, dass Naherholungsgebiete oder Äcker großflächig mit Solaranlagen zugebaut werden, während umweltschonende Alternativen ungenutzt bleiben. Um an die Dächer ranzukommen, brauchen wir eine Verpflichtung zur Beteiligung aller Immobilienbesitzer.

ZUR PERSON BORIS PALMER Oberbürgermeister, Universitätsstadt Tübingen
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