Finanzbildung

Fehlende Aktienkultur - nur eine Frage der ökonomischen Bildung?

Die Aktienkultur hierzulande ist und bleibt verbesserungsbedürftig - und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Nach den jüngsten Infratest-Umfragen des Deutschen Aktieninstituts besaßen im Jahr 2013 nur 4,6 Millionen Deutsche direkt Aktien. Das entspricht 7,1 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahren. Einschließlich der Besitzer von Aktienfonds interessieren sich 8,9 Millionen und damit 13,5 Prozent der Bevölkerung für ein Aktieninvestment. In anderen Ländern können es leicht doppelt so viele sein. Auch die langfristige Entwicklung bietet keinen Grund zur Freude: Seit 2001 haben in Deutschland rund 3,9 Millionen Menschen dem Aktienmarkt den Rücken gekehrt. Das ist fast jeder dritte ehemalige Aktionär oder Besitzer eines Aktienfonds.

Es fehlt an privatem Aktienvermögen

Andere Indikatoren untermauern, wie schwer es die Aktie in Deutschland nach wie vor hat:

- Ende 2013 besaßen die privaten Haushalte in Deutschland nach Angaben der Bundesbank Aktien im Wert von rund 280 Milliarden Euro. Die Aktie steht damit für gerade einmal gut fünf Prozent des Geldvermögens. Der Wert liegt damit sogar noch einmal deutlich unter den Werten Anfang der neunziger Jahre. Im Vergleich zu anderen Anlageformen spielt die Aktie ohnehin eine untergeordnete Rolle: Das Banksparen bringt es auf einen Anteil am Geldvermögen von 40 Prozent, das Versicherungssparen auf rund 30 Prozent.

- Die Deutschen haben seit 1991 netto Aktien im Wert von sechs Milliarden Euro verkauft. Das ist der Gesamtsaldo aller Zuund Abflüsse. Auch hier ein Vergleich: Das Banksparen und das Versicherungssparen konnten quasi jedes Jahr Zuflüsse verbuchen, die sich auf insgesamt jeweils gut 800 Milliarden Euro summieren.

Wie man es also dreht und wendet: Es fehlt an privatem Aktienvermögen in Deutschland. Und das im doppelten Wortsinne - es wird (erstens) nicht in die Aktie investiert, weil man es (zweitens) nicht vermag. Das Fundament für eine ausgeprägte Aktienkultur ist in den letzten zehn Jahren eher noch schwächer geworden - allen Rekordständen von Dax, M-Dax und Co. zum Trotz.

Diese Entwicklung ist fatal. Im langfristigen Schnitt kann man mit einem Aktieninvestment in der Regel einige Prozentpunkte mehr Rendite erwirtschaften als mit festverzinslichen Anlagen. Zwei bis drei Prozent Renditevorteil ergeben einen großen Unterschied im Endvermögen, wenn das Geld 20 Jahre "arbeiten" kann. Geradezu paradox ist, dass die Geldanlage ohne die Aktie riskanter ist als mit der Aktie. Denn bei gegebenem Risiko kann man bei ausgewogener Mischung der verschiedenen Anlageformen mehr Rendite erwirtschaften. Oder man muss weniger Risiko eingehen, um eine bestimmte Rendite zu erzielen.

Die Menschen verzichten also durch das "Falschsparen" auf Renditechancen und/ oder nehmen höhere Risiken in Kauf. Aktuell dürfte die Schere oft besonders weit sein, denn die Zinsen für Staatsanleihen, Bankeinlagen und Versicherungsverträge bewegen sich auf historischen Tiefstständen. Vermutlich wird mit dem typisch deutschen Anlageverhalten oft noch nicht einmal die Inflation kompensiert.

Vermögenspolitisch besonders bedenklich sind überdies zwei Entwicklungen: Erstens sind vor allem jüngere Menschen heute deutlich weniger am Aktienmarkt investiert als noch vor gut zehn Jahren. Bei den Unter-40-Jährigen hat sich der Anteil der Aktionäre und Aktienfondsanleger nahezu halbiert. Gerade die junge Generation ist jedoch mehr denn je darauf angewiesen, für ihr Alter eigenständig vorzusorgen. Dieses große vermögenspolitische Problem ist durch die Finanzkrise in den Hintergrund gedrängt worden. Die Aktie kann dabei helfen, den nötigen Kapitalstock aufzubauen, der den Lebensstandard im Alter absichern hilft.

Zweitens geht die Zahl der Besitzer von Aktienfonds seit der Jahrtausendwende quasi kontinuierlich zurück. Mit Investmentfonds partizipieren aber gerade diejenigen Anleger an der Entwicklung des Aktienmarktes, die monatlich wenig Geld zurücklegen können oder über geringeres Geldvermögen verfügen. Gerade für Menschen mit niedrigem Einkommen ist daher der Investmentfonds häufig der erste Schritt in ein Aktieninvestment und damit in den langfristigen Vermögensaufbau. Dieser Einstieg gelingt offenbar immer seltener.

Es geht nicht nur um Vermögensbildung

Die fehlende Aktienkultur hat aber noch weitere negative Auswirkungen. Diese sind zwar weniger "greifbar", deshalb sind sie aber nicht weniger gefährlich. In einer freiheitlichen Gesellschaft mit marktwirtschaftlicher Grundordnung brauchen wir eine breite Beteiligung der Bevölkerung am Produktivkapital. Das macht die Menschen zu (Mit-)Unternehmern, die an den Markterfolgen der Unternehmen partizipieren. Außerdem vermittelt Mitunternehmertum quasi automatisch ein Verständnis für die Funktionsweise von Märkten und allgemeine wirtschaftliche Zusammenhänge. Dies ist unverzichtbar für die langfristige gesellschaftliche Akzeptanz unserer Wirtschaftsordnung. In Umfragen bekundet rund ein Drittel der Bevölkerung, von der sozialen Marktwirtschaft keine gute Meinung zu haben.1) Das stimmt nachdenklich. Die Diskussionen um den Stand der Aktienkultur sollte also nicht auf die Rolle der Aktie bei der Vermögensbildung reduziert werden; es geht durchaus um viel mehr.

Woran aber liegt es, dass sich die deutsche Bevölkerung so schwer mit der Aktie tut? Und wo müsste man ansetzen, damit das Vertrauen in die Aktie und ihre Nutzung durch private Anleger steigt? Hier gibt es sicher viele Faktoren, die in diesem Rahmen nicht abschließend behandelt werden können.

Steuerliche Rahmenbedingungen verbessern

Zunächst einmal diskriminiert das Steuersystem seit Jahren die Aktienanlage gegenüber festverzinslichen Wertpapieren. Aktienerträge werden mit durchschnittlich 48 Prozent besteuert, während festverzinsliche Anlagen nur mit rund 26 Prozent besteuert werden. Grund hierfür ist, dass Aktiengewinne sich aus Unternehmensgewinnen speisen, die bereits auf Ebene des Unternehmens besteuert worden sind. Entsprechend zahlt der Aktienanleger auf einund dieselbe Ertragsquelle zwei Mal Steuern. Bei festverzinslichen Anlagen gibt es hingegen keine vorgelagerten Unternehmenssteuern, die den Ertrag schmälern.

Um die Attraktivität der Aktienanlage zu erhöhen, müssen daher die steuerpolitischen Rahmenbedingungen verbessert werden. Das Deutsche Aktieninstitut hat hierzu bereits Ende 2010 einen Vorschlag vorgelegt, wie das derzeitige System der Abgeltungssteuer reformiert werden kann, um die Diskriminierung der Aktienanlage zu vermindern.

Immer weniger Wertpapierberatung

Zweitens haben sich die Rahmenbedingungen für die Aktien- beziehungsweise Wertpapierberatung in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Banken müssen heute eine Vielzahl von regulatorischen Pflichten (wie Beratungsprotokolle, Geeignetheitsprüfungen, Produktinformationsblätter) erfüllen, bevor sie ihren Kunden überhaupt ein Anlageprodukt anbieten können. Das ist nicht nur kostspielig, sondern beansprucht auch viel Zeit. Diese steht nicht mehr für eine adäquate Beratung zur Verfügung. Außerdem steigen die Haftungsrisiken für die Beratung. Und der Kunde fühlt sich damit bevormundet oder ist wegen der zahlreichen Formalia verunsichert.

Viele Banken haben sich deshalb aus der Beratung zu Aktien und Aktienfonds (fast) vollständig zurückgezogen. Dem Anleger fehlt damit häufig der "natürliche" Zugang zum Aktieninvestment. Mit der fehlenden Beratung durch die Hausbank entfällt für viele Menschen auch eine wichtige Informationsgrundlage. Es ist daher dringend geboten, die Anforderungen an die Wertpapier- und Aktienberatung zu überprüfen. Dabei gilt es, sie so zu gestalten, dass die Beratung in Aktien und Aktienfonds im Sinne des Kunden und mit vertretbarem Aufwand und tragbaren Risiken für die Kreditinstitute erfüllbar sind.

Aktienrisiken vielfach überschätzt

Drittens mangelt es eklatant an ökonomischer Allgemeinbildung. Die Folge ist, dass die Menschen in Fragen der Geldanlage zum Teil stark verunsichert sind. Unzählige Studien zeigen dies auf. Es spricht Bände, wenn etwa die Hälfte der Bevölkerung nicht erklären kann, was ein Investmentfonds ist und was die Inflationsrate ausdrückt.2) Viele Anleger haben zudem zwischen Mitte und Ende der neunziger Jahre erstmals zu Aktieninvestments gegriffen. Sie haben entsprechend in den Folgejahren gleich mehrere drastische Kurseinbrüche erlebt. Diese persönliche Erfahrung wirkt nach und wird in den Familien an die nächste Generation weitergegeben. Sie verfestigt den falschen Eindruck, dass es sich bei Aktien um hochriskante Spekulationsobjekte handelt, von denen man besser absehe. Aktienrisiken werden entsprechend vielfach überschätzt, die Chancen der Aktie oft unterschätzt.

Deshalb ist es wichtig, den Menschen stärker Grundprinzipien der Geldanlage und Wissen über allgemeine ökonomische Zusammenhänge zu vermitteln und ihnen damit die Scheu vor Geldanlageentscheidungen zu nehmen und das Werkzeug dazu an die Hand zu geben. Dies würde helfen, sie für die Aktien- und Aktienfondsanlage neu zu interessieren. Es würde auch helfen, "schlechte" persönliche Erfahrungen besser einzuordnen.

Ökonomie als Schulfach einführen

Daher fordert nicht nur das Deutsche Aktieninstitut seit langem ein Schulfach Ökonomie an allen allgemeinbildenden Schulen. Wer weiß, dass Rendite und Risiko in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, ist einfach weniger anfällig für übertriebene Versprechungen. Und wer das Prinzip der Streuung kennt und versteht, geht mit Anlagerisiken gelassener um und wird im positiven Sinne "mutiger". Das Zielbild sollte der mündige Anleger sein.

Selbstverständlich muss ein Schulfach Ökonomie mehr umfassen als die Themenfelder Geldanlage oder gar nur Aktienanlage. Es muss zuallererst grundlegende ökonomische Zusammenhänge vermitteln und praktische Handreichungen für den Alltag geben. Unser Leben ist - ob man will oder nicht - von der Ökonomie, das heißt täglichen wirtschaftlichen Entscheidungen bestimmt. Auch politische Entscheidungen müssen täglich ökonomische Zusammenhänge berücksichtigen und sind meist selbst hochökonomisch. Nicht umsonst hat Bundespräsident Gauck jüngst "ökonomische Apathie und Unwissenheit" als gefährlich für unsere demokratische Ordnung und den politischen Diskurs bezeichnet - ähnlich wie politische Apathie.3) Die Vermittlung der ökonomischen Grundkompetenz für den mündigen Bürger sollte daher eigentlich selbstverständlich sein. Ein natürlicher Ort dafür ist die Schule.

Breiter Rückhalt in der Bevölkerung

Interessanterweise hat diese Forderung ökonomischer Grundbildung seit Jahren einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung und bei den Schülern selbst. Rund 80 Prozent der Erwachsenen und 70 Prozent der Schüler wünschen sich ein Schulfach Ökonomie.4) Die Tür steht also bei den Nachfragern weit offen.

Bis auf wenige Ausnahmen trauen sich die Kultusministerien aber nicht, hierauf mit einem adäquaten Angebot zu reagieren. Zu groß sind die Auffassungsunterschiede, welchen Stellenwert die Ökonomie im Lehrplan haben sollte, zu groß ist offenbar die Angst vor "ökonomischem Imperialismus". Das Ergebnis ist ein Flickenteppich aus Modellversuchen, gelegentlichem Aufgreifen von ökonomischen Fragen in anderen Fächern wie Geschichte oder Gesellschaftskunde und - in seltenen Fällen - eigenständigen Fächern. Entsprechend fehlt es an ausgebildeten Lehrern mit fundiertem Fachwissen.

Schon allein wegen dieser Gemengelage sollte man von einem Schulfach Ökonomie keine kurzfristige oder gar sofortige Verbesserung erwarten. Es wirkt langfristig - aber wenn es nicht endlich flächendeckend eingeführt wird, wirkt es gar nicht. Auch die ökonomische Bildung der bereits erwachsenen Bevölkerung kann natürlich nur mittel- bis langfristig verbessert werden und sich daher auch nur langfristig in einem aufgeklärteren Anlageverhalten niederschlagen. Da tröstet es fast, dass die Verbesserung der Aktienkultur nicht nur eine Frage einer verbesserten ökonomischen Bildung ist.

Wie beschrieben müssen zum Beispiel auch die steuerlichen Rahmenbedingungen und die Regularien der Wertpapierberatung stimmen, damit ein größeres Interesse an der Aktie auf fruchtbaren Boden fällt. Auch die Frage, wie wir in unserer Gesellschaft die Altersvorsorge organisieren, setzt Anreize in die eine oder die andere Richtung. Hier sind sicher schneller Erfolge zu verbuchen.

Fehlende ökonomische Bildung kein Alibi

Schließlich geht es auch um ein Grundvertrauen in die Kapitalmärkte im Allgemeinen oder den Aktienmarkt im Besonderen. Das Vertrauen in den Finanzmarkt und seine Akteure hat ohne Frage im Zuge der Finanzkrise gelitten. Auch hier kann ökonomische Bildung übrigens förderlich sein, denn es gilt letztlich: Ohne Wissen kein Verständnis. Ohne Verständnis kein Vertrauen. Und ohne Vertrauen kein Investment in die Aktie.

Der Mangel an ökonomischer Bildung oder das Fehlen eines Schulfaches Ökonomie darf daher nicht als Alibi dafür verwendet werden, an anderen Stellen nichts für die Aktienkultur zu tun. Stellschrauben gibt es noch genug. Es ist Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte, an der Wiederherstellung des Vertrauens zu arbeiten und so der Aktienkultur zum Durchbruch zu verhelfen. Die Politik ist dabei ebenso gefordert wie Medien, Banken und börsennotierte Unternehmen. Langfristig aber gilt: Ökonomische Bildung ist nicht alles, aber ohne ökonomische Bildung ist fast alles nichts.

Fußnoten

1) Heinz Nixdorf Stiftung/Bertelsmann-Stiftung, Einstellungen zur sozialen Marktwirtschaft in Deutschland am Jahresanfang 2010, Erkenntnisse aus repräsentativen Trendfortschreibungen.

2) Bankenverband, Finanzwissen und Finanzplanungskompetenz der Deutschen, Seite 4.

3) Eröffnung 20. Bankentag, 9. April 2014, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/ Reden/2014/04/140409-Bankentag-Eroeffnung.html.

4) Bankenverband, Jugendstudie 2012, Seite 23; Bankenverband, Finanzwissen und Finanzplanungskompetenz der Deutschen, Seite 11.

Dr. Christine Bortenlänger , Geschäftsführende Vorständin , Deutsches Aktieninstitut e. V., Frankfurt am Main
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