Europa: Verhindern unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen ein zielführendes Handeln?

Prof. Dr. Michael Heise, Chefvolkswirt, Allianz Deutschland AG, München - Durch die Eurokrise sieht der Autor die lange verdeckte Notwendigkeit von Strukturanpassungen in einigen Ländern richtig offengelegt. Das Prinzip von Hilfsleistungen gegen strikte Reformauflagen hat sich aus seiner Sicht bewährt. Gerade Frankreich und Italien bescheinigt er indes einen Abstieg auf der Skala der Wettbewerbsfähigkeit. Um dem Stillstand zu entrinnen, mahnt er eine weitere Stärkung der Bindungskraft der gemeinsam festgelegten Regeln einschließlich der Anwendung von Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen an. (Red.)

In der Diskussion über das Für und Wider einer europäischen Währungsunion sollte die Theorie des optimalen Währungsraums als Referenzszenario herangezogen werden. Im Vordergrund stehen dabei in der Regel realwirtschaftliche Fragen, also Fragen nach den Unterschieden in den Wirtschaftsstrukturen, dem Ausmaß der Vernetzung via Handel und Investitionen oder der Mobilität von Kapital und Arbeit. Ein wichtiger Aspekt für das Funktionieren einer Währungsunion wird dabei jedoch häufig übersehen: ein gemeinsames wirtschaftspolitisches Grundverständnis als Basis einer kohärenten Politik und damit fortschreitender wirtschaftlicher Konvergenz.

Größere Gestaltungsspielräume auf der Schuldenseite

Im Vorfeld der Euroeinführung herrschte unter den Befürwortern die Überzeugung vor, dass die gemeinsame Währung zu einer signifikanten Wettbewerbsverschärfung führe; ohne das alte "Sicherheitsventil" der Wechselkursanpassung stände die Wirtschafts- und Fiskalpolitik unter so starkem Druck, dass es quasi automatisch zu einer stärkeren Konvergenz zwischen den einzelnen Euromitgliedern käme: Kein Land könne es sich mehr leisten, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und die Schaffung effizienter Strukturen zu vernachlässigen.

Tatsächlich trat ziemlich genau das Gegenteil ein. Denn die herausragende Wirkung der gemeinsamen Währung war in den ersten Jahren nicht die Intensivierung des Wettbewerbs über Landesgrenzen hinweg, sondern der starke Fall der Zinsen, vor allem in den Peripherieländern. Diese Länder verspürten also tatsächlich keinen stärkeren Druck, eine nachhaltige Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sondern verfügten vielmehr über erheblich größere Gestaltungsspielräume auf der Schuldenseite. Nach den harten Jahren vor der Einführung des Euro, in denen große (Spar-)Anstrengungen zur Erreichung der Maastricht-Kriterien erforderlich waren, standen die ersten Jahre des Euro ganz im Zeichen der neuen Freiheit, Schulden zu machen. Sie wurde vielerorts von nahezu allen Wirtschaftsakteuren konsequent ausgeschöpft.

Eigentlich hätte in dieser Situation der Stabilitäts- und Wachstumspakt seine Zähne zeigen sollen, als letzte Verteidigungslinie gegen eine allzu laxe Fiskalpolitik. Genau für diesen Fall war der Pakt als institutionalisierte Versicherung gegen ungebremstes Schuldenmachen schließlich geschaffen worden. Nachdem aber Deutschland, geistiger Vater des Pakts, im Konzert mit Frankreich bereits 2002 gegen dessen Regeln verstieß, konnte der "flexibilisierte" Pakt in den folgenden Jahren bis zur Eurokrise kaum mehr Wirkungskraft entfalten. Im Endeffekt fand in der ersten Phase der Gemeinschaftswährung, von ihrer Einführung bis zur Krise, keine effektive Politikkoordinierung auf europäischer Ebene mehr statt.

Der Preis für dieses Versagen wurde der Währungsunion spätestens 2010 mit der Eurokrise präsentiert. Um das Auseinanderbrechen des Euro zu verhindern, musste die "No-Bailout-Klausel" über Bord geworfen und Hunderte von Milliarden Euro an Hilfsgeldern mobilisiert werden, um Länder wie Griechenland, Irland, Portugal oder Spanien weiter im Euroboot zu halten. Immerhin markierte die Krise aber ein radikales Umdenken in der Frage der wirtschaftspolitischen Koordination. Anstelle des Laissezfaire der ersten Jahre traten harte Vorgaben: Die Vergabe der Hilfsgelder wurde strikt konditioniert, Geld gegen Reformen hieß das unausgesprochene Leitmotiv.

Hilfspolitik gegen Reformauflagen

Nach vier Jahren lässt sich ein erstes Zwischenfazit dieser Politik ziehen. Es fällt (mit Abstrichen) positiv aus. Mit dem "Allianz Euromonitor" wurde ein Scoreboard entwickelt, das der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der EU-Länder einmal im Jahr den Puls fühlt, indem es Fort- oder Rückschritte in einzelnen Politikbereichen wie Haushaltspolitik, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsmarkt oder allgemeine Verschuldungssituation misst. Natürlich stehen die sogenannten Programmländer dabei insgesamt noch nicht blendend da, aber die Fortschritte sind unverkennbar, vor allem beim entscheidenden Thema Wettbewerbsfähigkeit. Im Vergleich zu 2009, dem letzten Vorkrisenjahr, konnte Griechenland in diesem Bereich seinen "Score" fürs Jahr 2014 mehr als verdoppeln, auch Portugal verzeichnet eine signifikante Verbesserung um gut 50 Prozent. Ähnlich spektakulär sind die Fortschritte beim Thema öffentliche und private Verschuldung, wo vor allem Spanien und Irland punkten können - auch wenn der Weg zu "normalen" Verhältnissen sicherlich noch weit ist.

Insgesamt lässt sich daher als Fazit festhalten: Die Hilfspolitik gegen strikte Reformauflagen hat sich bewährt, die betroffenen Ländern sind in den vergangenen vier Jahren deutlich vorangekommen. Am Ziel sind sie gleichwohl noch nicht. Deshalb stellt sich heute, nach Auslaufen der meisten Hilfsprogramme, vor allem die Frage, wie nachhaltig diese Erfolge bleiben werden.

Die europäische Politik ist sich dieser Problematik durchaus bewusst. Sie hat daher, unter deutscher Führung, den Stimmungsumschwung nach der Krise dafür genutzt, die Koordinierung der nationalen Politiken auf eine neue, verbindlichere Ebene zu heben. Die institutionelle Absicherung gegen ein Ausscheren aus der gemeinschaftlichen Verantwortung für einen wirtschaftlich starken Währungsraum wurde deutlich verstärkt, der entsprechende Maßnahmenkatalog ist umfangreich: Im europäischen Semester werden Haushaltspläne vorab auf Herz und Nieren geprüft; der überarbeitete Stabilitäts- und Wachstumspakt zielt auf einen strukturell ausgeglichenen Haushalt und kontinuierlichen Schuldenabbau; der Fiskalpakt schiebt ausufernder Verschuldung einen verfassungsrechtlichen Riegel vor; und das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten soll dafür sorgen, dass Fehlentwicklungen, die den Währungsraum aus dem Tritt bringen können, rechtzeitig erkannt und korrigiert werden.

Trotz der Fülle der Maßnahmen bleiben jedoch Zweifel, ob das verbesserte Rahmenwerk tatsächlich in der Lage ist, für mehr Kohärenz in der europäischen Wirtschaftspolitik zu sorgen. Der Umgang mit den nicht regelkonformen italienischen und französischen Haushaltsplänen lässt eher darauf schließen, dass auch der verschärfte Stabilitäts- und Wachstumspakt kaum mehr als eine Schönwetter-Veranstaltung ist. Gegen den Willen der souveränen Mitgliedstaaten lässt sich auf diese Weise keine Politik machen.

Gefahr für den inner- wie interstaatlichen Zusammenhalt

Dabei wäre es an der Zeit, dass sich auch die Nicht-Programmländer ihrer Verantwortung für die Gemeinschaftswährung bewusst werden. Dies zeigt wiederum ein Blick in die Ergebnisse des Allianz Euromonitors: Im Bereich Wettbewerbsfähigkeit stehen beispielsweise Frankreich und Italien heute schlechter da als noch vor der Krise; Italien ist mittlerweile sogar Euroraum-Schlusslicht in dieser Kategorie, sein 2014-Score liegt ein Fünftel unter dem 2009er Wert. Kaum besser sieht es im Politikfeld Arbeitsmarkt aus: Frankreich ist in den letzten fünf Jahren keinen Schritt vorangekommen, Italien hat sich rückwärts bewegt.

Die Gefahr eines europäischen Reformstillstands ist also nicht von der Hand zu weisen; nach den unmittelbaren Maßnahmen zur Überwindung der Krise droht in Europa Reformmüdigkeit und -erschöpfung. Allerdings wäre diese Art der "Japanisierung" für Europa äußerst gefährlich: Im Gegensatz zur homogenen, reichen und egalitären japanischen Gesellschaft, die sogar zwei verlorene Dekaden verkraften konnte, sind die Unterschiede zwischen und auch innerhalb der Gesellschaften des Währungsraums viel größer. Ohne die Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität droht der inner- wie interstaatliche Zusammenhalt zu zerbrechen.

Trotz der rituellen Beschwörung von Frieden und Freiheit und europäischer Identität in Sonntagsreden sollte sich die europäische Politik nicht allzu viele Illusionen hinsichtlich der Akzeptanz des europäischen Projekts machen: Sie gründet vornehmlich auf dem Versprechen, in einer zunehmend unsicheren Welt gemeinsam Wohlstand zu sichern und zu mehren. Natürlich wird es dabei nie zu einer Nivellierung des großen Wohlstandsgefälles innerhalb Europas kommen, aber ohne zumindest ansatzweise Konvergenz verliert das europäische Projekt seine raison d'être. Eine Entwicklung, die die Unterschiede nur noch verschärft, kann daher schnell in eine existenzielle Krise münden. Menetekel sind bereits heute deutlich zu erkennen beim Blick auf die veränderte politische Landschaft, die in nahezu allen Ländern vom starken Zulauf für europafeindliche Parteien charakterisiert ist.

Wie ließe sich aus diesem Teufelskreislauf aus Reformmüdigkeit, Wirtschaftsschwäche und zunehmenden politischen Fliehkräften entkommen? Eine weitreichende Integration und Zentralisierung Europas, im Sinne der "Vereinigten Staaten von Europa", ist derzeit politisch nicht gewollt - und wäre angesichts unterschiedlicher ordnungspolitischer Vorstellungen und Traditionen auch nicht sinnvoll. Eine andere Möglichkeit ist es, die nationale Souveränität in wirtschafts- und fiskalpolitischen Fragen zu akzeptieren und zu erhalten. Die Stichworte, unter denen diese Debatte geführt wird, heißen Dezentralität und Subsidiarität. Auf dem Papier hat dieser Weg durchaus Charme; er setzt jedoch voraus, dass sich die Länder nicht entgegen den Interessen der Gemeinschaft verhalten, sondern vielmehr die gemeinsamen Regeln respektieren. Dies gilt umso mehr, als es heute bereits eine starke Vergemeinschaftung von Haftung im Rahmen des Europäischen Rettungsfonds ESM und der Bankenunion gibt. Und je mehr gegenseitige Solidarität und Transfers in einer dezentral organisierten Gemeinschaft eingebaut werden, desto wichtiger wird es, dass die Spielregeln auch wirklich von allen eingehalten werden.

Stärkung der Bindungskraft der gemeinsamen Regeln

Die einzig sinnvolle Konsequenz, um dem Stillstand zu entrinnen, ist also die weitere Stärkung der Bindungskraft der gemeinsamen Regeln. Ganz ohne eine Einschränkung der nationalen Souveränität wird man hierbei nicht auskommen: Die EU bedarf zumindest gezielter Einflussmöglichkeiten, um gegen wiederholte Regelverstöße wirkungsvoll vorgehen zu können.

Die Umsetzung einer solchen Maßnahme dürfte sich in der jetzigen Lage als sehr anspruchsvoll erweisen, denn sie impliziert eine Änderung der europäischen Verträge. Sie erfordert daher politischen Mut und Führungskraft - so wie bisher schon alle Schritte zur tieferen Integration in Europa seit nunmehr über 60 Jahren. Ohne ein klares Bekenntnis zu einer stabilitätsorientierten Wirtschaftspolitik und einer gegenseitigen Kontrolle lässt sich jedoch die praktizierte Solidarität im Rahmen des ESM und auch der gemeinsamen Geldpolitik durch die EZB kaum rechtfertigen. Die Krise war ein starker Katalysator, der kurzzeitig half, die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen der Nationalstaaten zu überwinden. Ein Rückfall in die Verhaltensmuster der Vorkrisenzeit - die Stabilitätsregeln der Gemeinschaft nicht allzu ernst zu nehmen und sich von "Brüssel" nicht reinreden zu lassen, wenn unpopuläre Maßnahmen gefordert werden - verspielte leichtfertig die Chancen der Krise. Zielführendes Handeln ist unter den Bedingungen einer Währungsunion aus unterschiedlichen Staaten nur möglich, wenn die zentrale Ebene im Zweifelsfall über Möglichkeiten verfügt, eine zu starke Divergenz in der Wirtschaftspolitik zum Wohle aller zu verhindern.

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