Ein juristisches Streiflicht auf die Grundlagen forensischer Aufsichtsmethoden

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Der Fall Wirecard hat dem System der deutschen Finanzaufsicht recht schonungslos die Grenzen aufgezeigt. Mit dem FISG hat der Gesetzgeber die BaFin nun gestärkt und mit erweiterten Befugnissen ausgestattet. Der Autor betrachtet die Wechselwirkungen gerade dieser neuen forensischen Aufsichtsmethoden mit der gängigen Praxis im Straf- sowie Zivilrecht und macht durchaus an der einen oder anderen Stelle noch Klärungsbedarf aus. Entweder weil es zu Überschneidungen kommen kann oder weil keine rechtliche Befugnis für aufsichtliches Handeln vorliegt - und das alles mit Blick auf die Finanzdienstleistungsbranche, der sowohl ökonomisch als auch juristisch stets eine besondere Rolle zugewiesen wird. Da aber zivil- und strafrechtliche Gesetzesregeln nicht in jedem Mitgliedsstaat gleichermaßen zu erfüllen sind, hält er es für gut möglich, dass sich forensische Methoden als "4. Säule" der Aufsicht etablieren könnten. (Red.)

Auf den Tag genau drei Monate nach der Verkündung eines ersten Urteils des Landgerichts Bonn in Sachen "Cum-Ex" räumte die Wirecard AG im Sommer vergangenen Jahres milliardenschwere Lücken in ihrer Bilanz ein. In der Presseberichterstattung folgte damit auf den "größten Steuerskandal" der Nachkriegsgeschichte unmittelbar der "größte Betrugs-, Bilanz- oder Börsenskandal". Schnell stand die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) im Zentrum medialer Kritik, wobei es durchweg nicht an Hinweisen auf vermeintliches Aufsichtsversagen in vo rangegangenen Fällen mangelte.

Nicht zuletzt der Erlass mehrerer Haftbefehle durch das Amtsgericht München im weiteren Verlauf der Causa Wirecard legte in der öffentlichen Wahrnehmung die unterschiedlichen Ansatzpunkte und Reichweiten von Aufsicht und Justiz offen. Als die BaFin hingegen vor einigen Jahren die Initiative ergriff und den Handel mit Bitcoins als erlaubnispflichtig einstufte, widersprach ihr das Kammergericht im Rahmen eines Strafverfahrens mit deutlichen Worten.

Der Beitrag wirft einen Blick auf das wechselvolle Verhältnis von Finanzdienstleistungsaufsicht und Justiz. Er verdeutlicht, dass einzelne staatliche Handlungs- und Eingriffsmechanismen nicht isoliert betrachtet werden können, und skizziert Ansatzpunkte sowie Grenzen einer forensischen Finanzaufsicht.

Gegenstand und Umfang der Finanzdienstleistungsaufsicht

Traditionell gliedert sich die Finanzdienstleistungsaufsicht in die Sparten Banken-, Versicherungs- und Wertpapieraufsicht (vgl. §§ 1 I, 4 I 1 FinDAG). Bereits ein Blick in den jeweiligen § 1 des KWG, des VAG und des WpHG verdeutlicht jedoch, dass die begriffliche Dreiteilung nur einen Bruchteil der beaufsichtigten Marktakteure und -handlungen unmittelbar wiedergibt. Hinzu treten die Vorschriften des ZAG, des neuen WpIG sowie weiterer spezieller Aufsichtsgesetze wie die des FKAG, des KAGB oder des Verm-AnlG.

Bei alledem sind unionsrechtliche Vorgaben, die zum Teil in nationale Gesetze eingeflossen sind, teils aber auch unmittelbar gelten, noch nicht einmal erschöpfend berücksichtigt. Ebenso wenig sind die Vorschriften über aufsichtsrechtliche Randbereiche umfassend bedacht, etwa über die Beratungsbranche (§§ 34c ff. GewO) oder über Erweiterungsformen der Aufsicht wie beispielsweise bei Inhaberkontrollverfahren (zum Beispiel §§ 2c, 44 KWG und §§ 16 ff., 302 VAG) oder aufgrund von Outsourcing (zum Beispiel § 25b KWG und § 32 VAG). Zentrale Aufsichtsbehörde ist die BaFin (§ 1 FinDAG), obgleich sie ihre Kompetenz je nach Sachgebiet mit unterschiedlichen Behörden auf Ebene der Europäischen Union, des Bundes und der Länder teilt.1)

Zusätzliche Querschnittsbereiche staatlicher Aufsicht

Während die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht als Institutsaufsicht nur einen Teil der Finanzbranche erfasst, gelten die Marktverhaltensregeln der Wertpapier- beziehungsweise Kapitalmarktaufsicht für sämtliche Emittenten und Anleger (vgl. Artt. 1 ff. MAR). Einen Blick in die Bilanzen der Aussteller von Wertpapieren i.S.d. § 2 I WpHG erlauben die §§ 106 ff. WpHG i.V.m. § 342b HGB, wobei die Prüfung (noch) durch eine privatrechtlich organisierte Prüfstelle erfolgt. Die Voraussetzungen für die Aufnahme von Wertpapieren in einen bestimmten Index ergeben sich wiederum aus privaten Regelwerken der Börsenbetreiber.2)

Eine weitere finanzorientierte Aufsicht für Verpflichtete unterschiedlicher Branchen erfolgt nach dem Geldwäschegesetz "zur Verhinderung von Geldwäsche und von Terrorismusfinanzierung" (§§ 2 I, 4 I GwG). Darüber hinaus sind sämtliche Kapitalgesellschaften gemäß § 325 HGB zur Erstellung und Veröffentlichung ihrer Abschlüsse durch ihrerseits beaufsichtigte Wirtschaftsprüfer (§§ 61a ff., 66a VI WPO) verpflichtet. Schließlich gelten die Regeln der steuer- und der sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfungen (unter anderem §§ 193 ff. AO beziehungsweise § 28p SGB IV).3)

Angesichts des erheblichen Umfangs und der Komplexität staatlicher Wirtschaftsaufsicht findet sich unter den Beschreibungen der Ereignisse rund um die Wirecard AG auch der Begriff vom "multiplen Kontrollversagen".4) Zwischen Oktober 2020 und Juni 2021 analysierte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages "das Verhalten der Bundesregierung und ihrer Geschäftsbereichsbehörden im Zusammenhang mit den oben genannten Vorkommnissen um den Wirecard-Konzern auch im Zusammenwirken mit anderen öffentlichen sowie privaten Stellen".5) Unabhängig von den im Abschlussbericht nach § 33 PUAG auflisteten Mängeln dürfte es jedoch auch in Zukunft kaum möglich sein, sämtlichen Fehlentwicklungen im Finanzsystem aufsichtsbehördlich vorzugreifen.

Straftatbestände der Finanzdienstleistungsbranche Quelle: L. Bierschenk

Wirtschaftliche Freiheit und regulatorischer Gegenpol

Neben Spielräumen in der Umsetzung aufsichtsrechtlicher Regeln erlauben die wirtschaftlichen Grundfreiheiten (insbesondere Artt. 9, 12 und 14 GG), stets neue Produkte, Handlungs- und Organisationsformen zu entwickeln, auf die der demokratische Rechtsstaat nur im Nachgang mittels gesetzlicher Grundlage und auch nur im notwendigen Umfang reagieren darf (Artt. 20 III, 28 I 1 GG). Nichts anderes gilt für die Regulierungsebene der Union im Hinblick auf die EU-Grundfreiheiten (insbesondere Artt. 49 ff., 56 ff. und 63 ff. AEUV) und EU-Grundrechte (insbesondere Artt. 15 ff. GRCh), wobei sich die genaue Abgrenzung von Unions- und Verfassungsrecht noch in einem Klärungsprozess befindet. 6)

Es bedarf keiner Erläuterung, dass viele Schritte in der Entwicklung der Finanzdienstleistungsaufsicht eine gesetzgeberische Reaktion auf "Krisen", "Skandale" oder sonstiges "Versagen" staatlicher Stellen waren und es wohl auch zukünftig sein werden.7) Exemplarisch zeigt sich dies an Finanzholdinggesellschaften. Nicht erst mit Blick auf die Wirecard AG, sondern bereits auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2007/2008 wurden die juristische Definition derartiger Gesellschaften und die darauf bezogene Prüfungstätigkeit der BaFin kontrovers diskutiert.8) Ein weiteres Beispiel für das Wechselspiel von wirtschaftlichem und technischem Fortschritt sowie regulatorischer Steuerung ist die Aufnahme von Kryptowerten in das KWG im Jahr 2019.9)

Als eine erste Reaktion auf die Ereignisse im Zusammenhang mit Wirecard hat die Bundesrepublik Deutschland den mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung DPR e.V. auf Grundlage von § 342b HGB geschlossenen Anerkennungsvertrag gekündigt und die Einbindung einer privaten Prüfstelle in die Bilanzkontrolle nachfolgend abgeschafft.10) Jene "Bilanzpolizei" wird ihre Aufgaben daher nur noch bis zum Ende des Jahres 2021 wahrnehmen (vgl. § 18b FinDAG).

Die Deutsche Börse AG hat die Regeln über die Aufnahme von Wertpapieren in den DAX und ihren Verbleib darin überarbeitet.11) Konkrete Mängel im Handeln der Aufsichtsbehörden hat neben dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss auch die ESMA nach Maßgabe der Leit linien 2014/1293 (Enforcement) untersucht.12) Das Bundesministerium der Finanzen und das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz haben schließlich ein Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) erarbeitet, dessen erster Teil am 01.07.2021 in Kraft getreten ist.13)

Das neue FISG im europäischen Aufsichtsgefüge

Zentrale Inhalte des FISG sind stärkere Befugnisse der BaFin bei der Bilanzkon trolle börsennotierter Unternehmen, organisatorische Änderungen des Abschlussprüfungswesens und schärfere Anforderungen an unternehmensinterne Kontrollmechanismen (Governance).14) Obwohl einzelne Regeln des FISG erst zum Jahresbeginn 2022 in Kraft treten werden, hat die juristische und ökonomische Bewertung des Gesetzes bereits begonnen.15) Im Einzelnen dürfte es sich als Nagelprobe für das geltende System der Finanzdienstleistungsaufsicht im Rahmen von SSM und ESFS erweisen.

Im April 2020 hat der VGH Kassel auf Grundlage der Richtlinie 2009/138/EG (Solvabilität II) entschieden, dass nationale Regeln gesetzlichen oder administrativen Ursprungs nicht zur Anwendung gelangen dürfen, wenn:

  • der betroffene Regelungsgegenstand in einer Richtlinie erfasst ist,
  • die Richtlinie vollharmonisierenden Charakter hat und
  • die betreffende nationale Regel mit der Richtlinie nicht im Einklang steht, indem sie das vorgegebene Schutzniveau in der konkreten Frage über- oder unterschreitet.16)

Bei dem FISG handelt es sich um die erste nationale sowie branchenübergreifende Neuerung im Recht der Finanzdienstleistungsaufsicht seit den europäischen Reformwerken der vergangenen Jahre. Die Begründung des Regierungsentwurfs der bereits als "Wirecard-Gesetz"17) bezeichneten Normen lässt dies unmissverständlich erkennen: "Die Funktionsfähigkeit des deutschen Finanzmarktes ist für die deutsche Wirtschaft und für den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland von zentraler Bedeutung. [...] Der Entwurf zielt auf die Umsetzung der vordringlichen Maßnahmen zur Wiederherstellung und dauerhaften Stärkung des Vertrauens in den deutschen Finanzmarkt."18)

Strafrechtliche Sanktionsmechanismen

Zum unionsrechtlichen Rahmen finden sich hingegen keine Ausführungen. Bemerkenswert ist allerdings, dass das FISG einen deutlichen Schwerpunkt auf die zuletzt durch das deutsche Bilanzkontrollgesetz (BilKoG) modernisierte Bilanzkontrolle legt, sich aber nicht an den europäisch definierten Begriff der Finanzholdinggesellschaft gemäß Art. 4 I Nr. 20 Verordnung (EU) Nr. 575/2013 (CRR) heranwagt. Zwar hat das BVerwG die Entscheidung des VGH Kassel im Frühjahr 2021 unter Zurückverweisung aufgehoben und sich in seinem Revisionsurteil auf eine konkrete nationale Aufsichtsnorm gestützt.19)

Der Konflikt zwischen europäischen und nationalen Aufsichtsregeln ist damit jedoch keineswegs gelöst und könnte sich gerade an den weitverzweigten Vorschriften des FISG neu entzünden. Umso mehr stellt sich die Frage nach indirekten Formen der Finanzdienstleistungsaufsicht. Die Formulierung mag irritieren, spiegelt aber den Umstand wider, dass der Schutz von Anlegern, Kredit- und Versicherungsnehmern noch bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich durch strafrechtliche Sanktions- und zivilrechtliche Ausgleichsmechanismen erfolgte.20) Versucht man die relevanten Straftatbestände zu systematisieren, ergibt sich die Übersicht in der Abbildung.21)

Klassifizierung einschlägiger Delikte

Unabhängig von der Klassifizierung der einzelnen Delikte stehen im Mittelpunkt strafrechtlicher Bewertungen keine Unternehmen, sondern der handelnde Mensch. Das deutsche Straf- und vor allem Ordnungswidrigkeitenrecht sieht nur eine abgeleitete Haftung von juristischen Personen und Personenvereinigungen vor (vgl. § 30 OWiG). Sanktionstatbestände, die bestimmte Verfehlungen unmittelbar der Körperschaft anlasten, gelangten bislang nur über das Unionsrecht zur Anwendung (vgl. Art. 83 DSGVO).22)

Auch das FISG enthält Strafvorschriften, konzentriert sich jedoch auf Verschärfungen des Bilanzstrafrechts. Derartige Delikte können in Tateinheit (§ 52 StGB) etwa mit dem Betrugstatbestand verwirklicht werden, sofern die unrichtige Darstellung auf eine konkrete Bereicherung abzielt.23)

Korrespondierende zivilrechtliche Haftung

Im Vergleich zum Strafrecht verfügt das allgemeine zivile Haftungsrecht zwar über einen höheren Grad an Komplexität. Allerdings lassen sich gerade mit Blick auf den Finanzdienstleistungssektor viele Rechtsansprüche auf die Grundnormen (vor-)vertraglicher (§ 280 I BGB) oder deliktischer (§ 823 II BGB und § 826 BGB) Pflichtverletzungen zurückführen. Die Vorschriften der Finanzdienstleistungsaufsicht können diese Tatbestände etwa als Schutzgesetz oder Pflichtenmaßstab ausfüllen. Besondere Haftungstatbestände kommen vor allem dort in Betracht, wo die vertragliche oder deliktische Bande der Beteiligten nicht hinreichend ausgeprägt ist, was insbesondere für die Prospekthaftung oder für Verstöße gegen Publizitätspflichten gilt. 24)

Deutliche Überschneidungen mit den Befugnissen der Aufsichtsbehörden ergeben sich im Hinblick auf Beseitigungs-, Unterlassungs- und Widerrufsansprüche, die in einigen Rechtsbereichen auch durch Interessenverbände geltend gemacht werden können:

  • Lauterkeitsrecht (§ 8 UWG),
  • Kartellrecht (§ 33 GWB) und
  • Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, AGB (§ 1 UKlaG).25)

Nach der im Jahr 2018 eingeführten Musterfeststellungsklage haben sogenannte qualifizierte Einrichtungen gemäß § 606 ZPO zudem die Möglichkeit, die Feststellung der "tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer [zu] begehren".26) Speziell für Schäden infolge unzureichender Kapitalmarktinformationen bietet das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) auch einzelnen Personen die Möglichkeit, ein Musterverfahren zu initiieren.27) Eine Sammelklage mit unmittelbarer Abhilfebefugnis sieht die Richtlinie (EU) 2020/ 1828 (Verbandsklagenrichtlinie) vor, die bis zum Jahresende 2022 umzusetzen ist.28)

Darüber hinaus existieren in der Praxis autonome Formen von Sammelklagen, die auf Forderungsabtretungen etwa an einen Prozessfinanzierer beruhen. Durch das geplante Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt und nicht zuletzt durch die Möglichkeiten der Digitalisierung (Stichwort "Legal Tech") wird der Zusammenschluss von Klägern in Zukunft voraussichtlich noch weiter an Bedeutung gewinnen.29)

Überschneidungen der Kontroll-, Haftungs- und Sanktionssysteme

Welche Tragweite juristische Fehler im Massengeschäft von Kreditinstituten erreichen können, war in den vergangenen Jahren etwa anhand des verbraucherschützenden Widerrufs im Hinblick auf Verbraucherdarlehensverträge nachzuvollziehen (sogenannter Widerrufsjoker).30) Ähnliches galt beziehungsweise gilt für das Widerspruchsrecht bezüglich Lebensversicherungen.31) Kreditinstitute und Versicherer sind deshalb verpflichtet, sämtliche Rechtsrisiken als Teil der operationellen Risiken im Rahmen ihres Risikomanagements fortlaufend zu analysieren und gegebenenfalls zu steuern (vgl. § 25a KWG und § 26 VAG).

Nichts anderes gilt für Rechts- und Reputationsrisiken, die sich häufig schon aus der Nähe zu möglicherweise strafrechtlich relevanten Handlungen wie zum Beispiel Geldwäschedelikten ergeben können.32) Ob beaufsichtigte Institute ihre Risiken hinreichend würdigen, ist Gegenstand der aufsichtsbehördlichen Überprüfungs- und Bewertungsprozesse, das heißt vor allem des bankrechtlichen Supervisory Review and Evaluation Process (SREP, §§ 7 I, 10 III KWG i.V.m. Artt. 97 ff. CRD IV) und der Würdigung des versicherungsrechtlichen Own Risk and Solvency Assessment (ORSA, § 27 VAG).33)

Stehen einzelne Geschäftspraktiken zum Nachteil von Verbrauchern im Widerspruch zur geltenden Rechtslage, kann die Aufsicht nach der ausdrücklichen Intention des Bundesgesetzgebers im Rahmen der Missstandsaufsicht darauf hinwirken, dass die betroffenen Institute "einschlägige Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zur Anwendung einer zivilrechtlichen Norm mit verbraucherschützender Wirkung" in ihrer geschäftlichen Praxis berücksichtigen (§ 4 Ia Fin-DAG i.V.m. § 6 III KWG und §§ 298 I, 294 VAG).34) Sie hat damit die Möglichkeit, auf eine gewisse Breitenwirkung von im Einzelfall ergangenen Judikaten hinzuwirken.

Inwieweit die Aufsicht darüber hinaus auch ohne Entscheidung des BGH auf Grundlage eigener rechtlicher Würdigung beispielsweise zivilrechtliche Klauseln in den Regelwerken von beaufsichtigten Unternehmen für unwirksam erklären kann, lässt sich nicht allgemein beantworten. Zwar setzen einige Bestimmungen wie § 164 I VVG oder § 203 IV VVG eine solche Kompetenz offenbar voraus. Rein praktisch dürfte jedoch dagegen sprechen, dass die BaFin nicht wie zum Beispiel das Bundeskartellamt über kollegial organisierte Beschlussabteilungen (§ 51 GWB) mit entsprechender Verfahrens- und Entscheidungskultur verfügt.35)

Der umgekehrte Fall, das heißt ein unmittelbares Hinüberwirken der Gerichte in den Aufgabenbereich der Aufsicht findet sich bei funktioneller Betrachtung nur im Zusammenhang mit den genannten Mitteln des kollektiven Rechtsschutzes, wobei einzelne Verbände hier die Rolle der Aufsicht übernehmen. Aktuell zeigt sich das darin liegende Konkurrenzverhältnis von public und private enforcement am Beispiel einzelner Zinsanpassungsklauseln in Prämiensparverträgen. In ihrer Allgemeinverfügung vom 21. Juli 2021 nimmt die BaFin ausdrücklich Bezug auf mehrere zivilgerichtliche Musterfeststellungsprozesse, mit denen Verbraucher bereits eine gerichtliche Prüfung angestrengt hatten.36)

Neben der Rechtsfolgenkonkurrenz von Aufsicht und Justiz ergeben sich immer wieder Wechselwirkungen in der materiellen Rechtsfindung. So existieren mehrere Fälle, bei denen sich Gerichte auf Verlautbarungen der BaFin (zum Beispiel Rundschreiben oder Merkblätter) beziehen, um etwa Rechtsbegriffe, Aufklärungspflichten oder Sorgfaltsmaßstäbe auszuformen.37) Ändert sich die Rechtsprechung in einer bestimmten zivilrechtlichen Frage, kann es umgekehrt erforderlich sein, dass die Aufsicht ihre Verlautbarungen anpasst oder kurzfristig Maßnahmen ergreift.38)

Strafrechtliche Entscheidungen der Gerichte und Staatsanwaltschaften können darüber hinaus für die aufsichtsbehördliche Beurteilung der fachlichen Eignung und insbesondere der persönlichen Zuverlässigkeit von Leitungs- und Schlüsselpersonen von Bedeutung sein (fit & proper, vgl. §§ 25c f. KWG und § 24 VAG). Nach den allgemeinen Vorschriften des Gesellschaftsrechts können strafrechtliche Verurteilungen als Nebenfolge auch zum Ausschluss als Geschäftsführer beziehungsweise Vorstand führen (§ 6 II 2 Nr. 3 GmbHG und § 76 III 2 Nr. 3 AktG). Weitergehende Berufsverbote nach §§ 70 ff. StGB sind hingegen von eher geringer praktischer Bedeutung.39)

Wechselseitige Informationspflichten von Aufsicht und Justiz

Um der Aufsicht die erforderlichen Informationen aus dem justiziellen Sektor zu übermitteln, treffen die Justiz umfangreiche Informationspflichten (zum Beispiel § 60a KWG, § 334 VAG und § 335 Id HGB); diese werden durch Verwaltungsvorschriften konkretisiert.40) In der Sache beziehen sich die Informationen stets auf konkrete natürliche oder juristische Personen, wohingegen allgemeine Rechtsentwicklungen nur mithilfe der Fachmedien kommuniziert werden können.

Eine Information der Ermittlungsbehörden durch die Aufsicht erfolgt allein im Wege der Strafanzeige (§§ 158 I, 160 I StPO), wobei nur in wenigen Fällen gesetzliche Anzeigepflichten bestehen. Wichtige Anwendungsfälle einer Anzeigepflicht der BaFin gegenüber der Staatsanwaltschaft sind zum Beispiel mögliche Kapitalmarktdelikte (§§ 119, 11 WpHG) oder Straftaten im Zusammenhang mit der Rechnungslegung (§ 110 I WpHG). Eine geplante Erweiterung der Anzeigepflicht auf die Prüfstelle für Rechnungslegung ist mit deren Abschaffung entfallen; ohnehin ging der Regierungsentwurf noch von äußerst niedrigen Fallzahlen aus.41)

Für Gerichte sowie für Behörden des Bundes, der Länder und der Kommunen gilt zudem eine Anzeigepflicht in Bezug auf Steuerstraftaten gemäß § 116 AO. Für einschlägige Prüffälle aus der Zuständigkeit der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen (Financial Intelligence Unit, FIU) folgt eine Anzeigepflicht aus § 32 II GwG. Haben Staatsanwaltschaft und Polizei strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen (§ 152 II StPO) stehen ihnen gegenüber den Aufsichtsbehörden und deren Bediensteten weitreichende Auskunfts- und Vernehmungsrechte zu (§§ 160 f. StPO).42)

Justizielle Konflikte und ihre Bewältigung

Das Nebeneinander von Aufsicht und Justiz ist über die Finanzbranche hinaus fest in der bundesdeutschen Staatsorganisation verankert: Die Finanzaufsichtsbehörden dienen der Gefahrenabwehr und werden präventiv tätig, wohingegen die Strafverfolgungsbehörden repressive Aufgaben wahrnehmen. Gewissermaßen als Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols regelt die Ziviljustiz den Ausgleich privater Ansprüche. Zwar verlaufen die Grenzen der einzelnen Aufgabenbereiche oftmals fließend, was die Beispiele des kollektiven zivilen Rechtsschutzes, der strafrechtlichen Nebenfolgen oder der Missstandsaufsicht nur zu gut verdeutlichen. Im Verwaltungs- und Gerichtsaufbau sind sie dennoch prägend. Besonderes Augenmerk verdienen dabei Fälle einer sogenannten Normspaltung oder Normambivalenz. Eine solche Situation kann eintreten, wenn sich unterschiedliche Eingriffsgrundlagen auf dieselbe Vorschrift eines Aufsichtsgesetzes stützen.43) Betreibt beispielsweise jemand Geschäfte aus dem Anwendungsbereich des § 1 KWG, ohne über die nach § 32 I KWG erforderliche Erlaubnis zu verfügen, kann die BaFin die Einstellung und Abwicklung des Geschäftsbetriebs anordnen (§§ 37, 44c KWG), die Staatsanwaltschaft kann ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einleiten (§ 54 KWG) und geschädigte Anleger können vor einem Zivilgericht auf Schadensersatz klagen (§ 823 II BGB).44) Besonders deutlich wurde dieser Konflikt zuletzt im Rahmen jener strafrechtlichen Entscheidung des Kammergerichts, welche Bitcoins entgegen einer vorangegangenen Positionierung der BaFin eine Qualifikation gemäß § 1 KWG absprach.45)

Indem die Straf- und die Zivilgerichte einerseits sowie die für die BaFin zuständigen Verwaltungsgerichte andererseits unterschiedlichen Bundesgerichten nachgeordnet sind (Art. 95 I GG),46) lassen sich die Fälle einer Normambivalenz letztlich nur durch den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes lösen (GmS-OBG, vgl. Art. 95 III GG i.V.m. §§ 1 ff. RsprEinhG). Angesichts der hohen Voraussetzungen eines solchen Verfahrens sind Entscheidungen des GmS-OBG jedoch äußerst selten - der letzte Beschluss liegt knapp zehn Jahre zurück47) - und Widersprüche meist durch den Gesetzgeber zu klären.48)

Neben dieser rechtlichen Komponente können sich aber auch praktische Konflikte ergeben, zum Beispiel wenn eine nach § 28 I VwVfG erforderliche Anhörung zur Vorbereitung einer verwaltungsbehördlichen Maßnahme einer bestimmten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungstaktik zuwiderläuft.49) Die bestehenden gesetzlichen Kollisionsregeln - etwa § 154d StPO und § 262 II StPO - bieten hierfür keine hinreichende Lösung, sodass es letztlich eines konsensualen Vorgehens der beteiligten Stellen bedarf. Eine interessante Neuerung enthält insoweit das FISG, indem die Anzeigepflicht der BaFin nach § 110 I WpHG n.F. zukünftig dazu führen soll, dass die Aufsichtsbehörde ihre Befugnisse gemäß § 107 WpHG ab dem Zeitpunkt der Anzeigeerstattung nur noch "im Benehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft" wahrnehmen darf.50)

Kooperationsformen von Aufsicht und Justiz

Angesichts des beschriebenen Konfliktpotenzials stellt sich die Frage nach möglicher Zusammenarbeit von Aufsicht und Justiz. Der rechtliche Rahmen hierfür ist eng, bietet aber durchaus Ansatzpunkte. Wegen der verfassungsrechtlich verbürgten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 I GG) sind allerdings Kooperationen zwischen Behörden und Gerichten nahezu ausgeschlossen. Möglich sind allein organisatorische Regeln über besondere sachliche, örtliche oder funktionelle Zuständigkeiten (vgl. §§ 71 II, 72a GVG, § 95 GVG und § 74c GVG).

Für die Entscheidung eines Zivilrechtsstreits kommt es demnach regelmäßig nicht darauf an, ob das zu treffende Urteil über den konkreten Streitgegenstand hinaus möglicherweise zu Verwerfungen im Finanzsektor führt.51) Ähnlich verhält es sich mit der Staatsanwaltschaft und ihrer gesetzlichen Pflicht zur Strafverfolgung bei bestehendem Anfangsverdacht (sogenanntes Legalitätsprinzip, § 152 II StPO). Zwar enthalten strafrechtliche Regeln und Sanktionen mittlerweile auch präventive oder ausgleichende Elemente wie zum Beispiel Maßnahmen zur Vermögensabschöpfung (§§ 73 ff. StGB). Im Schwerpunkt ist die Strafjustiz jedoch weiterhin repressiv ausgerichtet.52) So gilt das Vorliegen eines Anfangsverdachts zugleich als formelle Grenze zwischen Aufsicht und Justiz; denn die Staatsanwaltschaften und ihre Ermittlungspersonen sind nicht befugt, Ermittlungen "ins Blaue hinein" zu tätigen und müssen ein Ermittlungsverfahren einstellen, wenn sich der anfängliche Verdacht gegen eine konkrete Person nicht erhärtet.53)

Potenzielle Partnerinstitution der Finanzaufsicht ist somit die Polizei. Diese unterliegt gemäß § 163 I, II StPO zwar ebenfalls dem Legalitätsgrundsatz, nimmt aber auch präventive Aufgaben wahr (siehe neben den Landespolizeigesetzen insbesondere für das Bundeskriminalamt (BKA) und die Landeskriminalämter (LKA) §§ 1, 2 I, II BKAG).

Ansätze institutioneller Kooperation

Die gegenwärtige Situation im Zusammenspiel von Aufsicht und Justiz mag in Teilen unbefriedigend sein, ist jedoch alles andere als neu. Spätestens seit den 1980er Jahren und verstärkt seit der Finanzkrise 2007/2008 wird im juristischen und ökonomischen Schrifttum die Frage nach den Besonderheiten von Banken gestellt. Mit unterschiedlicher Akzentuierung kreisen die Antworten zumeist um das Geschäftsmodell, das sich unter anderen durch hohe Komplexität, besondere Vertrauensabhängigkeit, enorme volkswirtschaftliche Bedeutung und eine daran bemessen eher niedrige Kapitalausstattung auszeichnet.54)

Die wichtigsten strukturellen Reformen der jüngeren Vergangenheit - insbesondere Basel II/III und Solvabilität II - betrafen vor diesem Hintergrund vor allem das Wechselspiel von Kapitalanforderungen und Corporate Governance. Angesichts der Ereignisse um die Wirecard AG nimmt das FISG nun wieder "Aufsicht" als Funktion stärker in den Blick. Effektive Aufsichtsstrukturen können in einem durch Gewaltenteilung geprägten Rechtsstaat jedoch nicht ohne das Justizsystem gedacht werden. Die besondere Schwierigkeit besteht in der Suche nach geeigneten Schnittstellen.

Gegenwärtig beschränkt sich die praktische Zusammenarbeit innerhalb des aufgezeigten Rahmens zumeist noch auf informelle Wege wie zum Beispiel den Informationsaustausch in der 2019 gegründeten Anti Financial Crime Alliance (AFCA).55) Um eine gezielt kooperativ ausgestaltete Behörde handelt es sich bislang einzig bei der europäisch intendierten FIU der Generalzolldirektion (§§ 27 ff. GwG i.V.m. §§ 1 Nr. 2, 5a II 2 FVG). 56) Diese ist zwar in ihrer praktischen Arbeitsweise noch längst nicht frei von Kritik.57) Allerdings könnte sie sich zu einer Art Türöffner entwickeln und beispielsweise Abordnungen von Richtern und Staatsanwälten an die Finanzaufsichtsbehörden etablieren - eine beim Bundeskartellamt zur Bearbeitung von Kartellordnungswidrigkeiten bereits gängige Praxis.58)

Dass sich Teile der Finanzaufsichtsbehörden vergleichbar den Finanzbehörden (§ 386 I 2 AO) darüber hinaus zu Ermittlungsbehörden der Staatsanwaltschaft entwickeln werden, erscheint hingegen unwahrscheinlich, liegen die Schwerpunkte der einschlägigen Verfehlungen nach dem obigen Schema doch meist im StGB und nicht in den speziellen Aufsichtsgesetzen. Allerdings erscheint möglich, dass neue Aufsichtsgesetze zunehmend Kollisionsregeln nach dem Muster des § 110 I WpHG n.F. enthalten werden.

Im Zivilrecht sind derartige Koordinationsmechanismen hingegen kaum umzusetzen. Der verfassungsrechtliche Justizgewähranspruch (Artt. 2 I, 20 III GG) erlaubt es nicht, private Klagerechte der Kooperation mit einer Aufsichtsbehörde zu unterwerfen. Der Aufsicht bleibt hinsichtlich Individualklagen damit nur die Rolle einer Beobachterin. Mit Blick auf kollektive Rechtsschutzinstrumente wird sie sich aber zunehmend fragen müssen, inwieweit sie mit ihren Mitteln voranschreiten oder privaten Akteuren das Feld überlassen möchte.

"Kriminalistische Finanzwächter" als Lösungsansatz

Um die vorhandenen Lücken zu schließen, ertönte als Reaktion auf die Vorkommnisse rund um Wirecard recht früh der Ruf nach "kriminalistischen Finanzwächtern", "forensischen Prüfungen" oder einer "deutschen SEC". Ganz offensichtlich verbirgt sich dahinter der Wunsch nach einer stärkeren aufsichtsbehördlichen Prüfungstätigkeit im Sinne einer kriminalistischen Prävention. Die Gesetzesbegründung des FISG greift den Begriff der forensischen Prüfung zwar auf, bezieht ihn aber allein auf Auskunfts- und Durchsuchungsrechte (§ 107 V, VII WpHG n.F.).59)

Derartige Befugnisse existieren branchenübergreifend mit unterschiedlicher Intensität bereits gegenüber beaufsichtigten Instituten, Auslagerungsunternehmen und Inhabern bedeutender Beteiligungen (§§ 44, 44b KWG und §§ 305 f. VAG) sowie zur Verfolgung unerlaubter Bankgeschäfte (§ 44c KWG).60) Jene Vorschriften bilden in der Aufsichtspraxis die Grundlage sogenannter örtlicher Prüfungen im Sinne von Routine- und Anlassbeziehungsweise Sonderprüfungen und stehen in sachlichem Zusammenhang mit dem allgemeinen aufsichtsbehördlichen Prüfprozess (Supervisory Review Process, SRP, vgl. § 6, 44 I 2 KWG und §§ 294, 298 VAG). Das FISG weitet diese Rechte nunmehr auf alle kapitalmarktorientierten Unternehmen aus, soweit dies zur Wahrnehmung der Befugnisse gemäß § 106 WpHG erforderlich ist. Nach dem Begriffsverständnis des Gesetzgebers sind die Voraussetzungen für sogenannte forensische Prüfungen somit längst vorhanden. Darüber hinaus verfügt etwa die Deutsche Bundesbank als zentrale Begutachtungsstelle für Falschgeld gemäß § 92 StPO sogar über Erfahrungen in der Dokumenten- und Wertpapierprüfung.

Inwiefern es erforderlich und angemessen ist, weitere kriminaltechnische Kompetenzen auch für den Bereich der laufenden Aufsicht unterhalb der Schwelle eines konkreten Anfangsverdachts aufzubauen, ist zuvorderst eine politische Frage. Ein rein verwaltungsorganisatorischer Aspekt ist hingegen, inwiefern kriminalistisches Wissen in aufsichtsbehördlichen Prüfprozessen eingebunden werden soll. Konkret betrifft dies etwa die systematische Auswertung von Presseberichten, Beschwerden (§ 4b FinDAG) und Meldungen durch sogenannte Hinweisgeber (§ 4d FinDAG) sowie die Vorgehensweise bei den oben genannten Routine- und Anlassprüfungen.61)

Einige besonders häufig auftretende Muster der Wirtschafts- und Unternehmensdelinquenz wurden im kriminalistischen Schrifttum bereits typisiert und zum Teil auch aus aufsichtsbehördlicher Perspektive analysiert.62) Bei der Entwicklung hieran anknüpfender Prüfprozesse wäre zu beachten, dass die Aufsicht im Unterschied zur Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen zur Überprüfung eines konkreten Verdachts unternimmt, sondern Hypothesen entwickeln kann beziehungsweise muss. Eine besonders simple Ausprägung dieser Arbeitsweise bilden die sogenannten W-Fragen und die Bitte um Nachweise in Gestalt von Zeugen und Originalurkunden als Ergänzung zu den standardisiert aufbereiteten Daten des aufsichtsrechtlichen Berichtswesens.

Sollte sich eine Hypothese im aufsichtsbehördlichen Prüfprozess zum strafrechtlich relevanten Verdacht erhärten, bedarf es eines strukturierten Prozesses zur Erstattung einer Strafanzeige und zur Einleitung geeigneter Schutzmaßnahmen. Diese sollten bestenfalls im "Einvernehmen" (vgl. § 110 I WpHG n.F.) mit der zuständigen Staatsanwaltschaft erfolgen.

Die gesetzliche Grundlage hierzu bieten nach geltendem Recht die Missstandsaufsicht und die ihr vorgelagerten Prüfverfahren, soweit sie auf die Verhinderung beziehungsweise Eindämmung von Straftaten als konkrete Gesetzesverletzungen zielen.63) Dass es hierbei zu Überschneidungen von Aufsichts- und Strafrecht kommen kann, setzen die in den Aufsichtsgesetzen enthaltenen Verweise auf strafprozessuale Auskunftsverweigerungsrechte offensichtlich voraus (vgl. § 44 VI KWG und § 305 V VAG). Wichtig ist nur, dass die rechtlichen Anforderungen an strafprozessuale Maßnahmen keinesfalls durch eine "Flucht ins Aufsichtsrecht" umgangen werden dürfen.64)

Perspektiven forensischer Finanzaufsicht

Ein Ziel der Aufsicht muss es sein, Verfehlungen schnell zu erkennen und effizient darauf zu reagieren. Der Weg dorthin könnte über forensische Prüfungen als Ergänzung zum standardisierten Kontroll- und Berichtswesen führen. Allerdings sollte "Forensik" stets im eigentlichen Wortsinn (forensis) als "zum Forum gehörig" beziehungsweise "gerichtlich" verstanden werden. Dies schließt sowohl straf- als auch zivilrechtliche Bewertungen ein und erfordert ein klares Konzept für den zulässigen Informationsaustausch mit der Polizei und der Justiz.

Betrachtet man strafrechtliche Bestimmungen im Übrigen nicht lediglich als Justizdomäne, sondern als Grundkonsens negativer Verhaltensweisen,65) bieten forensische Ansätze auch die Möglichkeit, in Randbereiche der Aufsicht wie etwa das Steuerwesen zu blicken.66) Dies entspräche nicht nur der zentralen Position der BaFin im vielschichtigen Aufsichtsgefüge, sondern auch der volkswirtschaftlichen Bedeutung und der Reichweite des Kapitalmarktes einschließlich verbotener Geschäftspraktiken.

Gesetzlicher Dreh- und Angelpunkt forensischer Methoden ist stets die gesetzliche Missstandsaufsicht. Zwar sieht sich diese schon seit längerer Zeit verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken ausgesetzt, soweit mit ihrer Hilfe unbestimmte Rechtsbegriffe, nationale Vorschriften im Widerspruch zu europäischen Vorgaben oder soft law ohne gesetzliche Anknüpfung durchgesetzt werden sollen.67) Allerdings verfügen gerade zivil- und strafrechtliche Gesetzesregeln häufig über ein ausgeprägtes Profil und zählen nicht zuletzt zu den Vorschriften, die beaufsichtigte Institute "in jedem Mitgliedstaat zu erfüllen haben".68) Es ist demnach gut möglich, dass sich forensische Methoden in Anlehnung an Basel II/III und Solvabilität II als "4. Säule" der Aufsicht etablieren könnten.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Ansicht des Autors wieder.

Das Literatur- und Fußnotenverzeichnis zu diesem Beitrag können Sie hier abrufen.

Lars Bierschenk , Richter am Landgericht, Köln

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