Bei der Digitalisierung wird oft zu kurz gesprungen

Christoph Schmiedinger , Foto: borisgloger consulting

Bei der Digitalisierung reicht es nicht aus, kurzfristig Trends zu bedienen, sagt Christoph Schmiedinger. Für einen grundlegenden digitalen Wandel ist es deshalb nicht wichtig, Customer Experience, Banking-Prozesse und Kernbanken- beziehungsweise Backend-Systeme anzugehen. Sondern es gilt, zunächst eine minimale Ausbaustufe über alle drei Bereiche hinweg umzusetzen, die dann sukzessive ausgebaut werden können. Gelingen kann der Wandel über Leuchtturmprojekte, Spinn-offs oder eine radikale Transformation. Red.

Die Digitalisierung hat alle Wirtschaftsbranchen und Industriezweige fest im Griff. Aktuelle Geschäftsmodelle verlieren an Tragfähigkeit, Kundenbedürfnisse und -erwartungen wandeln sich. Das trifft besonders die Finanzwelt, hier ist für die tradierten Bankhäuser der Konkurrenzdruck durch Fintechs besonders hoch. Start-up-Alternativen wie N26, Solaris Bank oder Kontist gewinnen mehr und mehr die Oberhand. Die traditionellen Banken kämpfen mit Herausforderungen an mehreren Fronten: Neue Geschäftsmodelle und veränderte Kundenerwartungen bedrohen ihre Marktposition und gleichzeitig bringen veraltete Organisationsstrukturen hohen Verwaltungsaufwand und lange Entscheidungszyklen mit sich, die sie ausbremsen.

Noch haben nicht alle Bankhäuser erkannt: Für wirklich innovative, neue Produkte müssen sie sich von ihren starren Strukturen verabschieden und aufhören, nur kurzfristig Trends zu bedienen. Stattdessen ist es notwendig, eine echte, nachhaltig wirksame Digitalisierungsstrategie zu entwickeln.

Digitalisierung quer über alle Säulen

Alle Maßnahmen fußen dabei auf drei Säulen und greifen idealerweise ineinander: Customer Experience, Banking Prozesse sowie Kernbanken- und Backend-Systeme. Bei der konkreten Umsetzung der Maßnahmen ist es wichtig, dass nicht zunächst eine einzige Säule komplett digitalisiert wird und dann erst die nächste. In Anlehnung an den Ansatz des "Minimum Viable Product" wird dazu zunächst eine "Minimum Viable Digitalization" gebraucht: die Digitalisierung quer über alle drei genannten Bereiche in einer ersten minimalen Ausbaustufe. Ist diese erste Ausbaustufe vollzogen, kann diese nun schrittweise und gleichmäßig über die drei Säulen "vertikal" ausgebaut werden.

1. Im Bereich Customer Experience lassen sich die schnellsten Digitalisierungserfolge erzielen, da Bankkunden mit den jeweiligen Lösungen und möglichen neuen Geschäftsmodellen direkt in Kontakt kommen - und sie damit automatisch auch erproben. Das ist gerade der Bereich, in dem die etablierten Banken ganz genau auf die Fintechs achten sollten - denn diese betrachten das Prinzip der frühzeitigen Integration des Kunden als selbstverständlich. Ihnen gelingt es, ein frisches Nutzererlebnis mit einfach verwendbaren Produkten wie Online Banking Dashboards zur Kategorisierung von Einnahmen und Aus gaben in Form eines Haushaltsbuchs zu schaffen.

2. Die fortschreitende Digitalisierung bestimmt automatisch die zweite Säule "Banking-Prozesse": Banken bestehen nur dann erfolgreich am Markt, wenn sie ihre Prozesse immer weiter automatisieren und versuchen, unnötige Absprachen und Einzelhandlungen zwischen Angestellten/Abteilungen zu verringern. Oft ist es dafür nötig, gesamte Abläufe völlig neu zu überdenken und eventuell auch zu verwerfen. Das betrifft etwa Kreditentscheidungen. Basierend auf vergangene Umsätze können Freigaben oder Ablehnungen mit optimierten Prozessen automatisiert erfolgen.

3. Bei diesen Vorgängen unterstützt der dritte Bereich, der die Kernbanken- und Backendsysteme umfasst. Da die gesetzlichen Anforderungen an das Bankwesen sich bis in die IT-Systeme erstrecken, fordert diese Säule häufig am meisten heraus. Die engmaschigen und oft weit verzweigten Systeme lassen Änderungen nur mühsam und langsam zu - der Markt allerdings verlangt Schnelligkeit und Flexibilität. Um den Ansprüchen modernen Bankings gerecht zu werden, braucht es neue, modulare und anpassungsfähige Technologien statt komplexer und starrer IT-Systeme.

Die meisten Banken fokussieren sich bei ihren Digitalisierungsstrategien nur auf einen, maximal zwei Bereiche. Das ist zu kurz gedacht und zeigt nur einen flüchtigen Effekt. Nur wer versteht, dass Digital Banking von Anfang bis Ende neu durchdacht werden muss, kann sich wirklich auf die Zukunft ausrichten. Aber: Strategie allein reicht nicht.

Agile Haltung und agile Methoden

Alles beginnt damit, den passenden Fokus sowie das richtige Ziel für eine erste Lösung zu definieren. Diese wird dann mit einem oder mehreren cross-funktionalen Teams angestrebt. Ob innerhalb dieses Rahmens Software entwickelt wird, organisatorische Änderungen anfallen oder beides gleichzeitig, spielt keine Rolle - das beeinflusst lediglich die fachliche Zusammensetzung der Umsetzungsteams.

Bei allen Digitalisierungsbestrebungen muss berücksichtigt werden, dass nicht nur der Kunde sowie die veränderten Marktanforderungen zählen - mit etablierten Top-Down-Arbeitsweisen kann eine nachhaltige Digitalstrategie nie bewältigt werden. Für eine erfolgreiche Umsetzung muss das Management ein agiles Führungsverständnis entwickeln und seine Mitarbeiter konsequent einbeziehen. Konkret: Im Unternehmen ist ein echter Kulturwandel nötig.

Bevor es daher an die Planung und Umsetzung der Digitalstrategie gehen kann, muss sich das C-Level klarwerden, dass alle bisherigen Annahmen über Arbeitsweisen, Technologien und die Herangehensweise an die Produkt- und Serviceentwicklung überdacht werden müssen. Gleichzeitig braucht es eine Antwort auf die Frage: "Was wollen wir mit einem Wandel überhaupt erreichen?" Diese Vision muss dann ins gesamte Unternehmen transportiert werden und markiert wie eine Art Leitstern die Richtung, in die sich das Unternehmen entwickeln möchte. Gleichzeitig ist sie aber kein Endpunkt, sondern eher eine Marschroute, bei der auch immer wieder Kurskorrekturen nötig sind.

Eine digitale Transformation geht dabei Hand in Hand mit einer agilen Arbeitsweise, denn nur so lassen sich die Herausforderungen effektiv bewältigen und Produkte schneller entwickeln. Letztlich fußt die rasante technologische Entwicklung der vergangenen Jahre auf Methoden wie Scrum und Kanban, was keineswegs heißt, dass diese nun im gesamten Unternehmen für alle Abläufe obligatorisch sind. Agilität führt jedoch mit seinen interdisziplinären Teams und dem neuen Verständnis von hierarchielosen Arbeiten zu einer neuen Art von Führung und Haltung. Werte wie Mut, Offenheit, Respekt, Commitment und Transparenz sind Basis davon. Es geht also nicht allein um die Veränderung von Entwicklungsprozessen für neue Produkte und Services, sondern um ein Zusammenspiel von agiler Haltung und agilen Methoden. So entstehen schnell die ersten Prototypen der Minimum Viable Digitalization, die von Anwendern getestet und anhand des Feedbacks weiterentwickelt werden können.

Gerade hier sind Fintechs den etablierten Banken weit voraus: Durch die insbesondere am Anfang sehr überschaubare Anzahl von Mitarbeitern sind die internen Entscheidungswege kurz und es existiert kein hierarchisches System. Die vorhandenen Mitarbeiter finden sich in multifunktionalen Teams zusammen und verantworten die Produktentwicklung end-to-end weitgehend selbstorganisiert. In ihren Arbeitsabläufen digitalisieren und automatisieren sie so viel wie möglich. Dadurch sind sie mit ihren Produkten schneller am Markt und näher am Kunden und seinen sich ständig wandelnden Bedürfnissen. Feedback kann zeitnah umgesetzt werden.

Leuchtturm, Spin-off oder doch radikal?

Die Wege zur Vision sind vielfältig: Sie unterscheiden sich darin, wie radikal die Veränderung gestaltet wird und welche Wirkung erzeugt werden soll. Drei Herangehensweisen gibt es bisher: Einzelbeziehungsweise Leuchtturmprojekte, Spin-offs beziehungsweise Digital Labs und radikale Transformationen. Auf der Achse von links nach rechts gesehen, zeigen diese drei Ansätze den Radikalitätsgrad einer Transformation an. Bei der Frage, welcher Ansatz zur Anwendung kommt, gibt es kein Richtig oder Falsch. Die Wahl ist abhängig vom Kontext des Unternehmens und vom Digitalisierungsdruck der Branche. Diese Entscheidung ist aber nicht fix, sie kann im Laufe der Zeit auch an aktuelle Gegebenheiten angepasst werden. Begonnen wird in der Regel mit einem Leuchtturmprojekt. Mit zunehmender Erfahrung werden die Vorgehensweisen radikaler. Das hängt auch davon ab, wie schnell und in welchem Ausmaß die Transformation erfolgen soll.

Da Bankunternehmen bereits stark unter Druck stehen, kommen für sie eher Ansätze im rechten Bereich in Frage, also radikalere Spin-offs oder komplett radikale Transformationen. Während die ING Group sich für die radikale Variante entschieden hat, starteten die Commerzbank und Raiffeisen Bankengruppe (RBG) zurückhaltender, ziehen aktuell aber das Tempo an.

Jeder Ansatz hat Vor- und Nachteile. Während sich mit einem Einzel- beziehungsweise Leuchtturmprojekt im Rahmen eines klar abgegrenzten Vorhabens sowohl neue Arbeitsweisen als auch neue Technologien - oder eine Kombination daraus - einfach aus probieren lassen und dabei Platz für Fehler und Experimente ist, ist der Effekt gleichzeitig relativ begrenzt. Die Transformation breitet sich nur langsam aus. In großen Unternehmen werden Leuchtturmprojekte in mehreren Organisationseinheiten gleichzeitig gestartet. Zwar erhöht das die Ausbreitungsgeschwindigkeit, es birgt aber die Gefahr, dass die jeweiligen Ansätze stark variieren und nebeneinander herlaufen, statt von den verschiedenen Erfahrungen zu profitieren. Abhilfe schaffen Plattformen, auf denen sich die Projektbeteiligten austauschen können. Problematisch ist, dass die bestehenden Strukturen im Unternehmen nicht hinterfragt werden und die beteiligten Mitarbeiter in vielen Fällen ihre Zeit nicht ausschließlich dem Leuchtturmprojekt widmen können, sondern zusätzlich noch das Tagesgeschäft erledigen müssen. Fehlender Fokus ist jedoch Gift für alle Projekte im Allgemeinen.

Die progressivere Variante der Transformation ist der Aufbau einer eigenen Einheit, in der neue und innovative Lösungen entwickelt werden. Eine Möglichkeit, um diese Einheit unabhängig und autonom zu gestalten, ist die Gründung einer eigenen Gesellschaft mit einer neu entworfenen Linienorganisation, in der von Anfang an eine flache und von lateraler Führung geprägte Struktur vorherrscht. Gleichzeitig bleibt das Spin-off/Digital Lab ein abgegrenztes Vorhaben, in dessen Rahmen experimentiert und gelernt werden kann. In einer neuen Einheit mit einem klaren Auftrag entsteht außerdem die notwendige Fokussierung, da Mitarbeiter dem Bereich neu zugeordnet werden.

Allerdings lauert hier auch die Gefahr, dass sich eine "Parallelorganisation" entwickelt, die sich schrittweise vom Mutterunternehmen entfernt oder es zu Konflikten aufgrund der veränderten Arbeitsweise und des Mindsets sowie fehlender internen Kommunikation kommt. Die Herausforderung besteht darin, diese Konflikte rechtzeitig zu identifizieren, anzusprechen und zu lösen, da sonst die Isolation oder sogar Abstoßung vom Mutterunternehmen droht. Ein Spin-off oder Digital Lab darf daher nie ohne eine Strategie für die Wiederzusammenführung entstehen. Wie auch immer die konkrete Ausgestaltung aussieht: Um eine Transformation des gesamten Unternehmens zu erreichen, können nicht auf unbegrenzte Zeit parallele Strukturen erhalten werden.

Die Big-Bang-Variante der Transformation ist die radikale und damit völlige Reorganisation des Unternehmens. Gerade bei großen Organisationen sollte diese aber immer nur in mehreren Schritten erfolgen, da ein tiefgreifender Umbau der Linienorganisation und der Geschäftsprozesse während des laufenden operativen Betriebes abläuft. Während andere Unternehmen ihren Transformationsweg jahrelang beschreiten, passiert hier der Umbruch in kürzester Zeit. Das kann zu einem großen Wettbewerbsvorteil gegenüber Mitbewerbern führen. Meist wird bei diesem Ansatz der Tag X festgelegt, an dem der Umbruch erfolgt - sei es die Änderung der Linienstruktur, die Zusammenstellung von Teams oder die Position der Führungskräfte. Die Gefahr lauert hier im Detail: Es wird Dinge geben, die eine Zeit lang auf der Strecke bleiben und unmittelbar vor dem Neubeginn wird es zu großer Verunsicherung kommen. Daher muss die Führung darauf achten, in dieser Zeit transparent zu kommunizieren - ansonsten droht im schlimmsten Fall eine starke Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern und sogar eine erhöhte Fluktuation.

Auch agile Methoden erfordern Struktur

Ganz egal, welcher Ansatz für die Transformation eines Unternehmens gewählt und verfolgt wird: Nichts geht ohne Struktur! Für die Gestaltung des Wandels sollten cross-funktionale Change Teams, sogenannte "Transition Teams" eingesetzt werden, die nach agilen Grundsätzen die Organisationsentwicklung in Richtung der Vision vorantreiben. Wichtigste Voraussetzung für sie ist, dass sie vom Topmanagement uneingeschränkten Handlungsspielraum für die Gestaltung der zukünftigen Organisation und des damit einhergehenden Wandels bekommen. Je radikaler der Transformationsansatz, desto stärker muss das Topmanagement selbst eingebunden sein und sowohl Vision als auch klar definierte Rahmenbedingungen festlegen, beispielsweise die Benennung bestimmter Organisationsstrukturen, die bestehen bleiben müssen.

Die Mitglieder der "Transition Teams" können dabei aus den unterschiedlichsten Bereichen kommen - sei es Produktentwicklung, aber auch aus der Strategie, Personalentwicklung oder den operativ arbeitenden Einheiten. Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Team ist aber nicht, dass man den Wandel nur positiv sieht - wichtig ist ein stets hinterfragender Diskurs im Team. Wie jedes agil arbeitende Team bricht auch das Transition Team die Vision in kleinere Arbeitspakete auf und priorisiert diese in einem Transition Backlog. Wichtig ist der Fokus auf die Lieferung von MVPs (Minimum Viable Products), also von konkreten ersten Ergebnissen, auch wenn nur ein kleiner Teil einer größeren Lieferung bearbeitet wird. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die frühzeitige Einbindung der Führungskräfte und des Topmanagements in die inhaltliche Gestaltung (beispielsweise durch Workshops) und als Unterstützer bei der Lösung von organisatorischen Hindernissen. Die inhaltliche Arbeit eines Transition Teams ist dabei offen - in jedem Unternehmen muss individuell entschieden werden, welche Arbeitspakete für die angestrebte Vision nötig sind.

Auch wenn jeder Transformationsweg eine Herausforderung für alle Beteiligten darstellt und die angestrebte Veränderung einen kompletten internen Umbau erfordert, sichern die Resultate die wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit der Unternehmen sowie Kunden- und auch Mitarbeiterzufriedenheit. Und mit Willen, Konsequenz und dem entsprechenden neuen Mindset können alle Hürden gemeistert werden.

Christoph Schmiedinger, Senior Management Consulting, borisgloger consulting GmbH, Frankfurt am Main

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