KI in der Finanzindustrie: Neue Perspektiven für Prozesse und Produkte

Udo Müller, Foto: adesso AG

Es wird zwischen zwei Formen der Künstlichen Intelligenz (KI) unterschieden. Laut Autor ist für die Bankenbranche vor allem der Einsatz der schwachen KI von Interesse. In dem Artikel gibt er einen Überblick über mögliche Anwendungsfelder schwacher KI in Kreditinstituten. Diese reichen von Automatisierungsprozessen wie Chatbots, um die Kundenkommunikation bei Auslastungsspitzen zu rationalisieren, über optimierte Anzeigenkampagnen bis hin zur Revolutionierung des Kreditvergabeprozesses mit automatisierter Kreditentscheidung direkt am Point of Sale. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Doch der Autor weist darauf hin, dass es bei allen Arten der Anwendung darauf ankommt, sowohl für KI-Know-how als auch Branchenwissen zu sorgen. (Red.)

Vom Abrechnen von Konto- oder Depotauszügen über das Berechnen von Kreditkonditionen bis zum Koordinieren internationaler Finanztransaktionen: Banken haben eine lange Tradition bei der Arbeit mit Daten. Schließlich besteht ihr Geschäftsmodell seit den Anfangstagen genau daraus: aus Sammeln, Verdichten, Aufbereiten und Auswerten von Informationen. Die Finanzindustrie ist von Natur aus prädestiniert für den Einsatz von Informationstechnologie. Mit Künstlicher Intelligenz (KI) steht das nächste Thema vor der Tür, das Prozesse im Banking grundlegend verändern wird.

In der Finanzindustrie kommen Faktoren zusammen, die dafür sorgen, dass sich KI-Anwendungen "wohlfühlen". Hier existieren große Datenmengen und standardisierte Abläufe ebenso wie individuelle und komplexe Prozesse. Hinzu kommen unterschiedliche Datenquellen wie Menschen, IT-Systeme oder Maschinen. Neben semi- oder unstrukturierten stehen strukturierte Daten. In diesem Umfeld spielen unterschiedliche KI-Technologien ihre Stärken aus. Einige Anwendungsmöglichkeiten von KI für Banken werden im Folgenden betrachtet.

In "BanKIng" steckt KI schon drin

Es ist schwierig, sich auf eine Definition von Intelligenz zu einigen. Und darüber, was KI ist, lässt sich geradezu vortrefflich streiten. Für die folgenden Ausführungen reicht eine kurze, pragmatische Definition: KI ist ein Teilgebiet der Informatik, das sich mit der Erforschung von Mechanismen des intelligenten menschlichen Verhaltens befasst.*

Die Wissenschaft unterscheidet zwischen starker und schwacher KI. Das Ziel starker KI ist, menschliche Intelligenz nachzuahmen. Bei schwacher KI geht es um intelligente Entscheidungen in der Automatisierung von Prozessen. Die erste Variante liegt außerhalb der aktuellen technischen Möglichkeiten und ist auf absehbare Zeit eher eine wissenschaftliche Disziplin. Schwache KI hingegen ist ein Ansatz, der heutzutage in vielen Anwendungen bereits eine Rolle spielt. Von der Sprachsteuerung im Smartphone oder im Auto über die Gesichtserkennung in Videos bis hin zum automatisierten Zusammenstellen von Playlists für Musik-Streaming-Anbieter: Im Hintergrund werkeln KI-Technologien.

Zwar sind Daten seit jeher der Dreh- und Angelpunkt der Finanzwirtschaft. Trotzdem ist das Potenzial in der Finanzindustrie noch lange nicht ausgeschöpft. Das Schlagwort ist "Data Driven Services". Dahinter steht die Idee, dass Banken auf Basis der Kombination aus Daten und Technologien neue Prozesse, Geschäftsmodelle oder Angebote entwickeln. Dabei spielen insbesondere das Maschinelle Lernen - ein Teilgebiet der KI - eine Rolle. Wie solche Services aussehen, erläutern die nachfolgenden Beispiele - von der Ansprache von Kunden bis hin zum Neugestalten von Prozessen.

In der Ansprache von Kunden und Interessenten eröffnen daten- und KI-basierte Ansätze neue Möglichkeiten. So lässt sich das Thema Online-Werbung ganz neu denken. Klassischerweise schaltet ein Finanzinstitut Bannerwerbung auf thematisch passenden Plattformen. Dabei zeigen die Plattformen allen Besuchern die gleiche Anzeige an. Ausnahmen sind sogenannte A/B-Tests zum Bewerten der Effektivität unterschiedlicher Motive.

Ein anderes Szenario eröffnet das Nutzen vorhandener Daten, beispielsweise das Auswerten von Cookies beziehungsweise das Tracken von Internetnutzern über Webanalytics. Ein entsprechend konfiguriertes System zum Schalten von Bannerwerbung analysiert auf Basis dieser Daten den Status des Webseitenbesuchers: Ist er Kunde der Bank oder noch nicht? Falls er Kunde ist, welche Finanzprodukte nutzt er? Ein Algorithmus wählt auf dieser Grundlage automatisch die Anzeige mit dem passendsten Inhalt aus. Nichtkunden sehen zum Beispiel ein Angebot zur kostenlosen Kontoführung inklusive Prämie bei Kontoeröffnung. Bestandskunden hingegen, die über ein Aktiendepot verfügen, erhalten Informationen über Fondssparpläne. Das KI-gestützte System prüft permanent die Resonanz auf unterschiedliche Motive beziehungsweise Inhalte und passt die Anzeigen an. So optimiert es automatisch laufende Kampagnen.

Überzeugende Kundenansprache automatisieren

Formal sind Chatbots (kurz Bots) sogenannte textbasierte Dialogsysteme. Sie bestehen aus einer Textein- und -ausgabe und basieren auf der Analyse und dem Erzeugen natürlicher Sprache. Beide Seiten, Mensch und Bot, kommunizieren in natürlicher Sprache miteinander. Der Chatbot tritt mit seinem Gegenüber in einen Dialog. So weist er beispielsweise gezielt auf Angebote hin oder stellt im Log-in-Bereich des Kunden individuelle Vertragsunterlagen zusammen. Dabei ist ein Bot nicht nur eine andere Form einer Suchmaschine, die Listen von Ergebnissen liefert und den Anwender dann selbst entscheiden lässt, was er weiter unternimmt. Ein richtig vorbereiteter Chatbot liefert nur eine Antwort, dafür aber die richtige.

Solche Bots bieten die Möglichkeit, individuelle Kommunikation und Betreuung im großen Maßstab anzubieten. Dies ist sinnvoll, wenn Auslastungsspitzen drohen, beispielsweise während einer Anzeigenkampagne. Ebenso können Kreditinstitute so einen Grundservice in Randzeiten und an Wochenenden sicherstellen. Die Verantwortlichen setzen Bots aber auch gezielt dazu ein, die bestehende Kundenbetreuung zu entlasten. Sie beantworten Standardanfragen: Öffnungszeiten von Filialen, Formulare zur Kontoeröffnung oder Kontaktmöglichkeiten. Sobald das Gespräch zu kompliziert wird, schaltet es den Experten aus der Kundenbetreuung hinzu. Auch hier bahnt sich bereits das nächste Kapitel an: Ein Chatbot wird zum Voicebot.

Leadgenerierung durch KI

Für den Großkundenvertrieb einer Bank sind persönliche Beziehungen zu den Entscheidern auf Kundenseite das A und O. Um sich ins Gespräch zu bringen, ist die intime Kenntnis der betreuten Branche und Unternehmen unerlässlich: Wo gibt es einen Wechsel im Management? Wo sind Neugründungen, Fusionen, Investitionen oder Kooperationen geplant? Diese oder ähnliche Informationen sind der Anlass für einen Erstkontakt. Oder sie helfen, bestehenden Verkaufsbeziehungen neue Impulse zu geben.

Bisher galt es für Vertriebsmitarbeiter, diese Informationen zu recherchieren. Eine Aufgabe, die trotz aller Technologie viel Handarbeit und Zeit erfordert. Informationen kommen aus unterschiedlichen Quellen: vom Branchenfachblatt über die Kundenwebsite bis hin zu Veranstaltungshinweisen und Social-Media-Aktivitäten. Einen verbesserten Ansatz bietet eine KI-gestützte Lösung. Entsprechend konfiguriert, stellt sie dem Vertrieb kontinuierlich relevante Kommunikationsanlässe zur Verfügung. Dazu kann das System mit Artikeln trainiert werden und so lernen, relevante Inhalte erkennen zu können. Auf dieser Basis durchsucht die Anwendung im ersten Schritt verfügbare Quellen. Die KI-Lösung analysiert und filtert die Ergebnisse bezüglich Aktualität und Relevanz. Textanalysewerkzeuge helfen, mehrere Treffer zu einem Sachverhalt zusammenzufassen. Zudem bewertet das System die Relevanz der gefundenen Informationen.

Digitaler Online-Kredit mit automatisierter Kreditentscheidung

Termine vereinbaren, Anträge ausfüllen, Unterlagen einreichen und warten. Das waren in der Vergangenheit die Komponenten, aus denen eine Kreditanfrage bestand. Und das in Zeiten, in denen Konsumenten mit einem Wischen über das Smartphone eine Urlaubsreise buchen. Dagegen wirkt der Ablauf beim Thema Kredit vielfach antiquiert.

Abhilfe schafft ein System, das das Bewerten des Kunden in Echtzeit erlaubt. Grundlage sind die historischen Kontobewegungen und die Analyse der Zahlungsströme. Auf dieser Basis kombiniert mit den anonymisierten Werten vergleichbarer Kunden, berechnet der Algorithmus einen individuellen Kreditscore. Der Verbraucher, der sich spontan für einen Kredit interessiert - die reduzierte Stereoanlage ist ein tolles Angebot - prüft mithilfe seiner Banking-Ap p direkt im Laden seine Kreditkonditionen. Seine Bank gibt ihm sofort Auskunft. Abgeschlossen wird der Vertrag per Fingerabdruck oder Gesichtserkennung. Dieser Prozess reduziert den lästigen Papierkram und die Wartezeit bis zur Zusage auf null.

Diese Beispiele zeigen: Die Stärken, die KI-Anwendungen mitbringen - das Erkennen von Zusammenhängen und Strukturen in großen Datenmengen -, passen gut in die Finanzwelt. Es mangelt nicht an Einsatzmöglichkeiten für KI-Anwendungen in Banken. Im Gegenteil: Das Zuviel an Auswahl ist das Problem. Sich hier nicht zu verzetteln, sondern die richtigen Ansätze und Anwendungsfälle auszuwählen, ist eine der entscheidenden Aufgaben für das Management. Der Fokus sollte auf konkreten Anwendungsfällen und auf der vielbeschworenen "digitalen Customer Journey" liegen.

Unabdingbar ist es, von Beginn an in der Lage zu sein, KI- und spezielle Machine-Learning-Verfahren genauso treffend einzuschätzen wie Kundenforderungen. Sie müssen die Qualität vorhandener Daten ebenso bewerten wie die Qualität einer Benutzeroberfläche.

Fußnote

* Wichert, Andreas: Künstliche Intelligenz. In: Spektrum.de (abgerufen am 25. Juli 2019)

Udo Müller Senior Business Development Manager Banking, adesso AG, Frankfurt am Main
Udo Müller , Senior Business Development Manager Banking, adesso AG, Frankfurt am Main
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