AGILITÄT

Digitale Transformation bei Versicherungsunternehmen

Petra Weber
Foto: Sopra Steria Consulting

Die wichtigste Fähigkeit für gelebte Kundenzentrierung ist Empathie. An dieser Stelle, aber auch bei der internen Organisation können etablierte Versicherer von Insurtechs lernen, meint Petra Weber. Der klassische Referent für bestimmte Fachthemen sei jedenfalls out. Was die Technik angeht, gehören Robotic Process Automation und Künstliche Intelligenz ganz oben auf die Agenda. Red.

Jeder zweite Bundesbürger (55 Prozent) hat bereits eine Versicherung online abgeschlossen. Bei den Menschen unter 30 liegt der Anteil mit zwei Dritteln (65 Prozent) sogar noch deutlich höher, so das Ergebnis einer Bitkom-Befragung. Auch wenn Versicherungen noch meistens vor Ort bei einem Versicherungsmakler, bei einer Bank oder einer Sparkasse abgeschlossen werden, tun sich mit der wachsenden Bedeutung von Online-Plattformen für die Branche neue Märkte auf - vorausgesetzt, sie schaffen es, ihre Produkte noch stärker vom Kunden her zu denken und die Möglichkeiten digitaler Technologien dafür gewinnbringend einzusetzen.

Der Kunde ist nicht König

Früher - und lange - galt in Marketing und Vertrieb der magische Leitsatz vom "Kunden als König". So eingängig er auch sein mag, er stimmt nicht (mehr): Kunden sind Menschen, die mit Unternehmen auf Augenhöhe miteinander kommunizieren, verhandeln - oder eben Geschäfte machen.

Wäre der Kunde König, wären die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Handelshäusern, Geschäften oder Dienstleistungsunternehmen ihre Lakaien, ihr Hofstaat, ihre Untertanen. Das ist nicht das Bild, das moderne Unternehmen vermitteln wollen, die "Customer Centricity" zu ihrem Leitsatz machen. Sondern hier geht es eher um eine Kultur und ein Konzept, bei dem die Kunden im Mittelpunkt stehen und gleichzeitig der Ausgangspunkt für alle Überlegungen und Planungen sind.

Die wichtigste Tugend für gelebte Customer Centricity ist Empathie, also die Fähigkeit von Unternehmen und Organisationen, sich in ihre Kunden hineinzuversetzen und sich nach ihren Wünschen, Vorstellungen und Erwartungen zu richten: bei der Planung von Produkten, bei der Gestaltung von Distributionswegen - und bei der Kommunikation "auf Augenhöhe".

Die tendenzielle Zunahme von Online-Vertriebsmodellen, die in einem weitgehend gesättigten Markt in der Regel von der Abnahme von Verkäufen im klassischen Versicherungsgeschäft begleitet wird, verlangt aus mehreren Gründen nach mehr Kundennähe.

Von den Insurtechs lernen

Da sind zum einen die Insurtechs, die völlig unbelastet von etablierten Geschäftsmodellen, ohne den technischen Ballast einer historisch gewachsenen Legacy-IT, aber mit den Möglichkeiten moderner Technologien aus der Cloud in den Markt drängen. Sie nutzen Technik, um die Wünsche ihrer Kunden detailliert kennenzulernen - auf Basis vielfältiger Kundendaten. Sie setzen Technik ein, um diese Wünsche zeitnah und direkt zu befriedigen - oft ohne den nennenswerten Einsatz von menschlicher Arbeitskraft.

Klassische Versicherer haben andere Geschäftsmodelle und Strukturen und - noch - andere Zielgruppen, die über traditionelle Vertriebskanäle an die Produkte der Versicherer kommen. Dennoch: Den Druck, ihr Geschäft mit den Mitteln der Digitalisierung zu verändern, gibt es auch hier. Und sie können sich von den Insurtechs durchaus etwas abschauen, in Bezug auf digitale Vertriebsprozesse, bessere Kundendaten und mehr Kundennähe durch Automatisierung sowie flexible, bedarfsorientierte Produkt- und Serviceangebote.

Auch die interne Organisation von Insurtechs kann Vorbild für die traditionelle Branche der Versicherer sein. Dazu gehören

- flache Hierarchien,

- agile Organisationen und flexible Teams,

- eine offene und transparente Kommunikation,

- eine Fehlerkultur, zu der Misserfolge ebenso gehören wie Meilensteine und Durchbrüche.

"Referenten" sind nicht mehr zeitgemäß

In der Summe befähigen diese Strukturen Unternehmen dazu, schneller zu sein, wenn es darum geht, sich auf veränderte Kundenbedürfnisse und Märkte einzustellen. Klassische Versicherungshäuser haben dagegen noch immer viel zu häufig "Referenten" als Experten für bestimmte Bereiche - mit festem Jobprofil, Gehaltseinstufung und Entwicklungsgraden. Sie sollten sich umstellen.

Role Models sind Insurtechs nicht zuletzt auch wegen ihrer Kundenzentrierung. Dafür nutzen sie im Wesentlichen zwei Ansätze:

1. Kontextbasierte Produkte mit direktem erlebbaren Nutzen, zum Beispiel eine Skiversicherung direkt am Lift, und Angebote auf branchenfremden Marktplätzen, etwa eine Garantieversicherung in Elektronikfachmärkten.

2. Zudem machen sie ihren Kunden den Abschluss von Versicherungen direkt über digitale Medien sehr einfach. Die administrativen Prozesse rund um den Vertragsabschluss sind auf ein Minimum reduziert.

Digitalisierung hilft, die Kunden besser zu kennen

Erwartungen, Bedürfnisse und Wünsche der Kunden sollten auch bei traditionellen Versicherern den Ausgangspunkt für die Gestaltung und das Angebot von Versicherungsprodukten bilden. Das klingt selbstverständlicher, als es ist, denn es verlangt von den Unternehmen nicht weniger als die durchgehende Digitalisierung ihrer Prozesse, flexible Organisationsstrukturen und angepasste Kundenschnittstellen. Nur dann und auf Basis aussagefähiger Kundendaten werden sie heutzutage in der Lage sein, ihre Kunden zu kennen und bedarfsgerecht zu agieren.

Genau damit tun sich die Unternehmen der Assekuranz aber schwer. Viele Versicherer haben es noch nicht oder nur unzureichend geschafft, ihre im traditionellen Geschäft sehr ausgeprägte Kundennähe und das profunde Wissen ihrer Berater über ihre Kunden aus dem analogen ins Omnikanal-Geschäft zu übertragen. Dazu gehört, die in den digitalen Kanälen durchaus unterschiedliche Customer Journey genau nachzuvollziehen und daraus (digitale) Angebote und aktive Kontaktansätze zu entwickeln, die zu den modernen Kanälen und Kunden passen. Kurz: Es geht darum, dass die Versicherer ihre Hausaufgaben erledigen, die die Digitalisierung an sie stellt.

Für die vielen organisatorischen und inhaltlichen Veränderungen, die immer auch mit einem Kulturwandel verbunden sind, bieten sich auch für Versicherer neue Organisationsformen an. Klassischerweise arbeiten diese veränderten Organisationen neben den bestehenden Einheiten und mit den agilen und hierarchiearmen Methoden von Start-ups, um Prozesse, Formate und Produkte zu erneuern.

Allianz Direct oder nexible der Ergo-Gruppe sind Beispiele dafür, wie über innovative Organisationen schnell neue Erfahrungen mit digitalen Angeboten etwa in den Bereichen Kfz-Versicherungen oder Hausrat und Haftpflicht gemacht und anschließend an die Mutterorganisationen weitergegeben werden können.

Technik im Fokus der Customer Centricity

Um es klar zu sagen: Das Thema Customer Centricity und alle damit verwandten Marketingbegriffe wie Customer Experience, Customer Engagement oder Customer Journey beziehen sich zunächst auf digitale Technologien und die Möglichkeiten digitaler Vertriebs- und Kommunikationskanäle. Aber es gibt auch eine Rückkopplung mit dem analogen Geschäft, denn mehr Kundennähe ist auch sinnvoll für das analoge Business, das Ladengeschäft oder hybride Mischformen wie das Click & Collect, bei dem man im Internet bestellte Waren in der Filiale abholt. Customer Centricity liefert die Anforderungen an die vollständige Integration der digitalen und analogen Kanäle, denn der Kunde unterscheidet diese auf seiner Reise nicht.

Die "Customer Centricity", um die es in diesem Beitrag schwerpunktmäßig geht, ist in zweierlei Bereichen wichtig: erstens direkt an der Kundenschnittstelle und zweitens im Back Office. Um sie überhaupt zu erreichen und produktiv nutzen zu können, brauchen Unternehmen durchgehend digitale Prozesse mit qualitativ hochwertigen, durchgehend digital vorliegenden Kundendaten, denn nur so können Unternehmen einen Omni-Channel-Vertrieb über moderne digitale Kommunikationsmittel und -kanäle und ohne Medienbrüche bieten, der analoge Touchpoints integriert. Umgekehrt funktioniert das nicht.

Für Customer Centricity spielen über die datengetriebenen Omni-Channel-Modelle hinaus zwei Technologien auch in der Versicherungsbranche eine zunehmend wichtige Rolle und sollten daher auf der Bucket-List der einzuführenden Technologien ganz oben stehen: Robotic Process Automation (RPA) und Künstliche Intelligenz (KI), die längst auf dem Weg sind, als virtuelle Assistenten und intelligente Chatbots die Kundenkommunikation in jeder Dienstleistungsbranche zu verändern.

Robotic Process Automation und KI im Fokus

Im Grunde genommen ist RPA eine Technologie, bei der eine Software sich so verhält, als säße ein menschlicher Mitarbeiter vor dem Rechner, also eine Art virtueller Roboter, der regelbasierte, strukturierte Daten verarbeitet. Das ist weder kreativ noch sonderlich flexibel, kann aber menschliche Arbeitskraft entlasten und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern so Zeit für qualifizierte Tätigkeiten geben.

RPA kann etwa beim eher monotonen Erfassen strukturierter Daten oder bei der Verknüpfung von Daten unterschiedlicher Provenienz helfen. RPA ist keine Technologie für die Kundenschnittstelle, aber für die Prozesse, die sich unmittelbar an den Kundenkontakt anschließen. So gesehen ist diese Technologie ein wertvoller Helfer im Back Office.

Sie kann auch ein systembedingtes IT-Problem lösen helfen: Die Barrieren, die klassische Legacy-Systeme mit fehlenden Schnittstellen zu modernen Technologien in den Weg stellen, können über RPA zumindest teilweise überwunden werden, weil sich so Daten aus dem einen in die anderen Systeme im Hintergrund und ohne den Einsatz menschlicher Arbeitskraft sehr viel schneller übertragen lassen. In diesem Sinne ist RPA auch eine Brückentechnologie zwischen Legacy und moderner IT.

Künstliche Intelligenz (KI) wird, da sind sich alle Experten einig, die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, fundamental verändern. Dabei hat KI mit Intelligenz nur wenig zu tun: KI denkt nicht, KI rechnet - aber das rasend schnell und zuverlässig und, mit den richtigen Anweisungen gefüttert und trainiert, sehr gewinnbringend. KI unterstützt Unternehmen aller Branchen, riesige Datenmengen in Sekundenschnelle nach brauchbaren Daten zu durchsuchen, Muster in ihnen zu erkennen und auf der Basis dieser Erkenntnisse Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten.

Die Erwartungen an Künstliche Intelligenz sind hoch: Sie soll bis 2020 bereits mehr als 20 Prozent der Wertschöpfung ausmachen, heißt es bei Crisp Research, und einer Studie im Auftrag des BMWI zufolge allein im produzierenden Gewerbe in Deutschland eine zusätzliche Bruttowertschöpfung in Höhe von 32 Milliarden Euro erzeugen. Wenige Technologien haben so lange gebraucht wie KI, um im Mainstream anzukommen, aber kaum eine hat so große Erwartungen und Hoffnungen geweckt wie sie.

Den Kunden mit KI transparent entgegentreten

Künstliche Intelligenz wird auch die Versicherungsbranche quer durch alle Prozesse unterstützen: in der Kundenkommunikation, im Back Office bei der Betrugserkennung oder bei der Bedarfsermittlung des Vermittlers. Wenn Robotic Process Automation die erste Stufe der Automatisierung ist, wird die Kundenkommunikation in der nächsten Stufe durch KI intelligenter, sodass die Kunden am anderen Ende welcher Leitung auch immer im Idealfall gar nicht mehr merken, wenn sie mit einem Chatbot kommunizieren. Noch ist es wichtig, den Kunden mit Künstlicher Intelligenz transparent entgegenzutreten, damit sie sich nicht getäuscht fühlen.

Noch ist es im Sinne von Customer Centricity wichtig, ihnen die Wahl zu lassen, ob sie sich von einem Bot oder einem menschlichen Berater helfen lassen wollen. Allerdings wird sich die Akzeptanz von Chatbots dramatisch erhöhen, wenn der Service dahinter stimmt, also die Wartezeiten kürzer und die Policen besser werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Versicherer die auf diese Weise frei werdenden Kapazitäten ihrer qualifizierten Berater nutzen, um in sensiblen Bereichen, bei denen es etwa um Krankheit oder gar Tod geht, eine persönlichere Ansprache zu gewährleisten und individuellere Angebote zu unterbreiten als bisher. Mehr Customer Centricity geht nicht.

Petra Weber, Manager Insurance, Sopra Steria Consulting SE, Hamburg
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Wege zur Customer Centricity Drei Schritte auf dem Weg zu mehr Kundennähe sind für Versicherer essenziell:1. Know your Customer: Der erste Schritt ist immer eine Analyse des Ausgangspunkts. Jeder Versicherer muss wissen, wer seine Kunden sind und wo ihre Bedürfnisse liegen. Das klingt nicht nur selbstverständlich, sondern auch einfacher, als es ist. In vielen Versicherungsunternehmen, in denen Leistungsangebote im Vertrieb und Service produktorientiert und nicht kundenbezogen entstanden sind, bedeutet aber genau das schon einen Positionswechsel. Das gelingt am besten mit einem Design-Thinking-Workshop, der zwei Prinzipien in den Mittelpunkt stellt: lösungsorientiertes Denken vom Kunden her und Arbeiten frei von Hierarchien.2. Im zweiten Schritt steht die Entwicklung einer Customer Journey an. Dazu gehört die Analyse von Kundengruppen und ihren Touchpoints zum Unternehmen. Daraus lassen sich Omni-Channel-Strategien für die Kundenansprache entwickeln, die alle Zugänge berücksichtigen und mit ihren jeweiligen Eigenarten in das Gesamtsystem integrieren. Wichtig für einen weichen Übergang in die Digitalisierung ist die Einbindung auch der bisherigen und klassischen Vertriebswege. Sie sind im Digitalzeitalter (noch) nicht überflüssig, sondern im Gegenteil für bestimmte Kundengruppen obligatorisch.3. Gleich am Anfang gilt es, für jeden einzelnen Touchpoint und für jede Omnikanal-Strategie, die daraus abgeleitet wird, Erfolgsfaktoren und Kennzahlen (KPIs) zu definieren. So lässt sich der Erfolg jeder einzelnen Maßnahme dokumentieren und belegen. Das ist nicht nur für die Akzeptanz von Transformationsprojekten gegenüber der Geschäftsleitung wichtig, sondern auch für den Fortschritt des Projekts selbst, denn es versetzt in die Lage, Customer-Contact-Strategien zu orchestrieren und unterwegs zu verändern, wenn das notwendig werden sollte.
Petra Weber , Manager Insurance, Sopra Steria Consulting SE, Hamburg

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