DIGITALE PROZESSE

Fantasie statt Schicksalsergebenheit

Bertram Theilacker, Foto: Finastra

Das zweite Quartal war historisch. Zumindest brach das Bruttoinlandsprodukt noch nie stärker ein als die 10,1 Prozent in den Monaten April bis Juni. Die Arbeitslosigkeit stieg im Juli um 0,1 Prozentpunkte auf 6,3 Prozent. Die Inflation ist im gleichen Monat auf minus 0,1 Prozent gesunken. Die Aussichten könnten also wahrlich besser sein. Und doch sind die verantwortlichen Führungskräfte optimistisch. Der Ifo-Geschäftsklimaindex kletterte im Juni auf 90,5 Punkte, nachdem er im Mai noch auf historisch niedrige 79,7 Punkte abgestürzt war. Der Autor sieht die Gründe für diesen Optimismus vor allem in den dezentralen Wirtschaftsstrukturen der Bundesrepublik, die sich sehr viel schneller erholten als zentrale Systeme. Der Mittelstand habe kreativ und innovativ auf die Herausforderungen reagiert und sich einmal mehr als Nukleus der Stabilität erwiesen. Aber er mahnt auch dringend Verbesserungen an: So gehöre zu den wichtigsten Aufgaben des Staates die Schaffung einer modernen und wettbewerbsfähigen Infrastruktur und eine dem digitalen Zeitalter angemessene Bildungsoffensive. Red.

Die Wirtschaft leidet unter den Folgen der Corona-Krise. Doch vor allem kleine und mittelständische Unternehmen reagieren sehr kreativ und zukunftsgerichtet auf die aktuellen Herausforderungen. Nicht nur in Sachen Digitalisierung könnte sich SARS-CoV2 für diese Betriebe sogar als Innovationsbeschleuniger erweisen.

Wir hörten und lasen in den vergangenen Wochen viel von den gefürchteten "Schwarzen Schwänen", also von sehr unwahrscheinlichen Ereignissen, die aber - sollten sie dennoch eintreten - extreme Konsequenzen haben. Und extrem waren die Folgen in der Tat: Das öffentliche Leben kam weitgehend zum Stillstand, Unternehmen fuhren ihre Produktion herunter, Geschäfte und Restaurants mussten von heute auf morgen schließen, die Zahl der Kurzarbeiter in Deutschland explodierte förmlich. Dabei war es kein "Schwan", der den Lockdown auslöste, sondern ein winziges, nur unter modernen Elektronenmikroskopen sichtbares Halblebewesen aus dem fernen China - ein Corona-Virus, das bald die Bezeichnung SARS-CoV2 trug. Mitunter schien es, als habe ein Moskito einen Elefanten gestochen und der wäre nach kurzer Zeit kollabiert. Seit einigen Wochen aber werden die verhängten Restriktionen gelockert, Grenzen nach und nach geöffnet, und das Wirtschaftsleben wird wieder hochgefahren.

Viele der für das Firmenkundengeschäft verantwortlichen Banker fragen sich nun, was da in den nächsten Wochen auf ihre finanzierenden Institute zukommt. Ja, die Zahl der Insolvenzen dürfte steigen und es wird zu Kreditausfällen, zu deutlichen Kreditausfällen, kommen. Und gerade viele KMU werden wohl durch uneinbringliche Forderungen gegenüber "Großen" geschädigt.

Aber es werden sich - einmal mehr - auch die Stärken der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) offenbaren. Manche von ihnen werden womöglich gestärkt durch den "Corona-Effekt" aus der Krise hervorgehen, zuverlässig begleitet von ihren mittelständischen Partnern, den Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken.

"Too small to give up"

Dass es in Deutschland diese klassischen KMU-Finanzierer gibt, die aufgrund ihrer eigenen mittelständischen Struktur die Chancen und Herausforderungen dieser Unternehmen sehr gut abschätzen können, trägt sicher zur Stabilität bei, die der Mittelstand gerade in Krisenzeiten der deutschen Wirtschaft gibt. Genau dies sollte die Regulatorik auch immer wieder bedenken! Der robuste Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft - das wird sich einmal mehr zeigen.

Für KMU gilt eben nicht die Devise "Too big to fail" und damit die Aussicht: Der Staat (und somit der Steuerzahler) wird's schon richten. Nein, für KMU gilt durch die Bank das Motto: "Too small to give up". Und diese Erkenntnis setzt unglaubliche Dynamik und Kreativität frei. In der ersten Phase des Corona-Schocks war auch für kleine und mittelständische Unternehmen gezieltes Krisenmanagement unabdingbar: weitgehende Kostenminimierung, Tilgungserleichterungen, Steuerstundungen, staatliche Hilfen, und wenn keine andere Möglichkeit blieb - Kurzarbeit für die Beschäftigten.

Wer sich in den vergangenen Wochen bei kleinen und mittelständischen Unternehmern einmal umhörte, ja, der hört da und dort Existenzangst. Aber überwiegend war nach einer langen sehr guten wirtschaftlichen Phase mit deutlichen Gewinnen der Stolz mancher Chefs zu vernehmen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eben nicht in die Kurzarbeit schicken zu müssen. Das Durchhalten - selbst bei verminderter Arbeit - hat seinen Grund: In Zukunft werden sie genau diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voll motiviert wieder brauchen, wenn die Krise überwunden ist.

Nicht zuletzt diese Solidarität macht die Stärke der KMU aus. In der Krise rückt man zusammen; das ist anders als in vielen Großkonzernen. Die in der Vergangenheit gesammelten Kräfte werden nun eingesetzt.

Solidarität und Flexibilität

Schon während der akuten Corona-Krise agierten zahlreiche kleine und mittelständische Betriebe nach dem gesunden Motto "Fantasie und Aufbruch statt Schicksalsergebenheit". Es gibt eine große Zahl von Betrieben, die kurzfristig ihre Produktion umstellten, die das produzierten, was in der Krise gefragt war. Zum Beispiel Acrylglasscheiben als Infektionsschutz. Not macht erfinderisch. Und plötzlich akquirierten diese Unternehmen ganz neue Kunden: Arztpraxen, Apotheken und Behörden. Mit solchen Produktionsumstellungen kompensierten manche KMU teilweise ihre Ausfälle im Kerngeschäft und erwirtschafteten einen Deckungsbeitrag, der ihnen half und hilft. Andere wiederum intensivierten ihr Onlinegeschäft und bauten es zu einem zweiten Vertriebsweg aus. Restaurants stellten auf Abhol- und Lieferservice um. Das alles waren sicher größtenteils kurzfristige Maßnahmen, um die Krise zu überstehen. Sie haben aber auch dazu beigetragen, die Solidarität und Kundenbindung zu stärken. Kunden und Anbieter entdeckten gleichermaßen die Vorteile einer neuen Regionalität, Corona modifiziert die Globalisierung und verändert Lieferketten.

Die Corona-Krise hat nicht nur Versandkonzernen hohe Umsätze beschert, sondern auch das lokale und regionale Wirgefühl gestärkt. All diese Aktivitäten konnten und können die "Corona-Schmerzen" der Wirtschaft nicht vollends kompensieren, aber doch mildern und ein Zeichen setzen. Und weil fünfzig Prozent der Wirtschaft Psychologie ist (Alfred Herrhausen), ist das ein gutes Zeichen! Nicht billige Bedingungen kurbeln bei uns die Wirtschaft an, sondern Perspektive und Nachfrage.

Die "schöpferische Zerstörung"

Die Pandemie ist noch nicht überwunden und an vielen Enden der Welt brennt es noch lichterloh, viele Wissenschaftler diskutieren durchaus kontrovers über das Risiko einer "neuen Welle". Und wir alle hoffen auf Impfstoff und Medikamente. Doch das Leben in Deutschland hat sich - sieht man von geringen Einschränkungen und Auflagen einmal ab - fast schon wieder normalisiert. Bedeutet das für die Wirtschaft, jetzt einfach die Resettaste zu drücken und da weiterzumachen, wo wir im März aufgehört haben?

Wer so denkt, dem sollte man ein bekanntes Zitat von Winston Churchill entgegenhalten: "Never waste a good crisis." Dass Krisen stets auch Chancen bergen, darf sicher als Binsenweisheit bezeichnet werden. Dennoch trifft diese Erkenntnis zu. Und je anpassungsfähiger ein Unternehmen ist, desto stärker kann es künftig agieren. Viele Unternehmen erkennen, dass es nicht nur um Schadensbegrenzung, sondern um Neuausrichtung geht.

Gut möglich, dass wir in den vergangenen Wochen zu häufig an den Publizisten und Börsenhändler Nicholas Taleb dachten - den Autor des Buches The Black Swan - und zu wenig an den Volks- und Sozialwissenschaftler Joseph Alois Schumpeter. Von Schumpeter stammt die Theorie der "schöpferischen Zerstörung", also die Offenheit gegenüber Veränderungen und die Abkehr von althergebrachten Prozessen und Strukturen. Nur der Mut zur "schöpferischen Zerstörung" ermöglicht nach Ansicht Schumpeters Innovationen, technischen Fortschritt und Wachstum.

Jetzt, nachdem die akute Corona-Krise überwunden scheint, beginnt für die KMU nach dem Krisenmanagement der vergangenen Wochen sozusagen das Chancen-Management. Was in der akuten Phase der Krise vielfach noch Improvisation war, kann mehr und mehr professionalisiert werden. Corona wird Transformation beschleunigen, Konnexität vermindern und Komplexität erhöhen.

"Viele Unternehmen sind plötzlich zur Digitalisierung gezwungen. Sie probieren Homeoffice und virtuelle Zusammenarbeit aus, etablieren in Zeiten geschlossener Läden einen digitalen Vertrieb und ersetzen papierbehaftete Arbeitsprozesse durch digitale", sagt Fritzi Köhler-Geib, Chefvolkswirtin der KfW-Bankengruppe. In der Tat, die während der Corona-Krise gesammelten Erfahrungen werden nun zunehmend in den unternehmerischen Alltag der Zukunft übertragen. In zahlreichen Branchen des Mittelstandes kommt es zu einem regelrechten Digitalisierungsschub. Betriebe nehmen die Krise des Frühjahrs zum Anlass, ihre Angebote, Distributionswege und Arbeitsabläufe auf den Prüfstand zu stellen und zunehmend zu digitalisieren.

Ja, so mancher Unternehmer hat wegen Corona einige Nächte sehr schlecht geschlafen. Aber es gab in der Regel kein böses, vielmehr ein kraftvolles Erwachen: Ärmel hochkrempeln, auf dauerhaft geänderte Gegebenheiten reagieren, Unternehmen neu ausrichten. Deshalb wird es auch keine Rückkehr zur (alten) Normalität geben. Mit dem Virus geht dauerhafte Veränderung einher. Aus China kommt nicht nur das Virus, sondern auch die Erkenntnis: "Du kannst nie zweimal in denselben Fluss steigen." Selbst für den Bäcker um die Ecke: Die Brötchen mögen die gleichen sein, die Plexiglasscheiben nehmen wir mal beiläufig zur Kenntnis, aber die Logistik hat sich verändert und die Kunden zahlen mehr und mehr bargeldlos. Sollte sich das "nach Corona" wieder ändern? - Glaubt kein Mensch - und das ist gut so!

"Schnellboote" der Wirtschaft

Auch das Homeoffice wird nicht nur eine Reminiszenz an die Viruspandemie bleiben. Studien zeigen: Homeoffice bedeutet für die Arbeitnehmer weniger Stress und mehr Produktivität. In vielen Berufen ist die ständige Präsenz im Büro nicht mehr erforderlich. Das hat zwei Konsequenzen: Zum einen dürfte es für mittelständische Unternehmen einfacher sein, hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, die aber nicht ständig am Standort des Unternehmens leben möchten. Homeoffice in Verbindung mit einer sporadischen Präsenz vor Ort könnte hier eine für beide Seiten akzeptable Alternative sein.

Zweitens wird mittel- bis längerfristig wohl der Bedarf an Büroobjekten zurückgehen. Homeoffice, Digitalisierung, Robotik, Künstliche Intelligenz - das sind nur einige Beispiele für die Arbeitswelt von morgen. Dazu mehr Elektromobilität und Nachhaltigkeit. "Arbeit" hat sich radikal verändert - schon vor Corona. So manche gesetzliche Regelung ist schon durch Laptop und iPhone nur noch ein Trugbild, die von jüngeren wie älteren Arbeitnehmern nicht mehr ernst genommen wird. Wann merken das die Tarifparteien und die Politik? "Arbeiten" und "Leben" fügen sich neu zueinander.

Kleinere und mittelständische Unternehmen als "Schnellboote der Wirtschaft" sind in der Regel viel schneller in der Lage, auf neue Prozesse zu reagieren als die "großen Tanker". Für alle war die akute Corona-Krise auch so etwas wie ein Warnschuss, um jetzt die Geschäftsmodelle zu überprüfen. Der Mittelstand mit seinen vielen Erfindern und Tüftlern ist für diese Herausforderung gut aufgestellt. Für unsere Volkswirtschaft zeigt sich: Dezentrale Systeme sind robust. Wenn sie durchgeschüttelt werden, stellt sich schneller wieder Stabilität ein als bei zentralen Systemen. Dezentrale Systeme sind innovativ, dezentrale Systeme tragen gleichsam den Wettbewerb, der Fortschritt bedeutet, in sich.

Ein Warnschuss für die Geschäftsmodelle

Im Zusammenhang mit den milliardenschweren Hilfen der EU für die besonders von der Corona-Pandemie betroffenen Staaten ist immer wieder von einem Wiederaufbauplan die Rede. Ohne an dieser Stelle semantische Haarspalterei betreiben zu wollen - dieser Begriff ist falsch gewählt. Denn glücklicherweise gibt es in Europa keine Zerstörungen wie etwa nach einem Krieg.

Es gibt hohe und leider wahrscheinlich sogar noch wachsende Arbeitslosenzahlen, markante Wirtschaftseinbrüche und wieder steigende Staatsschulden - das sind in der Tat Probleme, die uns noch viele Jahre beschäftigen werden und die nicht kleingeredet werden dürfen. Auch hat das Corona-Virus Zehntausenden von Menschen in Europa das Leben gekostet. Das gehört ebenfalls zur bitteren Wahrheit.

Aber zumindest blieben - im Gegensatz zu einem Krieg - Häuser, Unternehmen und die Infrastruktur der Länder bestehen. Gleichsam wird es nicht die "Stunde null" des Neuanfangs geben. Die Fahrt in die Krise war ein Prozess und aus der Krise heraus wird die Fahrt auch mit vielen Risiken und Nebenwirkungen verbunden sein.

Nukleus der Stabilität

Das bedeutet freilich nicht, dass wir mit dem aktuellen Status zufrieden sein können. Zu den wichtigsten Aufgaben des Staates gehört nach der Überwindung der akuten Krise die Schaffung einer modernen und wettbewerbsfähigen Infrastruktur, auch wenn die öffentlichen Kassen infolge der Corona-Hilfen mehr als angespannt sind. Ferner steht eine dem digitalen Zeitalter angemessene Bildungsoffensive auf der Agenda. Sie darf, wie es der ehemalige Telekom-Vorstand und heutige Bundestagsabgeordnete Thomas Sattelberger so treffend formuliert, sich nicht darauf beschränken, "den alten Bildungsmuff mit digitalem Zuckerguss zu überziehen".

Es hilft nicht, die Situation schönzureden. Aber es hilft noch weniger, in Resignation zu verfallen. Mit dem stabilen Mittelstand, der sich auf seine Finanzierungspartner verlassen kann, wird die Krise zügig überwunden. Der Mittelstand ist Nukleus der Stabilität für die deutsche Wirtschaft. Und die deutsche Wirtschaft ist wiederum Nukleus für eine Stabilisierung der europäischen Wirtschaft.

Denn eines ist klar - der Mittelstand braucht Europa. Auch dies wurde während der Corona-Krise deutlich, als zum Beispiel regionale Unternehmen in grenznahen Regionen nicht mehr an Kunden jenseits der Grenzen liefern konnten. Vielleicht ist dies eine der Lehren aus der Corona-Krise: Wir alle erkennen einmal mehr, wie wertvoll und wichtig offene Grenzen in Europa sind.

Schließlich: Es ist richtig, dass die Lasten der Krise in Solidarität europäisch bewältigt werden und es wäre richtig, wenn die Lasten nicht weit in die Zukunft geschoben und den kommenden Generationen aufgebürdet würden. Auch das würde nämlich die Dynamik der Wirtschaft perspektivisch massiv hemmen.

Bertram Theilacker, Mitglied des Vorstands, Nassauische Sparkasse, Wiesbaden
 
Bertram Theilacker , Mitglied des Vorstands , Nassauische Sparkasse (Naspa), Wiesbaden

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