Gedanken zur Rolle des Staates in einer modernen sozialen Marktwirtschaft

Sahra Wagenknecht, Foto: DiG/Trialon

Die vergangenen Monate haben gezeigt: Der Staat stößt vielerorts an seine Grenzen. Für die Autorin liegen dem Ursachen zugrunde, die sich über Jahre hinweg abgezeichnet haben. Die Aushöhlung von Tarifverträgen, Tarifbindung und Mitbestimmung, die Duldung von Werkverträgen und Leiharbeit, die Konzentration von Wirtschaftsmacht bei einigen wenigen Konzernen, schwache öffentliche Verwaltungen, mangelnde Kontrolle des Finanzsektors, zu mächtige Lobbyverbände. All das gefährde den sozialen Frieden und sorge für zunehmende Ausgrenzung und Armut. Und all das widerspreche dem Grundgedanken Ludwig Erhards, denn der damalige Kapitalismus war sozial gebändigt. Man konnte von der gesetzlichen Rente im Alter leben. Bei Gesundheit gab es keine Zuzahlungen. Die Löhne stiegen mit wachsender Produktivität. Davon sei heute nicht mehr viel zu spüren, was ein erhebliches Umdenken auch vor der enormen Problematik des Klimawandels erfordere. Die große Herausforderung bestehe darin, demokratiekonforme Arbeits- und Finanzmärkte zu schaffen. (Red.)

Wer in Zeiten der Pandemie über die Rolle des Staates nachdenkt, dem fällt zunächst eines auf: Wer auf "marktkonforme" Antworten setzt statt mit klaren Konzepten und couragiertem staatlichen Handeln der Situation Herr zu werden, verschärft nur die Krise und treibt die Folgekosten für Gesellschaft und Wirtschaft in die Höhe. Eine Lektion, die alles andere als neu ist, die aber mit Blick auf die weitaus größere Herausforderung des Klimawandels dringend gelernt werden muss.

Dass ausgerechnet Staaten wie die USA oder Großbritannien im Kampf gegen das Virus derart versagen, hat dabei keineswegs nur mit der Unfähigkeit einzelner Politiker zu tun. Das Staatsversagen hat tiefe strukturelle Ursachen: Unterfinanzierung des Gesundheitswesens, tiefe soziale Spaltung, Ausgrenzung und Armut, Vernachlässigung des Schutzes von Beschäftigten und ärmeren Risikogruppen, schwache öffentliche Verwaltungen, um nur einige Punkte zu nennen.

Und da Deutschland in den letzten Jahrzehnten fleißig angelsächsische Praktiken übernommen hat - von der Orientierung am Shareholder Value über Public Private Partnerships und Outsourcing bis hin zu professionellem Union-Busting - haben auch wir hierzulande mit einem Regulierungs-, Kontroll- und Vollzugsdefizit zu kämpfen, welches den Wettbewerb mehr und mehr verzerrt und die soziale Marktwirtschaft untergräbt. Besonders ausgeprägt ist dieses Defizit mit Blick auf den Arbeitsmarkt einerseits, den Finanzmarkt andererseits, wie der Fleisch-Skandal bei Tönnies oder der Finanzskandal um den Zahlungsabwickler Wirecard im Jahr 2020 vor Augen geführt haben. Mit diesem Staatsversagen beziehungsweise dem bewussten Verzicht auf staatliche Ordnungspolitik setzt sich der folgende Text auseinander und unterbreitet Vorschläge, wie demokratische Kontrolle auf beiden Feldern wiederhergestellt und für fairen Wettbewerb gesorgt werden kann.

Systemrelevant, aber entrechtet

Inmitten des ersten Lockdowns standen sie für kurze Zeit im Scheinwerferlicht und wurden mit Lob und Applaus bedacht: Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Supermärkten und Logistik und zahlreichen Produktionsbetrieben, auf deren Arbeit wir zur Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Diensten angewiesen waren und sind. Die meisten dieser Beschäftigten hatten eines gemeinsam: Ihre Tätigkeit wird schlecht bezahlt, sie leiden unter Überlastung und Stress, werden nur schlecht vor Gesundheitsgefahren geschützt.

Seit den 90er-Jahren ist der Niedriglohnsektor in Deutschland um gut 60 Prozent gewachsen. In keinem anderen EU-Land mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung arbeiten so viele Menschen zu Niedriglöhnen - fast jeder dritte Beschäftigte aus Ostdeutschland, mehr als jede vierte Frau, mehr als jeder Fünfte insgesamt. Seit Verabschiedung der Hartz-Gesetze werden Erwerbslose durch Jobcenter genötigt, untertariflich bezahlte oder Leiharbeit zu akzeptieren, andernfalls drohen ihnen Sanktionen bis hin zum Entzug des Existenzminimums - eine Praxis, die inzwischen teilweise als verfassungswidrig eingestuft wurde. Jeder vierte Hartz-IV-Empfänger ist arm trotz Arbeit, das heißt, er verdient so wenig, dass sein Lohn durch Hartz-IV-Leistungen aufgestockt werden muss. Seit 2007 wurden Niedriglöhne auf diese Weise mit über 130 Milliarden Euro vom Staat subventioniert.

Tarifverträge, Tarifbindung, Betriebsräte und Mitbestimmung - diese zentralen Säulen der sozialen Marktwirtschaft sind vom Einsturz bedroht. Nur noch eine Minderheit der Beschäftigten arbeitet unter dem Schutz eines Tarifvertrags, auch die Zahl der Beschäftigten in Betrieben mit Betriebsrat hat deutlich (zwischen 1996 und 2018 um rund 18 Prozent) abgenommen. In einer wachsenden Zahl von Unternehmen werden Betriebsräte oder Beschäftigte, die einen Betriebsrat gründen wollen, eingeschüchtert, ausspioniert, abgemahnt oder gar gekündigt. Dies stellt laut §119 Betriebsverfassungsgesetz eine Straftat dar, die allerdings nur selten geahndet wird. Nach einer Studie der Hanns-Böckler-Stiftung wird allein im Organisationsbereich der IG Metall und der IG Chemie jede sechste Betriebsratsgründung vom Arbeitgeber behindert, in einem Drittel der Fälle mit Erfolg. In weniger gut organisierten Bereichen dürfte diese Quote noch deutlich höher sein.

Zwar gibt es mit dem Mindestlohn inzwischen eine gesetzliche Lohnuntergrenze, die für Millionen Beschäftigte Verbesserungen gebracht hat. Doch zum einen ist der deutsche Mindestlohn sowohl im EU-Vergleich als auch gemessen am allgemeinen Lohnniveau in Deutschland zu gering. Zum anderen zeigt sich, dass viele Unternehmen die gesetzliche Verpflichtung zur Zahlung von Mindestlöhnen missachten. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung erhielten bis zu 3,8 Millionen Beschäftigte im Jahr 2018 weniger Lohn als gesetzlich erlaubt.1)

Auch hier gilt: Entsprechende Straftaten werden nur selten verfolgt und noch seltener geahndet. Zollbeamte, die in ihrem Kampf gegen Schwarzarbeit quasi "nebenbei" auch die Einhaltung des gesetzlichen Mindestlohns kontrollieren sollen, berichten außerdem von Fällen, bei denen die verhängten Geldstrafen geringer sind als die zuvor durch Mindestlohnbetrug eingesparten Löhne und Sozialbeiträge.

Wie sehr kriminelle Praktiken von Unternehmen die Allgemeinheit schädigen können, hat der Fall Tönnies gezeigt, dessen Schlachtbetriebe im Jahr 2020 mehrfach zu Hotspots der Corona-Pandemie wurden. Für die osteuropäischen Wanderarbeiter, die größtenteils bei Subunternehmen per Werkvertrag angestellt waren, galt kein Infektionsschutzgesetz, keine Abstandsregel, keine regelmäßigen Pausen, kein Kündigungsschutz. Stattdessen Arbeitsschichten von 16 Stunden und mehr und danach die Verbringung in überfüllte und unhygienische Unterkünfte, für die oft noch horrende Mieten vom Lohn abgezogen wurden.

Zwar wurde inzwischen ein Arbeitsschutzkontrollgesetz für die Fleischindustrie verabschiedet, welches Werkverträge und Leiharbeit in der Schlachtung und Zerlegung ab 1. Januar beziehungsweise 1. April 2021 verbietet. Auch eine feste Prüfquote für Kontrollen von Arbeitsschutzvorschriften, eine fälschungssichere digitale Erfassung von Arbeitszeiten sowie Mindeststandards für Sammelunterkünfte soll es geben.

Dies sind sinnvolle und wichtige Maßnahmen, aber warum nimmt man nur die Fleischindustrie ins Visier? Gibt es kriminelle Formen der Ausbeutung nicht auch in der Logistik etwa bei Lkw-Fahrern, im Reinigungsgewerbe, in der Landwirtschaft oder auf dem Bau? Unternehmen haben soziale Verantwortung, die man nicht einfach an Ketten von Subunternehmen delegieren kann. Soziale Marktwirtschaft kann nur funktionieren, wenn sowohl Gesetze als auch Institutionen der Sozialpartnerschaft respektiert werden. Der Staat kann und muss faire Wettbewerbsbedingungen schaffen und durchsetzen. Nötig wären härtere Strafen für Unternehmen, die den gesetzlichen Mindestlohn, Gesetze zum Arbeitsschutz oder das Betriebsverfassungsgesetz missachten. Nötig wären mehr Betriebskontrollen durch personell besser ausgestattete Behörden, außerdem müssten Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrechte eingerichtet werden.

Fairer Wettbewerb statt Schmutzkonkurrenz

Darüber hinaus braucht es Gesetze, die Lohn- und Sozialdumping eindämmen und für gleiche Löhne für gleiche Arbeit am gleichen Ort sorgen. Sachgrundlose Werkverträge oder Befristungen sollten untersagt werden, der Einsatz von Leiharbeit muss verboten oder - sofern er zum Ausgleich saisonaler Schwankungen tatsächlich erforderlich ist - über eine Flexibilitätsprämie zumindest besser entlohnt werden. Die Tarifflucht muss unterbunden werden, indem die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtert wird und öffentliche Aufträge oder staatliche Hilfen an Tariftreue gebunden werden. Sanktionen gegen Erwerbslose sollten abgeschafft und eine Arbeitslosenversicherung geschaffen werden, die Menschen in Krisenzeiten unterstützt und für neue Aufgaben qualifiziert, statt sie in unwürdige Jobs etwa in der Leiharbeit zu zwingen.

Jede Krise bietet eine Chance, Fehler zu korrigieren. Gerade jetzt könnte der Staat die Weichen in Richtung einer zukunftsfähigen Wirtschaft stellen, indem er Subventionen, Beihilfen, vergünstigte Kredite und andere Formen der Unterstützung an soziale und ökologische Bedingungen knüpft. Es ist ein Unding, dass Unternehmen, die Arbeitsrechte verletzen, Tarifflucht betreiben, Klimaziele ignorieren oder ihre Gewinne in Steueroasen verschieben, auch noch von der Allgemeinheit gefördert werden.

Wirtschaftsmacht im Schatten

Jede Krise birgt auch Gefahren, dass Fehlentwicklungen verschärft werden, Widersprüche und Probleme sich weiter zuspitzen. Nach der letzten Finanzkrise 2008 wurde die Chance, gegen die Machtkonzentration in der Wirtschaft beziehungsweise das Problem des "too big to fail" vorzugehen, Rettungskredite an soziale und ökologische Auflagen zu knüpfen und den Finanzsektor vernünftigen Regeln zu unterwerfen, sträflich verspielt. Zwar gibt es inzwischen etwas strengere Eigenkapitalvorschriften für Banken, Richtlinien für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten, neue Regeln zum Schutz von Anlegern und vieles mehr, doch größere Reformen blieben aus.

Einführung eines Trennbankensystems, eine Steuer auf Finanztransaktionen, die Schaffung wirksamer öffentlicher Aufsichtsbehörden, ein öffentlich-rechtlicher Finanz-TÜV? Viele Vorschläge zur vernünftigen Regulierung sind am Widerstand mächtiger Lobbys gescheitert. Nach wie vor unterliegen die Kreditkonditionen von Staaten und großen Unternehmen dem Urteil von drei privaten US-amerikanischen Ratingagenturen - dabei hatten diese die schwere Finanzkrise mit verursacht, indem sie faule Wertpapiere über Jahre mit dem besten Rating versehen hatten.

Vor allem nahm die Konzentration wirtschaftlicher Macht weiter zu - sie verlagerte sich nur auf sogenannte Schattenbanken, die kaum reguliert werden, da sie im Unterschied zu Banken keine Geldschöpfung betreiben und keinen unmittelbaren Zugang zu Zentralbankreserven haben. Das von einer "Schattenbank" wie Blackrock verwaltete Vermögen ist von 1,3 Billionen US-Dollar im Jahr 2008 auf inzwischen rund 8 Billionen US-Dollar angeschwollen. Großinvestoren wie Blackrock, Vanguard und State Street besitzen rund 20 Prozent der Aktien der 500 größten US-Konzerne, auch in vielen Dax-Konzernen ist Blackrock der größte Aktionär.

Staatsversagen durch "Regulatory Capture"

Seit der Finanzkrise berät Blackrock sowohl die EZB als auch die US-amerikanische Zentralbank bei ihren Kaufprogrammen für Anleihen und andere Wertpapiere, Blackrock initiierte eine EU-Richtlinie zu privaten europäischen Renten-"Produkten" und schreibt im Auftrag der EU-Kommission Studien über "die Integration von umweltpolitischen und sozialen Faktoren in den aufsichtsrechtlichen Rahmen für den EU-Bankensektor" - dabei liegen in all diesen und weiteren Fällen Interessenkonflikte auf der Hand.

Politische Korruption in Form von "Regulatory Capture" ist in der Finanzwelt keine Ausnahme, sondern die Regel. Finanzkonzerne und ihre Lobbyverbände nehmen gewaltigen Einfluss - auf Zentralbanken, Aufsichtsbehörden, Regierungen und Parlamente. Allein in Deutschland kann die Lobby der Finanzindustrie auf mindestens 1 500 Mitarbeiter und ein jährliches Budget von mindestens 250 Millionen Euro zurückgreifen. Besonders ausgeprägt ist der Einfluss der Finanzlobby in frühen Phasen der Gesetzgebung, wie die Organisation Finanzwende anhand der Reaktionen auf Referentenentwürfe aus dem Finanzministerium untersucht hat: Auf neun Stellungnahmen von Finanzlobbyisten kommt im Durchschnitt nur eine Stellungnahme aus Verbraucherverbänden oder anderen Organisationen der Zivilgesellschaft.2)

Aufgrund der Komplizenschaft zwischen Finanzindustrie einerseits, Regierungen und Regulierungsbehörden andererseits, werden Finanzskandale in der Regel durch kritische Journalisten im Verbund mit anonymen Whistleblowern aufgedeckt. Ende 2014 legte das Internationale Netzwerks investigativer Journalisten (ICIJ) offen, wie mehr als 300 multinationale Unternehmen mit Behörden in Luxemburg Deals abgeschlossen hatten, durch die ihre Steuerlast nahe Null gedrückt wurde. Ausgerechnet der damalige EU-Kommissionspräsident Jean Claude-Juncker hat diesen Steuerbetrug über Jahre gedeckt und befördert. Geändert hat sich nicht sehr viel, bis heute ist Luxemburg eine der ersten Adressen für Staaten, die Steuern vermeiden wollen.

Im Frühjahr 2016 wurden die "Panama Papers" durch einen anonymen Whistleblower an Journalisten übergeben. Sie belegen, wie ein gutes Dutzend amtierender Staats- und Regierungschefs, wie Konzernmanager und Ölscheichs, Fernsehstars, Spitzensportler und -funktionäre, aber auch Drogenbosse und Waffenhändler ihr Vermögen mithilfe von anonymen Briefkastenfirmen verstecken. Im Zentrum des Skandals: die panamaische Wirtschaftskanzlei Mossack Fonseca (Mossfon), die mehr als 14 000 Kunden bei der Gründung von über 214 000 Briefkastenfirmen in 21 Steueroasen rund um den Globus geholfen hatte. Auch deutsche Banken bestellten regelmäßig Briefkastenformen bei Mossfon - allein die Deutsche Bank soll rund 426 Briefkastenfirmen bestellt haben.

Im Oktober 2018 veröffentlichte ein weiteres Netzwerk kritischer Journalisten (Correctiv) umfangreiche Rechercheergebnisse zum europäischen Cum-Ex-Steuerbetrug. Die Aufarbeitung dieses gigantischen Finanzskandals, bei dem allein der deutsche Staat um mindestens 32 Milliarden Euro betrogen wurde, dauert bis heute an, die Aufarbeitung weiterer Skandale um CumCum-Geschäfte oder derivative Cum-Ex-Geschäfte hat gerade erst begonnen. Zwar gibt es einige Staatsanwaltschaften, die energisch ermitteln - doch da ihnen das qualifizierte Personal fehlt, kommen sie gegen den Sumpf, in den sich auch die Politik tief verstrickt hat, kaum an.

Kritische Journalisten waren es auch, die Anfang 2019 darauf hinwiesen, dass es beim deutschen Fintech-Unternehmen Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Doch statt den Hinweisen auf mögliche Geldwäsche und Kontenfälschung bei Wirecard nachzugehen und die Aufklärung des größten Bilanz- und Börsenskandals der jüngeren deutschen Geschichte zur Chefsache zu machen, ging die Finanzaufsicht erst einmal gegen die Journalisten vor. Die Verantwortlichen für das Totalversagen - allen voran die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sowie die privaten Wirtschaftsprüfer und deren Aufsichtsbehörde Apas - schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Trotz Kenntnis der Betrugsvorwürfe gegen Wirecard setzten sich Politiker bis hinauf zur Kanzlerin für die China-Expansion des Konzerns ein. Und sowohl Mitarbeiter der Finanzaufsicht BaFin als auch der Leiter der Wirtschaftsprüfer-Aufsicht Apas handelten mit Aktien von Wirecard.

Schluss mit der organisierten Verantwortungslosigkeit

Die organisierte Finanzkriminalität ist ein schwerwiegendes Problem, mit dem sich die Politik aber auch das Kreditwesen auseinandersetzen muss. Denn mit jedem Skandal, mit jeder unzulänglichen Aufklärung wird das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in unseren (Rechts-)Staat weiter geschwächt. Die organisierte Verantwortungslosigkeit, die sich darin äußert, dass Aufsichtsbehörden, Finanzinstitute, Beratungsfirmen und Politiker sich gegenseitig den Schwarzen Peter zuspielen, muss ein Ende haben. Es mangelt nicht an klugen Vorschlägen für Reformen, es fehlt an politischem Willen, diese gegen mächtige Lobbys durchzusetzen.

Hoheitliche Aufgaben der Kontrolle und Aufsicht dürfen nicht länger an Private (ob Ratingagenturen oder Wirtschaftsprüfer) ausgelagert werden, das heißt, es bedarf der Schaffung einer öffentlichen Ratingagentur sowie öffentlicher Behörden, die Konzernbilanzen prüfen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) muss sowohl personell als auch technisch aufgerüstet werden und ihre Aufsichtskultur radikal ändern. Vor allem braucht es einen besseren Schutz für Whistleblower, die in Unternehmen oder Behörden auf Missstände und Betrug hinweisen - die geplante Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie, die nur Mindeststandards vorsieht und sich nur auf Verstöße gegen EU-Recht bezieht, reicht hier nicht aus.

Um gegen die Wirtschaftskriminalität von juristischen Personen vorzugehen, sollte ein Unternehmensstrafrecht eingeführt werden. Zur Verfolgung organisierter Finanzkriminalität müssen Strafverfolgungsbehörden und Finanzämter endlich personell, technisch und vom gesetzlichen Rahmen in die Lage versetzt werden, derartige Delikte konsequent zu verfolgen. Dazu bedarf es auch mehr Transparenz, denn die Eigentümer von Konzernen sind heute so mächtig und gleichzeitig - von wenigen Ausnahmen abgesehen - so unbekannt wie nie. Mithilfe von Banken, Beratungsfirmen und Anwaltskanzleien verstecken sie ihren Reichtum in einigen Dutzend Steueroasen. Das Netzwerk Steuergerechtigkeit schätzt, dass den Staaten durch organisierten Steuerbetrug jährlich rund 430 Milliarden US-Dollar an Einnahmen entgehen. Dieses Geld fehlt, um unsere Infrastruktur auf Vordermann zu bringen und die eklatante Personalnot in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Schulen, Kitas und Teilen der öffentlichen Verwaltung zu beseitigen.

Deutschland sollte sich auf EU-Ebene für Transparenzregister stark machen, welche die echten Eigentümer und Begünstigten von Firmen, Stiftungen und Trusts vollständig und übersichtlich auflisten. Transnationale Konzerne müssen außerdem endlich verpflichtet werden, ihre Umsätze, Gewinne und Steuerzahlungen länderweise offenzulegen. Firmen und Rechtskonstrukte, die der Verschleierung von Vermögen dienen, sollten untersagt werden.

Um Steuerdumping zu verhindern, müssen in der EU endlich verbindliche Mindeststeuersätze auf Unternehmensgewinne eingeführt werden. Dazu muss das EU-Prinzip der Einstimmigkeit in Steuerfragen überdacht werden, überhaupt braucht es dringend eine demokratische Reform der EU, ihrer Verträge und zentralen Institutionen. Auf Dividenden, Zinsen und Lizenzabgaben, die von Deutschland in Steueroasen beziehungsweise Niedrigsteuerländer fließen, sollten Quellensteuern erhoben werden. Schließlich braucht es nicht nur ein verbindliches Lobbyregister, sondern mehr Transparenz bei Parteispenden und -sponsoring und im Gesetzgebungsprozess - es ist ein Unding, dass private Beratungsunternehmen und Kanzleien an der Erstellung von Gesetzesentwürfen mitwirken.

Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen

Am wichtigsten aber wären Maßnahmen, die der zunehmenden Konzentration wirtschaftlicher Macht entgegenwirken. Nötig wäre eine Stärkung der Sparkassen und Genossenschaftsbanken und ihrer Gemeinwohlorientierung. Das Prinzip der regionalen Verantwortung und Nahversorgung muss EU-weit stärker unterstützt, begründete Privilegien für gemeinwohlorientierte, öffentliche und genossenschaftliche Banken müssen verteidigt werden. Gleichzeitig sollte man den Aktienanteil, den mächtige Schattenbanken wie Blackrock, Vanguard oder State Street an DAX-Konzernen halten dürfen, deutlich beschränken.

Statt private europäische "Rentenprodukte" zu fördern, bedarf es einer Stärkung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rente nach dem Vorbild von Österreich. Um die Schäden zu beheben, die der Allgemeinheit durch Steuerhinterziehung entstanden sind und um die Lasten der aktuellen Krise gerecht zu verteilen, bedarf es einer Millionärssteuer und einmaligen Vermögensabgabe für Milliardäre und Multimillionäre. Selbst eine geringfügige Vermögenssteuer hätte den positiven Effekt, dass Vermögenswerte endlich wieder statistisch erfasst und damit mehr Transparenz geschaffen würde.

Um unsere Wirtschaftsordnung mit sozialen und ökologischen Zielen wirklich in Einklang zu bringen, muss über neue Gesellschafts- und Eigentumsformen nachgedacht werden. Die Orientierung an kurzfristigen Kurssteigerungen zwecks Profitmaximierung ist nicht zukunftsfähig, wir brauchen Verantwortungseigentum, in dem erzielte Gewinne nicht an Wenige ausgeschüttet werden, sondern für Zukunftsinvestitionen zur Verfügung stehen. Die Interessen von wichtigen Stakeholdern (Beschäftigte, Verbraucher) müssen eine Stimme haben und Entscheidungen müssen auf ihre Vereinbarkeit mit den Klimazielen geprüft werden. Was wir brauchen, ist keine marktkonforme Demokratie. Die große Herausforderung besteht darin, demokratiekonforme Arbeits- und Finanzmärkte zu schaffen.

Fußnoten

1) https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/diw-studie-vielen-menschen-wird-der-mindestlohn-weiter-vorenthalten/25532854.html?ticket=ST-123...

2) https://www.finanzwende.de/themen/finanzlobbyismus/visuelle-erkundung-der-aktivitaeten-der-finanzlobby/?L=0

Sahra Wagenknecht Mitglied des Bundestags, Berlin
twitter
Sahra Wagenknecht , Mitglied des Bundestags, Berlin
Noch keine Bewertungen vorhanden


X