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Wie sich der Customer Lifetime Value optimieren lässt

Das Retailbanking in Deutschland hat sich in den letzten Jahren zu einem sehr wettbewerbsintensiven Markt entwickelt. Vor etwa 20 Jahren bestand oft noch ein wettbewerbsarmes Oligopol. Kundenseitig zu entrichtende Entgelte für die Nutzung institutsfremder Geldautomaten stellten sicher, dass ein lokaler Markteintritt ohne Eröffnung einer eigenen Filiale unmöglich war. Töchter ausländischer Banken und Direktbanken spielten nur eine Rolle als Zweitbank für Passiv- und Aktivprodukte, nicht jedoch Erstbank für Zahlungsverkehr und Bargeldversorgung.

Seither haben unter anderem die technische Entwicklung sowie regulatorische und gesetzgeberische Initiativen das Spielfeld massiv verändert. So befindet sich heute eine Vielzahl von Instituten im Preiswettbewerb um die Retailkunden. Ein direkter Zugang mittels Filiale ist nicht mehr erforderlich, da via Onlinebanking plus Post-Ident praktisch alle Produkte abschließbar sind. Darüberhinaus hat der Bargeldbezug mittels Visa-Karte zu einem Festentgelt dazu geführt, dass auch Direktbanken über Fremdautomaten eine flächendeckend kostenfreie Bargeldversorgung anbieten können.

Zudem befindet sich eine Reihe von internationalen Banken am Markt. Diese haben in der Regel bestehende Institute übernommen und tragen zum scharfen Wettbewerb bei. Gleiches gilt für die Direktbanken, die sich von einem Randphänomen hin zu segmentspezifischen Branchengrößen entwickelt haben. Die Retailkunden sind sich zunehmend ihrer wachsenden Marktmacht bewusst. Der Trend zur Zweit- oder Drittbank ist ungebrochen. Zugleich wächst der Wunsch nach Convenience und vertrauenswürdiger Beratung. Diese gegenläufigen Tendenzen verdeutlichen, dass die Ansprüche an Retailbanken insgesamt wachsen und die Herausforderungen größer werden.

Herausforderungen für Banken

Zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Konditionenseite müssen Retailbanken zunächst bei der Prozesseffizienz weitere Fortschritte erzielen. Da vielfach bereits ein hohes Maß an Automatisierung und Standardisierung erzielt ist, verspricht primär eine Reduktion der Wertschöpfungstiefe geringere Stückkosten: Von Prozessoren können Kostenvorteile aus der Abwicklung für mehrere Mandanten durchgeholt werden.

Neben dem Fremdbezug von Leistungen stellt die Konsolidierung der IT einen großen Hebel für Qualität und Kosten dar. Der Erhalt heterogener Systemlandschaften führt unweigerlich in die Investitionsfalle, da steigende Betriebskosten immer weniger Geld für neue fachliche Anforderungen übrig lassen. Dazu erschwert eine fragmentierte IT die ganzheitliche Betrachtung und Beratung des Kunden. Eine integrierte Informationsdarstellung zum Retailkunden ist die Basis jeder bedarfsgerechten und effizienten Betreuung.

Eine weitere Herausforderung liegt in der bestehenden Vertriebsschwäche der Filialen. Moderne Konzepte wie zum Beispiel Q110 der Deutschen Bank, welche durch Senkung der kundenseitig wahrgenommenen Schwellen die Kontaktfrequenz steigern, haben bislang kaum Breitenwirkung entfaltet. Vor allem ist ein mitarbeiterseitiger Mentalitätswechsel erforderlich, der durch Qualifikationsangebote, Anreize, ein ITgestütztes Customer Relationship Management und Vertriebscontrolling gefördert wird. Die langfristige Lösung besteht aber in der konsequenten Neueinstellung vertriebsaffiner Filialmitarbeiter.

Zu den genannten Herausforderungen tritt der Vertrauensverlust gegenüber Banken unter anderem durch das Platzen der New-Economy-Blase 2000 und die Finanzkrise ab 2007. Der Schaden hieraus ist beiderseitig: Den Banken geht einerseits Geschäft verloren. Auf der anderen Seite geht den Retailkunden der Nutzen aus sinnvollen Bankprodukten verloren, die sie aus Vertrauensmangel nicht abschließen.

Verlorenes Vertrauen lässt sich nur zurück gewinnen, indem der Kundennutzen den gleichen Stellenwert wie die Profitabilität im Zielsystem der Bank erhält (Fair-Share-Ansatz). Dass hier gegenwärtig noch klare Defizite existieren, macht auch ein von der Stiftung Warentest durchgeführter Test der Anlageberatung von Banken deutlich, bei dem kein getestetes Institut die Noten "sehr gut" oder "gut" erreichen konnte. Es wird deutlich, dass Retailbanken in Deutschland einen umfassenden Ansatz benötigen, welcher die Herausforderungen hinsichtlich Kosten, Informationsbereitstellung, Kundenorientierung und Vertrauenswürdigkeit gleichermaßen adressiert, um ihre Wettbewerbsfähigkeit auch zukünftig zu erhalten. Dieser ist bislang nicht zu erkennen.

Der Blick über den Tellerrand

Daher lohnt sich ein Blick über den Tellerrand hin zur marketingwissenschaftlichen Forschung: Hier werden für Retailbanken hochrelevante Themen bearbeitet. Aus verschiedenen Gründen ist hiervon bislang wenig in der praktischen Diskussion angekommen. Daher haben sich die Autoren dieses Beitrags auf den Weg gemacht, den Herausforderungen im Retailbanking ein Customer Lifetime Value Framework (CLV Framework) entgegen zu setzen, welches auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbaut.

Die grundlegende Struktur wurde aufgrund der geschilderten praktischen Überlegungen festgelegt, welche vereinfachend in ein dreistufiges Ursache-Wirkungs-Schema gebracht wurden (siehe Abbilundg 1). Darauf aufbauend wurde das Ziel der Kundenwertsteigerung (Kundenwert = Gegenwartswert der mit einem Kunden verbundenen zukünftigen Zahlungsströme) mit zwei wesentlichen Maßnahmen (Kundenbindung steigern, Cross-Selling ausschöpfen) und einer Zielgröße (Kundenwert optimieren) in einen Bezugsrahmen gebracht (Abbildung 2).

Zur Anreicherung dieses Bezugsrahmens mit aktuellen wissenschaftlichen Ergebnissen haben sich die Autoren auf das Journal of Marketing und das Journal of Marketing Research ab Jahrgang 2005 beschränkt, um Qualität und Aktualität sicher zu stellen.

Die recherchierten Beiträge wurden hinsichtlich ihrer Eignung für das CLV Framework unter anderem anhand folgender Kriterien bewertet: Originalität und Plausibilität der Hypothese, Anwendbarkeit auf das Retailbanking sowie Stärke der in der empirischen Überprüfung gefundenen Zusammenhänge. Die ausgewählten Beiträge wurden zur Anreicherung des in Abbildung 2 gezeigten Bezugsrahmens mit konkreten Handlungsempfehlungen verwendet.

Customer Lifetime Value Framework für Retailbanken

Zur Stärkung der Kundenbindung (tatsächliches Wiederkauf-, Zusatzkauf- und Weiterempfehlungsverhalten) schlägt das Framework vier Maßnahmen vor:

Kundenzufriedenheit stärken,

Einstellungsausprägung positiv beeinflussen,

Identifikation und Gewinnung von Kunden mit hohem Kundenbindungspotenzial,

Errichtung von Wechselbarrieren.

Der Einfluss von Kundenzufriedenheit auf Kundenbindung ist unmittelbar einleuchtend, in den Köpfen der Entscheider fest verankert sowie gut empirisch belegt. Kundenzufriedenheit ist daher auch im Retailbanking ein wichtiger Beitrag, um Kundenbindung zu stärken. Allerdings mehren sich in den letzten Jahren die Hinweise, dass Kundenzufriedenheit nicht notwendigerweise der stärkste Einflussfaktor für Kundenbindung ist. Die Kundenbindung im Retailbanking wird mindestens im gleichen Maße von weiteren Einstellungsaspekten, wie Commitment, Vertrauen und Image beeinflusst. Da dies bislang nur wenigen Entscheidern bewusst ist, sehen die Autoren hier großes Zugewinnpotenzial bei den Retailbanken.

Weiterhin besteht in der Identifikation und Gewinnung von Kunden mit hohem Kundenbindungspotenzial ein starker Hebel zur Steigerung der Kundenbindung bei Retailkunden. Die Bedeutung von Kundencharakteristika für die Kundenbindung wird in der aktuellen Forschung belegt.

Daher können Retailbanken eine passgenaue Typologie zur Abschätzung des Kundenbindungspotenzials entwickeln. Hiermit wird die Identifikation von Bestandskunden mit hohem Kundenbindungspotenzial - und ein gezielter Einsatz kundenbindender Maßnahmen - möglich. Gleichzeitig ermöglicht die Auswahl geeigneter Merkmale die Ansprache und Gewinnung von Neukunden mit hohem Kundenbindungspotenzial.

Nicht zuletzt kann die Errichtung von Wechselbarrieren einen erheblichen Beitrag zur Bindung von Retailkunden leisten. Wechselbarrieren sind aber ein zweischneidiges Schwert, da sie im Vorfeld bei fehlender Kundenakzeptanz ein Abschlusshindernis darstellen können.

Analyse des Nachfrageverhaltens ist die Basis für Cross-Selling

Cross-Selling ist traditionell eine Schwäche deutscher Retailbanken, die sich primär aus der hohen Konkurrenzintensität sowie der fehlenden personellen Vertriebsstärke ergibt. Der Einsatz von Vertriebspersönlichkeiten ist hier fraglos wichtig. Zusätzlich sollten aber den Mitarbeitern die nötigen Werkzeuge an die Hand gegeben werden, damit sie den richtigen Kunden jeweils zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Kontext die richtigen Angebote machen können:

Kundentypologie zum Nachfrageverhalten,

Identifikation von Nachfrageverbünden,

Prognose von Kaufwahrscheinlichkeiten,

Kampagnenselektion und -durchführung,

gezielte kanalspezifische Ansprache.

Eine spezielle Kundentypologie zum Nachfrageverhalten (abweichend von der Kundentypologie zum Kundenbindungspotenzial), die ein typspezifisches Nachfrageverhalten sichtbar macht, stellt die Basis zur Ausschöpfung des Cross-Selling dar. Die Forschung zeigt, dass selbst einfache soziodemografische Kriterien (wie Geschlecht, Alter oder Bildungsniveau) das Nachfrageverhalten beeinflussen. Die Lösung muss jedoch zum Institut passen (Datenverfügbarkeit und Kundenstruktur). Dann werden auch Ausschöpfungslücken erkennbar, welche einen weiteren Cross-Selling-Ansatz liefern.

Auf dieser Basis lassen sich auch Nach-frageverbünde/-abfolgen erkennen und nutzen. Diese helfen dem Vertrieb, den Retailkunden sinnvolle Angebote zu unterbreiten und tragen ebenfalls zur Prognose von Kaufwahrscheinlichkeiten bei.

Kundentypologien zum Nachfrageverhalten, Nachfrageverbünde und Kaufwahrscheinlichkeiten ermöglichen es, gezielt Vertriebskampagnen zu selektieren und durchzuführen. Anhand der Kaufwahrscheinlichkeiten, den Ansprachekosten pro Kontakt und des Stückgewinns pro Produkt lassen sich Vertriebskampagnen anhand der Cost Income Ratio priorisieren. Nicht zuletzt ist eine kanalspezifische Ansprache der Retailkunden sinnvoll, um Produkte nur über erfolgversprechende Kanäle anzubieten und eine zu hohe Angebotsfrequenz zu vermeiden (Gefahr der Reaktanz).

Hohe betriebswirtschaftliche Relevanz

Und was bringt das CLV Framework konkret? Abbildung 4 zeigt eine konservative Abschätzung der Ergebniseffekte, die eine geeignete Umsetzung ergibt. Selbst relativ geringe Verbesserungen beim Cross-Selling und bei der Abwanderungsrate führen zu einem deutlichen Ertragszuwachs und zeigen damit die hohe betriebswirtschaftliche Relevanz. Das CLV Framework adressiert die Herausforderungen im Spannungsdreieck zwischen Preissensibilität, Convenience und vertrauenswürdiger Beratung vollständig. Voraussetzung hierfür ist, dass die Ansatzpunkte an der Kundenschnittstelle genutzt und seitens der IT-Systeme unterstützt werden.

Es lassen sich zum Beispiel die skizzierten Ansätze zur Cross-Selling-Ausschöpfung in ein CRM-System mit definierten Workflows und einer bedarfsgerecht aufbereiteten Zusammenführung der Retailkundendaten auf Basis von Business-Intelligence-Methoden integrieren. So entstehen durch standardisierte und automatisierte Arbeitsabläufe Kostenvorteile, die marktfähige Konditionen ermöglichen. Der Vertrieb kann von administrativen Teilprozessen entlastet werden und sich auf die Beratung der Kunden konzentrieren. Zudem ist eine kostenoptimierte Bearbeitung durch Prozessoren möglich.

Weiterhin stellt ein integriertes CRM-System auch eine umfassende Klammer dar, welche hilft, Daten aus einer heterogenen IT in einer Oberfläche zusammenzuführen. Legacy-Systeme können zum Beispiel mittels einer serviceorientierten Architektur einbezogen werden.

Die Qualität im Vertrieb (besonders in der persönlichen Beratung) wird zugleich in zwei Dimensionen gesteigert:

Zunächst nimmt die Effizienz des Vertriebs zu, da die richtigen Kunden zur richtigen Zeit im richtigen Kontext die richtigen Angebote bekommen.

Dazu wird auch der kundenseitige Anspruch auf vertrauenswürdige Beratung eingelöst. Retailkunden werden mit den passenden Produkten versorgt, die sie bei ihrer finanziellen Zielerreichung optimal unterstützen. Ebenso können die bestehenden Defizite der Beratungsdokumentation behoben werden, wenn während der Beratung die Dokumentation weitgehend automatisiert erstellt und am Ende des Gesprächs ausgedruckt wird.

Zweifelsohne werden Retailkunden, die von ihrer Bank bessere Konditionen, mehr Convenience und eine vertrauenswürdigere Beratung erhalten, gegenüber der Bank eine hohe Kundenzufriedenheit aufweisen, ihr mehr Vertrauen entgegen bringen und ihr gegenüber auch sonst eine positive Einstellung entwickeln. Eine signifikante Stärkung von Kundenbindung und Cross-Selling mit wirtschaftlichen Nutzeneffekten sind die Folgen.

Durch die Einführung des CLV Frame-works können Retailbanken den Herausforderungen im Retailbanking somit umfassend begegnen. Allerdings ist hierbei immer zu beachten, dass jedes Inst itut einzigartig ist und oft schon Teillösungen besitzt. Somit stellt dessen Einführung immer eine maßgeschneiderte Lösung dar.

Literaturhinweise:

Georgi, D.: Retail Banking und Kundenorientierung - Ein Widerspruch ? http://www.frankfurt-school.de/dms/professoren/Antrittsvorlesung_Georgi_190308.pdf

Neske, R.: Die neue Legitimation der Banken; in: Die Bank (2010), Nr. 5, S. 32-36

Stiftung Warentest: Anlageberatung von Banken; http://www.//www.test.de/themen/geldanlage-banken/test/Banken-im-Test-Die-Blamage-geht-weiter-4113924-4114315/

Eine ausführliche Liste mit Literaturhinweisen kann bei der Redaktion angefordert werden.

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