Mehr Homo sodalis

Philipp Otto

"Die Einkommensungleichheit in Deutschland verharrt seit dem Beginn der Krise 2007 auf mittlerem Niveau. Wie aus einem neuen Sozialbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht, verzeichnete das Land Anfang der 2000er Jahre einen erheblichen Anstieg der Ungleichheit; anders als in der Mehrzahl der OECD-Länder trug die Krise aber nicht dazu bei, diesen Trend zu verstärken", heißt es in dem Ende Mai dieses Jahres veröffentlichten Bericht "In It Together: Why Less Inequality Benefits All" der OECD, der sich mit der Entstehung von Ungleichgewichten in den Gesellschaften beschäftigt.

Allerdings, und das beunruhigt die Verfasser der Studie ein wenig, sind die Vermögen in Deutschland stärker konzentriert als in vielen anderen OECD-Ländern. Die reichsten zehn Prozent der Deutschen besitzen demnach 60 Prozent der Nettohaushaltsvermögen, im OECD-Schnitt halten die zehn Prozent der Reichsten nur 50 Prozent der Vermögen.

Zeigt sich also immer mehr das hässliche Gesicht des Homo oeconomicus, des von niederen Instinkten getriebenen, erbarmungslosen Nutzenmaximierers, den die Gesellschaft nur so weit kümmert, wie es ihm selbst auf seinem Weg nicht schadet? Das Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften zweifelt, denn man wisse heute, dass eigentlich fast alle Axiome, die hinter dem neoklassischen Modell des Homo oeconomicus stehen und die so oft noch in der Makro- oder auch Mikroökonomie gelehrt werden, nicht haltbar sind. Getrieben vom Wunsch, mathematisch modellierbare Annahmen für makroökonomische Modelle zu erschaffen, wurde das Bild vom ökonomisch handelnden Menschen lange Zeit zu sehr vereinfacht.

Zweifel an der Theorie des eiskalten ökonomischen Menschen lässt auch der mittlerweile zweihundert Jahre alte Erfolg des Genossenschaftsgedankens zu. Menschen schließen sich zusammen, um gemeinsam ein Ziel schneller zu erreichen als jeder Einzelne für sich. Der dahinter stehende Grundgedanke der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung scheint auch im angehenden 21. Jahrhundert nichts von seiner zeitgemäßen Tauglichkeit verloren zu haben. Die Kreditgenossenschaften gewinnen Marktanteile hinzu, weder waren- noch landwirtschaftliche Genossenschaften sind aus ihren jeweiligen Branchen wegzudenken - und wie sähe die Wohnungs- und Mietlage in den Städten ohne die Wohnungsbaugenossenschaften aus? In Deutschland gibt es heute über 2 000 Baugenossenschaften. Diese verwalten über zwei Millionen Wohnungen und haben mehr als drei Millionen Mitglieder. Allein in Berlin werden von über 80 Wohnungsbaugenossenschaften mehr als 180 000 Wohnungen verwaltet, über zehn Prozent des gesamten Wohnungsbestandes dieser Stadt.

Der Wohnungsbestand der Genossenschaften stammt zum Teil noch aus den Gründungszeiten, wurde also Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Ein größerer Teil der Wohnungen stammt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, und auch heute bauen Genossenschaften neue Häuser und haben nahezu 90 Prozent ihres Wohnungsbestandes saniert und modernisiert. Mit den Kosten dafür gehen die Genossenschaften im Sinne der Gemeinschaft um: Nicht die Renditeerwartungen einzelner Anleger bestimmen die Mieterhöhung, sondern der Einklang aus betriebswirtschaftlichem Nutzen und sozialer Vertretbarkeit. Allerdings stößt die grundsätzlich gute Genossenschaftsidee angesichts der aktuellen Entwicklungen auf den Wohnungsmärkten auch an ihre Grenzen. Während einerseits ganze Landstriche veröden, explodieren Preise und Mieten in den attraktiven Metropolen der Republik. Die Folge: Die Städte verändern sich. Steigende Mieten verdrängen zunehmend alteingesessene Gering- und Normalverdiener aus den Innenstadtlagen. Die soziale Mischung in den Quartieren kippt, denn immer mehr Menschen finden bezahlbare Wohnungen nur noch in den Außenbezirken.

Auch die Baugenossenschaften kommen angesichts der aufgerufenen Preise für Gebäude wie Grundstücke immer seltener zum Zuge. Es ist an den Städten, Kommunen und Gemeinden, auf den Stadtsäckel zu schauen, gleichzeitig dem sicherlich nachvollziehbaren Gedankengut des Homo oeconomicus zu widerstehen und mehr von dem des Homo sodalis zu zeigen, um größere soziale Spannungen zu vermeiden. Denn die Schaffung bezahlbaren Wohnraums auch in den Innenstadtlagen der großen Städte ist eine der größten wohnungspolitischen Herausforderungen der Gegenwart.

Philipp Otto , Geschäftsführer, Verleger, Chefredakteur , Verlag Fritz Knapp, Verlag Helmut Richardi, Verlag für Absatzwirtschaft
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