Finanzmarktkrise und Reformation - Gedanken zu einem Doppeljubiläum im Jahr 2017

Dr. Christian Hecker, Bundesbankdirektor, Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Hamburg

Dr. Christian Hecker, Bundesbankdirektor, Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein - Beträchtliche 500 Jahre liegt die Proklamation der Thesen von Martin Luther zurück. Immerhin schon zum zehnten Mal jährt sich der Beginn der Subprime-Krise mit ihren immer noch nicht überwundenen Nachwirkungen. Der Autor nimmt beide Ereignisse zum Anlass, die ökonomischen Gedanken des Reformators mit den Überlegungen und Handlungen zur Bewältigung der Finanzkrise in Verbindung zu bringen. Als gleichermaßen bemerkenswert wie aktuell wertet er Luthers Standpunkt zum untrennbaren Zusammenhang von Gewinnerzielung und persönlicher Haftung. Angefangen von der praktischen Gestaltung von Geschäftsmodellen über die Transparenz von Produkt- und Vertragsgestaltung bis hin zu Vergütungssystemen und Zielvereinbarungen sowie den Umgang mit Risiken sieht er viele Grundlagen für Diskussionen. (Red.)

"Wer von einer Investition profitieren möchte, muss auch bereit sein, Verluste zu tragen!" - "Ausnahmen vom Grundsatz der Verlustübernahme sind nur für bedürftige Kleinanleger zulässig!" - "Aus unsicheren Erwartungen dürfen keine sicheren Zahlungsversprechen werden!" - Aussagen wie diese finden sich nicht nur in neuen Gesetzestexten zur Finanzmarktregulierung oder Bankenabwicklung. Sie bilden vielmehr bereits die ökonomische Quintessenz dreier Schriften von Martin Luther zu ökonomischen Problemen seiner Zeit (Sermon von dem Wucher [1520], Von Kaufshandlung und Wucher [1524] und "Vermahnung an die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen" [1540]).1) Daher bietet das kommende Jahr, in dem das 500-jährige Jubiläum von Luthers Proklamation der "95 Thesen" und der 10. Jahrestag des Ausbruchs der jüngsten Finanzmarktkrise zusammenfallen, einen guten Anlass, um die zinskritischen Schriften des Wittenberger Reformators wiederzuentdecken, den Karl Marx nicht ohne Grund als "ältesten deutschen Nationalökonomen" bezeichnete.2)

Martin Luther als Ökonom

Natürlich verstand Luther sich selbst keineswegs als Ökonom, aber das änderte nichts daran, dass er regelmäßig auch zu wirtschaftlichen Fragen um Rat gefragt wurde. Meistens ging es dabei um Schuldverhältnisse, die untragbar geworden waren und dadurch den sozialen Frieden gefährdeten. Zudem sah sich Luther aufgrund der ökonomischen Umbrüche seiner Zeit mit Verelendungserscheinungen und existenziellen Nöten konfrontiert, die ihn als Christen nicht unberührt lassen konnten.

Und vor diesem Hintergrund begann der Reformator über finanzwirtschaftliche Fragen, vor allem zum Zins- und Kreditgeschäft, zu schreiben. Auf den ersten Blick erscheinen Luthers ökonomische Gelegenheitsschriften primär als pauschale Verdammung von Finanzgeschäften, die man eher ins Mittelalter als in den Kontext der Neuzeit einordnen würde. Wer diese Texte genauer liest, kann sich jedoch der Erkenntnis nicht verschließen, dass Luther die Finanztransaktionen seiner Zeit sehr genau unter die Lupe genommen hat. Er wollte die Probleme, die er beobachtete, nicht nur kritisieren, sondern zugleich verstehen und gelangte dabei zu Erkenntnissen, die auch heute (wieder) relevant erscheinen.

Die Zinskritik

Luthers theologischer Ausgangspunkt erscheint ebenso einfach wie überzeugend: Wirtschaftlicher Erfolg war in seinen Augen ein Segen Gottes, der nicht als garantiert angesehen werden konnte.3) Luther verwendete hierfür den Begriff der Kontingenz, der in seiner Theologie aufs Engste mit der Souveränität Gottes verbunden war.4) Deshalb sollten sämtliche Wirtschaftsbeziehungen so gestaltet werden, dass sie dieser Kontingenz Rechnung trugen. Scharf wandte sich Luther gegen die Haltung, man könnte durch geschickte Kalkulation Zukunft berechenbar machen und Kontingenz in Erwartungssicherheit verwandeln.5) Wer sich anmaßte, gottgegebene Unsicherheiten im Wirtschaftsleben zu ignorieren oder durch Finanzgeschäfte vermeintlich zu beseitigen, versündigte sich daher in den Augen des Reformators nicht nur gegen Gott, sondern er setzte zugleich die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung aufs Spiel.

Aus diesem Grund lehnte Luther feste Zinsvereinbarungen kategorisch ab, und zwar mit folgender Begründung: Wer trotz unsicherer Zukunftsaussichten feste Zinsen vereinbare, kaufe beziehungsweise verkaufe Gottes Segen, noch bevor dieser gegeben sei. Stattdessen forderte Luther im Falle einer Kapitalüberlassung zwecks wirtschaftlicher Betätigung eine regelmäßige Verlustbeteiligung der Gläubiger. Ausnahmen wollte er nur dann zulassen, wenn es sich um Kleinsparer (in seinen Worten: Notwucherer) handelte, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf Erträge aus ihren kleinen Kapitalien angewiesen waren. Diese sollten daher im Falle einer Umschuldung bevorzugt behandelt werden, während allen übrigen Investoren gegebenenfalls ein Forderungsverzicht zumutbar sei. Für Luther war klar, dass Gewinnerzielung und persönliche Haftung untrennbar zusammengehörten, und er brachte dies auch unmissverständlich zum Ausdruck: "Willst Du ein Interesse haben mit zu gewinnen, so musst Du auch ein Interesse haben mit zu verlieren".6)

Gewinnerzielung durch Finanzgeschäfte?

Generell stand der Reformator der Gewinnerzielung durch Finanzgeschäfte ablehnend gegenüber, was sich in seiner grundsätzlichen Zinskritik widerspiegelt. Luther bestand darauf, dass eine Kapitalüberlassung zu wirtschaftlichen Zwecken, das heißt mit der Aussicht auf Ertrag, nur mittels realwirtschaftlicher Transaktionen stattfinden sollte, worunter er sich damals nur den Erwerb beziehungsweise die Verpachtung landwirtschaftlicher Nutzflächen vorstellen konnte. Finanzgeschäfte ohne eine derartige Zweckbindung lehnte er daher ab.7)

Hierbei griff Luther auf das von Aristoteles stammende Argument zurück, dass Geld unfruchtbar sei, das heißt aus sich selbst heraus keine Erträge generiere. Natürlich kann diese Behauptung heute nicht mehr überzeugen, wenn Geld zu Kapital wird und ertragreiche Investitionen finanziert. Gleichwohl erinnert die Argumentation mit der Unfruchtbarkeit des Geldes an einen Zusammenhang, der heute gern verdrängt wird: Geld erzielt nur dann Erträge, wenn es erfolgreich in Sachkapital transformiert wurde, was keineswegs automatisch gewährleistet ist, sondern auch gründlich misslingen kann, wie erhöhter Abschreibungsbedarf in Krisenzeiten immer wieder deutlich macht.8) Und daraus ergibt sich wiederum eine zusätzliche Fundierung für Luthers Forderung nach einer hinreichenden Berücksichtigung von Kontingenz.

Untersuchungen zum Leben Martin Luthers haben übrigens ergeben, dass sich der Reformator auch bei seinen persönlichen Geschäften an die von ihm aufgestellten Normen gehalten hat, wobei er beileibe kein armer Mann war. So hinterließ er bei seinem Tode im Jahr 1546 zwar keinerlei Geldforderungen, aber dafür nicht unerheblichen Grundbesitz.9)

Lehren für die Gegenwart

Was bedeuten nun Luthers Warnungen für die heutige Zeit? Zunächst mahnen sie zur Anerkennung der Tatsache, dass die Aussagekraft und Prognosefähigkeit ökonomischer Kalkulationen und Modelle begrenzt ist, egal ob es sich um Risikomodelle, Ratingsysteme oder Stresstests handelt. Hier zeigt sich erneut die bereits von Frank Knight und John Maynard Keynes formulierte, aber häufig verdrängte Erkenntnis, dass es im Wirtschaftsleben neben kalkulierbaren Risiken auch ein nicht unbedeutendes Maß an Unsicherheit gibt, das sich stochastisch nicht erfassen lässt.10)

Mervyn King, Gouverneur der Bank of England von 2003 bis 2013, hat dies in seinem jüngsten Buch zur Finanzmarktkrise unter dem Schlagwort "radical uncertainty" beschrieben.11) Dabei verweist King insbesondere darauf, dass Marktentwicklungen zumeist weniger von objektiven Fakten als von deren Deutung durch die Marktteilnehmer (sogenannte "Narrative") abhängen, die sich abrupt und unprognostizierbar ändern können. Versuche, radikale Unsicherheit berechenbar zu machen, bezeichnet King als "Alchemie", die er als zentrale Ursache der jüngsten Krise hervorhebt. An dieser Stelle weist die Argumentation des ehemaligen Gouverneurs der Bank of England eine unverkennbare Analogie zu den Warnungen Luthers auf.

Daraus ergibt sich, dass die Vorsorge für diese radikale Unsicherheit zugleich eine ethische Dimension aufweist, denn sie ermöglicht es, Kontingenz zu bewältigen, das heißt künftige Belastungen eigenverantwortlich zu tragen, ohne anderen - beziehungsweise der Allgemeinheit - zur Last zu fallen. Höhere regulatorische Eigenmittel- und Liquiditätsanforderungen sollten daher nicht primär als notwendiges Übel, sondern vielmehr als Befähigung zur Eigenverantwortung wahrgenommen werden. Schließlich tragen sie dazu bei, dass Banken, die durch mehr Eigenkapital und Liquidität an der Verbesserung der Finanzstabilität mitwirken, dadurch keine Wettbewerbsnachteile erleiden. Gerade wer sich zum Prinzip unternehmerischer Freiheit bekennt, sollte daher der Implementierung von Eigenverantwortung nicht ablehnend gegenüberstehen, denn es ist ein Grundgesetz der Ethik, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören! Dies hat nicht zuletzt Bundespräsident Joachim Gauck in seinem "Plädoyer" zum Thema Freiheit erneut verdeutlicht.12)

Und noch eine weitere Erkenntnis Luthers verweist unmittelbar auf die aktuelle Situation an den Finanzmärkten: die Betonung der Bereitschaft zur Haftung als moralische Voraussetzung für die Gewinnerzielung.13) Diese Mahnung des Reformators sollte vor allem dann zu denken geben, wenn die Forderung nach einer Rettung strauchelnder Banken durch den Staat ethisch verbrämt wird, beispielsweise als Vertrauenssicherung oder als Schutz von Kleinanlegern. Hier erweist sich Luthers Unterscheidung zwischen schutzwürdigen "Notwucherern" und anderen Investoren geradezu als richtungsweisend für aktuelle Diskussionen.

Verantwortungsträger für den Finanzsektor

Für den Fall, dass Finanzgeschäfte ohne realwirtschaftlichen Bezug und ohne Verlustbeteiligung der Gläubiger an Bedeutung gewinnen, befürchtete Luther nichts anderes als einen Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung, den er in folgende Worte fasste: "Deutschland wird mit Fürsten, Herren, Land und Leuten den Wucherern leibeigen werden."14) Aus diesem Grund sah er vor allem die Regierungen als Garanten der Rechtsordnung in der Verantwortung, um Eigendynamiken bei Finanzgeschäften Einhalt zu gebieten und Zinsverbote durchzusetzen. Dabei verschloss er jedoch seine Augen nicht vor dem Problem, dass auch staatliche Entscheidungsträger oftmals eher ihre eigenen Interessen als das Gemeinwohl verfolgen.

Gerade weil Luther als Theologe und Seelsorger zutiefst mit menschlichen Schwächen vertraut war, wandte er sich nicht nur an die Fürsten seiner Zeit, sondern auch an die einzelnen Akteure im Wirtschaftsleben. Er wollte die Christenmenschen befreien von kirchlicher Bevormundung und kleingläubiger Weltflucht. Aber diese neue Freiheit war nicht als Beliebigkeit gedacht, sondern als Befähigung zu eigenverantwortlichem Handeln. Zu dieser Verantwortung gehörte für Luther im Sinne seiner "Berufsethik", dass wirtschaftliche Betätigung kein Selbstzweck zur persönlichen Bereicherung sein sollte, sondern ein Dienst für andere.

Anfragen an die Geschäftsmodelle und -praktiken

Mit Blick auf den Finanzsektor im 21. Jahrhundert ergeben sich daraus verschiedene Anfragen an die Geschäftsmodelle und -praktiken:

- Zielen die praktizierten Geschäftsmodelle tatsächlich auf eine Wertschöpfung zum Vorteil des Kunden ab?

- Wird Intransparenz in Produkten und Vertragsgestaltungen vermieden? - Werden Risiken nicht ausgeblendet, sondern anerkannt und offengelegt?

- Sind die Vergütungssysteme und Zielvereinbarungen so gestaltet, dass die Mitarbeiter dazu motiviert sind, ihre Arbeit, insbesondere im Bereich der Beratung, an den Bedürfnissen der Kunden auszurichten?

Besonders spannend erscheinen diese Fragen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich viele Kreditinstitute in den vergangenen Jahren öffentlich zum Ziel eines umfassenden Wandels ihrer Unternehmenskultur bekannt haben.15) Daher bieten die aus Luthers Schriften gewonnenen Anregungen eine gute Möglichkeit zur Prüfung, ob den öffentlichen Proklamationen inzwischen Taten gefolgt sind.

Das doppelte Jubiläum im Jahr 2017 lädt also zugleich dazu ein, einen kritischen Blick auf die bislang aus der Krise gezogenen Lehren zu werfen und eigenverantwortlich nach weiteren Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen.

Der Autor ist Mitglied im Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (dnwe). Sein Beitrag stellt ausschließlich die persönliche Auffassung dar und gibt nicht notwendigerweise Positionen der Deutschen Bundesbank wieder.

Fußnoten

1) Vgl. dazu auch Christian Hecker (2015): Wenn aus Kontingenz Notwendigkeit wird. Die neue Welt der Finanzmärkte und die alten Warnungen Martin Luthers, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, 59 (3), S. 191 bis 204.

2) Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Berlin (Ost): Dietz Verlag 1984, S. 905.

3) Luther (1524): Von Kaufshandlung und Wucher, in: Weimarer Ausgabe, Band 15, S. 322.

4) Vgl. Martin Luther (1540): An die Pfarrherren wider den Wucher zu predigen, Vermahnung, in: Weimarer Ausgabe, Band 51, S. 360.

5) So heißt es bei Luther (1540), S. 350: "ex contigente necessarium, (...), aus dem, das ungewis ist, eitel gewis ding machen. Solt solcher Wucher nicht die welt auffressen in kurtzen jaren?" Vgl. dazu auch Josef Wieland (1996): Wucher muß sein, aber wehe den Wucherern. Einige Überlegungen zu Martin Luthers Konzeption des Ökonomischen, in: Franz Furger/Andreas Lienkamp/Karl-Wilhelm Dahm (Hrsg.): Einführung in die Sozialethik, Münster: LIT, S. 115 bis 134.

6) Martin Luther (1520): Eyn Sermon von dem Wucher, in: Weimarer Ausgabe, Band 6, S. 57.

7) Vgl. Luther (1540), S. 360.

8) In älteren theoretischen Untersuchungen zur Kapitaltheorie ist dieser Zusammenhang auch noch eindeutig herausgestellt worden, vgl. beispielsweise Ludwig von Mises (1924): Theorie des Geldes und der Umlaufmittel, München/ Leipzig: Duncker & Humblot, 2. Auflage, S. 66f. Spätere Ökonomen sahen die erfolgreiche Verwandlung von Finanz- in Sachkapital hingegen zumeist als Selbstverständlichkeit an.

9) O.V. 2000: Martin Luther und das Geld. Aus Luthers Schriften, Briefen und Tischreden, gesammelt, kommentiert und eingeleitet von Martin Treu, Wittenberg: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, S. 56 bis 95.

10) Vgl. Frank H. Knight (1921): Risk, Uncertainty, and Profit, Boston/New York: Houghton Mifflin, sowie John Maynard Keynes (1921): A Treatise on Probability, London: Macmillan, vor allem S. 71 bis 78.

11) Vgl. Mervyn King (2016): The End of Alchemy. Money, Banking and the Future of the Global Economy, London: Little, Brown Book Group.

12) Vgl. Joachim Gauck (2012): Freiheit. Ein Plädoyer, München: Kösel.

13) Vgl. Christian Hecker (2014): Wer gewinnen will, muss haften! Was Thomas Piketty von Martin Luther lernen könnte, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 11/2014, S. 614 bis 618.

14) Luther (1540), S. 364.

15) Vgl. Stefanie Burgmaier (2014): Neue Brücken bauen, in: Bankmagazin, 63. Jg., Heft 1, S. 8 bis 15.

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