Von der Di- zur Du-gitalisierung

Jürgen Pitzer, Kommunikationsberater

Eigentlich, so könnte man nach all den vielen Messen, Kongressen, den Reden und Artikeln über die Folgen der Digitalisierung auf Wirtschaft und Gesellschaft meinen, sollte dieses Thema inzwischen bei allen angekommen sein. Und erst recht könnte man der Auffassung huldigen, dass es nach herkömmlichem Selbstverständnis von Forschung und Wissenschaft eben gerade deren Rolle sei, in der vordersten Front neue und bahnbrechende Erkenntnisse zu erforschen und zu vermitteln. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt Programm und Ergebnisse des 70. Deutschen Betriebswirtschafter-Tages, der sich nota bene traditionell über zwei Tage erstreckt, dann werden diese Erwartungen weitgehend enttäuscht. Nicht aber der praktische Erkenntniswert über den gegenwärtigen Stand und die Aussichten für deutsche Unternehmen, den durch "Digitalisierung, Vernetzung und disruptive Geschäftsmodelle", so die Überschrift des Programmes, ausgelösten Wandel zu bestehen oder gar als chancenreiche Herausforderung für den Erfolg zu nutzen. Denn es sind ebenso zahlreiche wie hochrangige Unternehmer der Einladung der Schmalenbach-Gesellschaft gefolgt.

Fasst man diese Erkenntnisse aus den erfreulich zahl- und kenntnisreichen sowie erstaunlich offenen Präsentationen der Unternehmensvertreter kurz zusammen, so besteht durchaus die Hoffnung, dass Deutschland seine Spitzenposition in Europa dank seiner industriellen Basis und der guten Ausbildung seiner Ingenieure auch künftig verteidigen kann, sich im globalen Maßstab allerdings nur auf hinteren Plätzen bewegen wird, so die Erkenntnisse von Prof. Bauernhaus vom Fraunhofer-Institut. Für den dynamisch wachsenden globalen Markt digitalisierter Wertschöpfung sieht er neben den amerikanischen insbesondere chinesische Unternehmen als die maßgeblichen Player an. Sie führen bereits jetzt die Liste der 20 größten einschlägigen Unternehmen an, mit einem japanischen Konzern als Ausnahme.

Schon jetzt ist die Leistungsfähigkeit chinesischer Internetkonzerne staunenswert. Alibaba, der noch vor Amazon größte Versandhändler, generiert 15 Milliarden US-Dollar Umsatz täglich - und seine IT-Infrastruktur bewältigt dabei 150 Millionen Transaktionen in der Sekunde, so die bei Ringier für IT Verantwortliche Xiaoqun Clever. Nach ihrer Einschätzung hat die digitale Transformation in vielen Branchen erst begonnen, während in anderen Branchen wie den Medien oder dem Handel und anderen Dienstleistungsbranchen der Konkurrenzkampf mit disruptiven Newcomern schon mitten im Gang ist. Medienunternehmen gehören zweifellos zur letzteren Kategorie. Dazu zählen naturgemäß auch die Banken, Versicherer und Vermögensverwalter, die allesamt hochrangige Referenten zur Tagung geschickt hatten, um deutlich zu machen, wieweit ihre jeweiligen Unternehmen sich bereits erfolgreich in dem Transformationsprozess vorwärts bewegt haben.

In vielen Fällen sind es die Neuerungen des digitalen Zeitalters, die auch große und marktführende Unternehmen zu Getriebenen macht. Dies gilt auch deswegen, weil risikofreudigere und agilere Newcomer sich schneller auf die Nutzung neuer technischer und gesellschaftlicher Trends für ihre Geschäftsmodelle verstehen. So steht zum Beispiel die Allianz neuerdings in vielen Bereichen im Wettbewerb mit Versicherungen, die ihr Geschäftsmodell voll auf die Nutzung des Internets als Vertriebsschiene aufbauen, und damit nicht nur die hohen Vertriebskosten des bei traditionellen Anbietern üblicherweise vorherrschenden Maklersystems sparen. Gleichzeitig gewinnen diese Konkurrenten nicht nur Zeit, sondern vor allem Daten über die Bedürfnisse der Kunden, die sie dazu nutzen, ihre Produkte entsprechend flexibel anzupassen. Beispielsweise entstanden so neue Tarife für Gesundheitsbewusste, die sich über Apps oder Wearables tracken lassen. Auch die Abwicklung von Schadensfällen über das Smartphone, bei dem ein rund um die Uhr online verfügbarer Sachverständiger anhand der ihm übermittelten Fotos den Schaden einschätzt und den Abwicklungsprozess startet. Das alles geht heute, und morgen erst recht, ohne die nach Tausenden zählenden Außendienstler bei der Allianz und anderen Versicherern.

Ähnlich verläuft es bei vielen Banken. Die jüngste Ankündigung von Commerzbank-Chef Zielke, fast 10 000 Mitarbeiter vornehmlich in den Filialen zugunsten eines verstärkten Onlinevertriebes abzubauen, spricht Bände: über die Rückständigkeit vieler immer noch im Einsatz befindlicher IT-Systeme, die kaum in der Lage sind, einen stabilen Normalbetrieb prozessual zu ermöglichen, geschweige denn für die Herausforderungen des digitalen Zeitalters gewappnet zu sein. Die beschrieb der im Vorstand der Targo-Bank für Produktmanagement verantwortliche Vorstand Lieberknecht so, dass die IT in der Lage sein müsse, die auf allen Kanälen permanent im Kontakt mit den Kunden gewonnenen Daten zu vernetzen, analysieren und die dadurch gewonnenen Informationen für alle Kontakte mit den Kunden zur Verfügung zu halten. Die damit verbundenen innerbetrieblichen Effizienzgewinne werden permanent überprüft und mit den Zielsystemen koordiniert.

Überhaupt erweist sich die Ausstattung mit einer leistungsfähigen IT als Conditio sine qua non für die Chance, im Konkurrenzvergleich wenigstens zu überleben. Wer mehr will, nämlich Wachstum, muss mehr investieren, denn aus den immer noch gültigen Moor´schen und Nielsen'schen "Gesetzen" folgt unerbittlich, dass sich die Rechnerleistungen fast alle zwei Jahre verdoppeln bei gleichzeitiger Verdoppelung der Nachfrage nach Bandbreiten. Wer in diesem dynamischen Prozess zu den Gewinnern zählen will, muss also investieren und kooperieren. Zudem wandern die Märkte weg von Europa. Die künftigen Kunden sitzen in Asien, also gilt es dort Präsenz zu zeigen und Produkte, Produktion und Service dorthin zu verlagern. Was für die einen, vornehmlich mittelständisch geprägten deutschen Unternehmen, eine hohe Hürde darstellt, eröffnet für andere neue Wachstumsmöglichkeiten.

Dazu zählen erfreulicherweise auch traditionsreiche deutsche Unternehmen, wie etwa Bosch. Wie dessen Vorstandsvorsitzender Denner aufzeigen konnte, ist das Unternehmen längst im digitalen Zeitalter angekommen. Gerade die Produktpalette bietet seiner Ansicht nach breite Möglichkeiten, um durch Vernetzung der unterschiedlichen Produkte Daten zu gewinnen, die es erlauben, neue Dienstleistungen für die Kunden bei verbesserten Prozessen der Produkterstellung und Entwicklung zu generieren. Als Beispiele dafür zeigte er die möglichen Fortschritte bei der Mobilitätssteuerung wie dem gelenkten Parken, die Vernetzung mit dem Gebäudemanagement sowie das Werkzeug- und Reparaturmanagement. Das Unternehmen ist mit über 250 eigenen Werken weltweit vernetzt und teilt darüber hinaus Daten mit Kunden beziehungsweise Kooperationspartnern, wie SAP und BMW über eine eigens als offen entwickelte Plattform.

Es sind nämlich die Plattformanbieter Google und Co, die vielen Unternehmen das meiste Kopfzerbrechen verursachen. Denn diese verfügen mit ihren global erprobten Datenfangarmen über weitreichende Möglichkeiten, Kundendaten abzugreifen und mit ausgefeilten Algorithmen aufzubereiten. Mit solchen Verfahren dringen sie offenbar erfolgreich auch immer mehr in Branchen vor, die bisher noch von Produktherstellern dominiert werden. Am Beispiel Automobilität lässt sich dies ebenso festmachen wie im Bereich Zahlungsverkehr. Wenn die Autohersteller und Banken nicht aufpassen, werden sie bald Gefahr laufen, als Anbieter von Commodities auf diesen Plattformen zu landen, mit entsprechend reduzierten Margen. Die Alternative könne nur sein, in enger Kooperation mit den Kunden wie Lieferanten Herr der Daten zu bleiben.

Ein anderes Problem stellt in großen und komplex aufgestellten Traditionsunternehmen der Umgang mit der neuen "Vernetzungskultur" dar, die sich nicht an überlieferte Organisationsmustern entwickeln lässt, sondern vom Kunden aus gedacht werden muss. Damit werden Verantwortung, Kreativität und Entscheidungsprozesse teilweise komplett erneuert, Hierarchie war gestern, Lösungskompetenz, Offenheit und Transparenz ist die neue Dimension. Einige Unternehmen gliedern dafür solche Bereiche als Laboreinheiten aus, was aber nicht zu dem Unternehmensziel der Transformation passt. Bosch hat diesen Weg inzwischen verlassen und aus dem Team von jungen Mitarbeitern eine Zentralabteilung geformt, die ihre Ideen und Lösungen dem gesamten Konzern zur Verfügung stellt. Nicht die Veränderung der Kleiderordnung, also der Verzicht auf die Krawatte wie bei Siemens, oder das verordnete "Du" im innerbetrieblichen Austausch wie bei Lidl kürzlich geschehen, verheißt demnach Erfolg, sondern das Erkennen, Identifizieren und die konsequente Nutzung der Chancen, die sich aus der Vernetzung für das jeweilige Unternehmen und seine Kunden ergeben. Ob dann mit der Di- auch die Du-gitalisierung folgt, ist demgegenüber eher zweitrangig. In jedem Fall lohnt es sich, die vielfältigen Denkanstöße, die von dieser Schmalenbach-Tagung ausgingen, weiter zu verfolgen - in Wissenschaft und Praxis.

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