WERTPAPIERGESCHÄFT

Wie Künstliche Intelligenz die Geldanlage verändert

Benjamin Ruppert, Foto: Kirsten Wagenbrenner

Der Weg vom Schachcomputer Deep Blue 1997 bis zur KI heute ist weit. Inzwischen kann KI im Anlageprozess ganz verschiedene Rollen einnehmen, von der des Fondsmanagers bis hin zu der des Anlageberaters, mit unterschiedlichen Varianten dazwischen, so der Autor. Wie Künstliche Intelligenz im Bereich der Geldanlage eingesetzt werden kann, veranschaulicht er an verschiedenen Beispielen. Sein Fazit: Wer der bessere Anleger ist - Mensch oder (von Menschen progammierter) Algorithmus - ist noch nicht entschieden. Red.

Als 1997 der von IBM programmierte Schachcomputer Deep Blue den Russen Garri Kasparov besiegte, unterlag zum ersten Mal ein amtierender Schachweltmeister einer von Künstlicher Intelligenz (KI) gesteuerten Software unter offiziellen Turnierbedingungen. Die Programmierer bewiesen damit erstmals, dass KI unter bestimmten Voraussetzungen der menschlichen Intelligenz überlegen sein kann, und verhalfen ihr zu einer neuen medialen Öffentlichkeit. Mittlerweile ist KI in vielen Bereichen des Alltags vorgedrungen. Praktische Anwendungsmöglichkeiten wie autonomes Fahren oder automatische Sprach- und Gesichtserkennung werden mit dieser Technologie verknüpft.

Die Anwendung von KI auf den Kapitalmärkten und die Möglichkeit, dort Vorteile in der Geld- und Vermögensanlage zu generieren, sind allerdings noch nicht in der öffentlichen Wahrnehmung angekommen. Das Misstrauen vor digital gesteuerten Prozessen ist noch immer groß, weshalb die Kunden die für sie wesentlichen Dinge wie Finanzen und Altersvorsorge weiterhin mehrheitlich von menschlichen Beratern und nicht von Robotern erledigen lassen. Allerdings nimmt der Zuspruch zu: Gaben nach repräsentativen Meinungsumfragen 2018 noch 11 Prozent der deutschen Bankkunden an, sich vorstellen zu können einem digitalen, KI-basierten Finanzberater zu vertrauen,1) wuchs dieser Anteil 2020 bereits auf über 50 Prozent und spiegelt damit das Wachstumspotenzial dieses Marktes wider.2)

In den vergangenen Jahren taten sich die konventionellen Banken mit dieser digitalen Transformation jedoch schwer und gingen notwendigen Strukturreformen aus dem Weg. Gegenüber der digitalen DNA von Fintechs und Neobrokern sind sie im Nachteil und könnten perspektivisch Gefahr laufen, aus dem Markt verdrängt zu werden. Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit zeigen aber, wenn auch maßgeblich durch die besonderen pandemiebedingten Umstände befeuert, dass die etablierten Banken verlorene Zeit aufholen und den Anschluss wiederfinden. 3)

Erste Definitionen

Der US-amerikanische Mathematik-Professor John McCarthy gilt als einer der Väter der KI-Forschung. Er prägte Mitte der fünfziger Jahre den Begriff der Künstlichen Intelligenz und lieferte erste Definitionen auf der weltweit ersten KI-Konferenz am Dartmouth College in New Hampshire.4) In seinem Antragspapier für die Konferenz fassten er und seine Kollegen einige Kernaspekte von KI zusammen, die eine erste thematische Einordnung zulassen: automatische Computer, Nachahmung von Maschinen, computergesteuerte Sprachprogramme, neuronale Netze, Selbstverbesserung, Abstraktionen, Zufälligkeit und Kreativität. Der KI-Begriff bietet allerdings einen interpretatorischen Spielraum, der widersprüchlich klingt, da bislang davon auszugehen ist, dass von Menschen programmierte Computer nicht in der Lage sind zu abstrahieren, kreativ, schöpferisch oder intuitiv zu handeln. Allerdings kann der Software das Lernen beigebracht werden: Selbstadaptive Algorithmen können mit ihrer Umgebung interagieren und sind in der Lage, im Rahmen ihrer konzeptuellen Vorgaben eigenständig evaluierte und begründete Verbesserungen an ihrer eigenen Struktur vorzunehmen.

Die widersprüchlich wirkende Definition lässt sich jedoch durch die weitere Abgrenzung in starke und schwache KI auflösen und bietet somit eine sinnvolle Differenzierung:5)

  • Während schwache KI menschliches Verhalten kopiert, um einzelne intelligente Entscheidungen zu treffen,
  • kann starke KI tatsächlich eigenständig Denken und besitzt daher echte Intelligenz.

Das Eingangsbeispiel Deep Blue stellt eine vereinfachte Ausprägung von schwacher KI dar, da der Computer nicht durch eigenständiges Denken die Schachzüge selbst entwickelt und dann spielt, sondern die zuvor programmierten, aussichtsreichsten Züge schlicht abgerufen hat.

Die Wissenschaft ist sich bisher noch uneinig, ob starke KI möglich ist und ob in der Zukunft tatsächlich eine solche Intelligenz entwickelt werden kann. Der aktuelle Stand der Forschung bewegt sich daher auf der Ebene der schwachen KI, sie beschränkt sich auf die technische Machbarkeit und sucht nicht mehr nach Wegen, die menschlichen Denkprozesse nachzuvollziehen oder Kreativität zu imitieren. Es werden vielmehr Algorithmen entwickelt, die eine klar abgrenzbare Problemstellung behandeln können. Die Lernfähigkeit dieser Programme, wie sie schon McCarthy in dessen Antragspapier erwähnt, ist dabei in den vergangenen Jahren verstärkt in den Vordergrund gerückt.

Big Data benötigt KI und umgekehrt

Eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren komplexer KI-Systeme wurde erst mit der modernen Dateninfrastruktur geschaffen, die durch die Digitalisierung von Informationen ermöglicht wurde. Als es im Jahr 2000 erstmals kostengünstiger wurde, ein Datum digital zu speichern als auf einem Blatt Papier festzuhalten, markierte dies die Wende zum Einstieg in die umfassende Digitalisierung von Daten.

Tagtäglich erzeugen Menschen und Unternehmen bedeutend großen Mengen von Daten (Big Data), die moderne Datenbanken und Daten-Management-Tools benötigen, um die Informationen nutzbar beziehungsweise beherrschbar zu machen. Da Big-Data-Massendaten in der Regel umfangreich, komplex, schnelllebig sowie unstrukturiert sind, lassen sie sich nicht mit klassischen Verfahren beherrschen, sondern benötigen neue Methoden, die durch KI-Konzepte bereitgestellt werden. Für sie wiederum dient Big Data als notwendige Grundlage und ist daher für die lernenden KI-Algorithmen von besonderer Bedeutung.

Durchdringungsrate von Robo Advisory erst bei 4 Prozent Quelle: Statista, FinTech Report, 2020 (B. Ruppert)

Menschliches Gehirn als Vorbild für Deep Learning

Machine Learning (ML) beschreibt Methoden, mit denen Muster in großen bestehenden Datensätzen erkannt und daraus ableitend neue Erkenntnisse gewonnen sowie Vorhersagen getroffen werden können. Das Computerprogramm lernt aus den gegebenen Daten fortlaufend, es trainiert sich damit selbst und entwickelt sich weiter. Beispielsweise lernt der Algorithmus, was eine Katze ist, indem er auf eine große Anzahl von Katzen-Bildern zugreift, daraus selbst die Gemeinsamkeiten erkennt und zu einer Definition des Tieres zusammenfügt. Es ist somit keine explizite Eingabe eines Softwarecodes zur Bestimmung der Katze durch einen Programmentwickler mehr notwendig.

Deep Learning ist die weiterentwickelte Form des Machine Learning. Es beschreibt eine autonome Lernmethode aus großen Datenmengen mithilfe mehr schichtiger künstlicher neuronaler Netze und führt zu einem tiefergehenden Verständnis von Sachverhalten als bei Machine Learning. Es leitet sich von der Funktionsweise des menschlichen Gehirns ab, wo das Denken und die Wahrnehmung von komplexen neuronalen Nervenzellen gesteuert werden: Sensorische Neuronen werden durch bestimmte Reize aktiviert, geben Informationen elektrisch an andere Neuronen weiter und kontrollieren so Wahrnehmungen, Bewegungen, Emotionen und kognitive Prozesse. Diese neuronale Informationsverarbeitung findet beim Deep Learning über mehrere Schichten solcher Neuronen beziehungsweise neuronaler Netze statt, die Informationen abgleichen und weitergeben. Der Vorteil von Deep Learning ist, dass diese Schichten nicht von menschlichen Entwicklern designed werden müssen, sondern über große Datensätze automatisiert gelernt wurden.

Robo Advisory seit 2008 am Markt

Der Begriff Robo Advisory wurde vom US-Vermögensverwalter Betterment geprägt, als dieser im Jahr 2008 seine erste gleichnamige Vermögensverwaltung auf den Markt brachte. Ziel des Programms war es, das Rebalancing der Asset Allocation einer Geldanlage mit einem konkreten Zweck, wie zum Beispiel der Altersvorsorge, zu automatisieren. Die Software half zuvor den menschlichen Vermögensverwaltern, indem sie in deren täglicher Arbeit diesen repetitiven Part übernahm und so Ressourcen schonen konnte. Betterment hat dieses Programm ausgegliedert und bot es seinen Kunden mittels kostengünstiger und anwenderfreundlicher Online Oberfläche direkt an. In den folgenden Jahren entwickelte sich dann der Service von Robo-Advice-Anwendungen stetig weiter und ist heute zu einem differenzierten Markt geworden.

Eine offizielle Deutung oder Legaldefinition des Terminus gibt es bislang noch nicht, der Bundesverband deutscher Banken beschreibt Robo Advisory aber in einem Positionspapier aus dem Jahr 2017 als eine im Kern computergestützte Handlung, die der Anlageberatung, der Anlagevermittlung oder der Finanzportfolioverwaltung gemäß Kreditwesengesetz dient.

Drei Formen von Robos

Aus Verbrauchersicht lassen sich drei Formen von Robo Advisors ableiten:

  • Full Service: Wie bei einer klassischen Vermögensverwaltung übernimmt das Programm vollständig die Geldanlage, während der Kunde passiv bleibt.
  • Half-Service: Der Kunde behält ein Einspruchsrecht und kann bei Veränderungen im Depot widersprechen.
  • Do-it-yourself: Der Kunde ist aktiver Investor und erhält vom Robo Advisor lediglich Vorschläge, behält die Geldanlage jedoch in der eigenen Hand.

Die mathematischen Modelle und Empfehlungsalgorithmen der Robos werden in der Regel transparent und nachvollziehbar dargestellt, weshalb die vorhandenen Angebote sinnvoll verglichen werden können.

Funktionen, die KI bei Robos typischerweise von Beginn an bei der Kundenbeziehung übernehmen, sind:

Einordnung des Neukunden sowie fortlaufende Kundenbetreuung - Im Gegensatz zur klassischen Vermögensverwaltung im Wealth Management sind bei der digitalen Vermögensverwaltung Retailkunden die Zielgruppe - unabhängig vom tatsächlich vorhandenen Vermögen. Mithilfe eines Fragebogens ermittelt die KI Kenntnisse und Erfahrungen, finanzielle Situation sowie Risikobereitschaft, um die individuelle Anlagestrategie des Kunden zu bestimmen und schließlich geeignete Anlagevehikel zu finden. Bevorzugte Anlagen sind kostengünstige und transparente Finanzprodukte wie börsengehandelte Indexfonds oder Rohstoffzertifikate. Veränderte Lebensumstände des Kunden passt dieser online selbst an und der Robo richtet darauf aufbauend das neue Risikoprofil und Portfolio aus.

Automatisiertes Portfoliomanagement - Kern von Robo Advisory ist der durchgehend automatisierte Investmentprozess, der per se keinerlei menschlichen Eingriff benötigt. Die Asset Allocation wird von den KI-Algorithmen in Abstimmung mit dem Anlegerprofil er mittelt und je nach Gestalt des Robo Advisor durch den Kunden aktiv gestaltend oder passiv zusehend begleitet.

Der Robo, der keinen Kunden-Eingriff vorsieht, überprüft in einem regelmäßigen Rhythmus die Portfoliozusammensetzung anhand des Vergleichs mit Musterportfolios und entscheidet dann über das Rebalancing der Asset Allocation. Zusätzliche Rahmenbedingungen in diesem klassischen Rendite-Risiko-Ansatz werden durch eine maximale Volatilität und eine Verlustschwelle auf Grundlage des Kundenprofils determiniert.

Abbild des Fortschritts in der KI-Entwicklung

Auch wenn Robo Advisor noch eine vergleichsweise junge Dienstleistung anbieten und sich der Markt immer noch in seiner Entstehungsphase befindet, ist das Leistungsspektrum bereits vielfältig. Die Bereitschaft für Robo-Advice-Investments ist heutzutage hoch und das Interesse an digitalen Geldanlagen, die grundsätzlich auf Algorithmen sowie wissenschaftlichen Anlagekonzepten basieren, ebenso groß. Die empirische Untersuchung von Reiter et al. aus dem Jahr 2020 hat gezeigt, dass bei einer Umfrage unter Bankkunden und Verbrauchern mehr als jeder zweite Befragte dies bestätigte.6)

Robo Advisors sind ein Abbild des Fortschritts in der KI-Entwicklung. Die neuen Generationen sind bereits über die Machine-Learning-Ebene hinausgewachsen und nutzen neuronale Netze, um im Rahmen von Deep-Learning-Prozessen nicht nur konkrete Aktienempfehlungen zu liefern, sondern sind auch dazu in der Lage, die unterschiedlichen Finanzprodukte des gesamten Kapitalmarktes miteinander zu kombinieren.7)

Algorithmen unterliegen keinen Emotionen

Neben dem Einsatz im Rahmen moderner Vermögensverwaltungen übernimmt Künstliche Intelligenz auch bereits Funktionen von menschlichen Fondsmanagern teilweise oder ganz. Da KI große Mengen relevanter Daten automatisch und in Echtzeit auswertet, wofür üblicherweise ganze Expertenteams eingesetzt werden müssten, können mit dem Einsatz der Software Ressourcen und Kosten eingespart werden. Digital verfügbare Berichte werden mithilfe von Spracherkennungsprogrammen analysiert, um konkrete Anlageentscheidungen zu treffen oder Empfehlungen abzugeben.

Im Gegensatz zu den menschlichen Fondsmanagern unterliegen die KI-Algorithmen weder kognitiven Verzerrungen noch ökonomischen Anreizen, die sie zu optimistischeren oder pessimistischeren Einschätzungen verleiten. Sie neigen eher zu ausgewogeneren Empfehlungen und sind zudem emotionslos dazu in der Lage, potenzielle Fehlentscheidungen zu erkennen und diese zu revidieren. Sie lassen sich weder von einer vermeintlichen Erfolgsserie verleiten, das Handelsvolumen oder die Transaktionsanzahl zu erhöhen, noch unterliegen sie den aus der Behavioural Finance bekannten Heuristiken.

Unterschiedliche Konzepte in Fonds

Derzeit sind 35 offene Investmentfonds mit etwa 1,2 Milliarden Euro Fondsvolumen für Privatanleger zugänglich, die im Wesentlichen von KI-basierten Algorithmen gesteuert werden.8) Die Fonds konzentrieren sich im Kern auf die Aktienmärkte, aber einige wenige verfolgen auch einen Mischfonds-Ansatz und reagieren auf Marktveränderungen durch flexible Aktienquotensteuerung innerhalb der Asset Allocation. Wieder andere verwenden Absicherungsstrategien in fallenden Märkten oder nutzen Wechselkursunterschiede verschiedener Währungen aus.

Die tätigen KI-Konzepte sind unterschiedlicher Natur und greifen für ihre Analysen auf unterschiedliche Daten zurück.

  • Mithilfe von Machine-Learning-Algorithmen werden beispielsweise volkswirtschaftliche Kennziffern und fundamentale Unternehmensdaten analysiert, um eine Aktienauswahl zu treffen und Portfolios entsprechend anzupassen.
  • Andere KI-Programme beschränken sich auf das Auslesen von Patentdatenbanken und wählen aufgrund dieser Datenbasis die vermeintlich vielversprechendsten Unternehmen aus.
  • Eine weitere KI-Variante nutzt künstliche neuronale Netze, um mittels Spracherkennungssoftware die täglichen Finanznachrichten zu analysieren. Die Einzelaktienauswahl erfolgt bei diesen Deep-Learning-Algorithmen also nicht anhand von Unternehmensdaten, sondern aufgrund der aktuellen Marktmeinung beziehungsweise der Börsenstimmung über die unterschiedlichen Titel. Als Input werden dabei bis zu zwei Millionen kapitalmarktbezogene Nachrichten pro Tag aus deutsch-, englisch- sowie chinesischsprachigen Medien verwendet. Die Big-Data-Auswertung durch die KI erfolgt in Echtzeit und gibt Kauf- beziehungsweise Verkaufsempfehlungen für europäische Blue-Chip-Aktien und Index Futures.
  • Ein weiterer KI-gesteuerter Fonds eines kanadischen Entwicklers beschränkt sich bei der Datengrundlage auf soziale Medien und US-amerikanische Online-Quellen. Die Software untersucht diese Quellen nach jenen 75 US-Aktien, die aktuell von den Anlegern als am aussichtsreichsten bewertet werden, und bestückt damit das Fondsportfolio. Die daraus resultierenden Fondsumschichtungen finden einmal im Monat statt.

2018 entwickelte die Deutsche Bank in Kooperation mit der Dow-Jones-Newswires-Nachrichtenagentur die KI-Plattform Alpha-Dig.9) Die Plattform stellt ein System von Machine-Learning-Algorithmen dar, das aus Medienberichten und Unternehmenspublikationen wie Quartals- oder Geschäftsberichten Risiken erkennt und ESG-Kriterien zuordnet. Nachdem das Programm zunächst durch Backtesting der Daten aus den letzten 20 Jahren Erfahrungswerte gesammelt hatte, konnte es diese für die Zukunftseinschätzungen verwenden und anhand der ESG-Kriterien die gewünschten Investments in nachhaltige Unternehmen filtern. Die KI sammelt hierfür nicht nur quantitative, bilanzielle Daten und Unternehmenskennzahlen der rund 5 000 beobachteten Aktiengesellschaften, sondern stützt sich in ihren Bewertungen auch auf qualitative Informationen aus den Medien, die von menschlichen Analysten tendenziell untergewichtet oder unterschätzt werden.

KI-Plattform Alpha-Dig nutzt auch Wikipedia

Des Weiteren wird die Software auch bei der Auswertung von allgemeinen Nachrichten, Beiträgen aus sozialen Medien und anderen Artikeln herangezogen, um ein politisches Risikoprofil von Ländern zu erstellen. Sie nutzt dafür im Wesentlichen die Online-Enzyklopädie Wikipedia, da sie dort auf Daten ausreichender Genauigkeit in einer für Programme gut lesbaren Sprache trifft und zusätzlich Einträge, die mit weiteren Metadaten gespeist sind, vorfindet. Die KI liest zum Beispiel die Hauptseite eines Staates sowie alle Seiten der darin befindlichen Hyperlinks bis zu zwei Ebenen tiefer und kann aus dieser Wissensdatenbank geo politische Risiken quantifizieren sowie mögliche Szenarien auf Aktien- und Anleihemärkte vorhersagen. Sie ver arbeitet die natürliche Sprache aus den Quelldaten maschinell, um daraus zu lernen und den Kontext zu erfassen sowie Rückschlüsse auf dessen Bedeutung zu ziehen.

Beispielsweise durchsuchen die Machine-Learning-Algorithmen Finanznachrichten und analysieren die mediale Aufmerksamkeit von politischen Ereignissen wie das Brexit-Referendum in Großbritannien im Jahr 2016, um diesen eine Bedeutung zuzuordnen. Anschließend werden die Daten mit den Informationen aus den sozialen Medien abgeglichen und validiert. Daraus kann Alpha-Dig schließlich eine Einteilung der politischen Risiken in zum Beispiel Wahl- oder Terrorismus-Risiken vornehmen und auch lang- sowie kurzfristige Folgen abgrenzen. Die KI-Plattform wird von der Deutschen Bank institutionellen Investoren zur Verfügung gestellt und soll vor allem in turbulenten Börsenphasen eine Orientierungshilfe bieten.

Capricorn und Wallstreet Online bieten Orientierungshilfe

Eine andere Form von Orientierungshilfe ist seit Oktober 2020 verfügbar: Das KI-Konzept von Capricorn Capital in Kooperation mit Wallstreet Online ist zwar vergleichbar mit den Do-it-Yourself-Robo-Advisory-Dienstleistungen, grenzt sich allerdings durch die in der Regel größere Auswahl an Portfolioalternativen und deren Gebührenstruktur ab. Nachdem die Risikoneigung und das Anlegerprofil des Kunden ermittelt wurden, stellt der KI-Algorithmus ein kundenindividuelles Portfolio zusammen und vergleicht dafür nach eigenen Angaben des Unternehmens Milliarden potenzieller Varianten aus mehr als 10 000 Fonds. Die Auswahl ist hierbei beschränkt auf die für den deutschen Markt für Privatanleger zugelassenen Fondsprodukte. Vertriebskosten gibt es für die Fonds nicht. Eventuell laufende Provisionszahlungen der Fondsgesellschaften werden zurückerstattet.

Bevor der Kunde das vorgeschlagene individuelle Portfolio anlegt, führt die KI ein Backtesting über historische Krisenphasen durch, mit dem der Kunde die Krisen-Robustheit beziehungsweise -anfälligkeit der Anlage prüfen kann. Dabei durchläuft das Wunschportfolio die Krisenphasen jeweils beginnend mit den ungünstigsten Einstiegszeitpunkten vor den jeweiligen Börseneinbrüchen sowie über die Zeit nach der Krise im Rahmen eines Erholungschecks.

Neben der Portfoliozusammenstellung durch die KI bietet das Unternehmen ein Vergleichstool an, das ein bereits vorhandenes Portfolio des Kunden kostentransparent vergleicht. Die Algorithmen untersuchen dabei die unterschiedlichen Kosten und Renditen innerhalb der Vergleichs-Checks, die von den Kunden unbegrenzt sowie kostenfrei durchgeführt werden können. Neben einer fixen monatlichen Servicegebühr verlangt der Anbieter eine jährliche Gewinnbeteiligung, erwartet allerdings keine volumenabhängige Vergütung des Depots, das der Kunde mit selbst erworbenen Wertpapieren sowie aus den Empfehlungen des Programmes angelegten Produkten führen kann.

Bison analysiert Buzz zu Kryptogeld

Die Börse Stuttgart erwarb im Jahr 2017 mit der Übernahme des Fintechs Sowa Labs GmbH Expertenwissen über KI mit dem Fokus auf die Echtzeitanalyse zunehmender Massendaten unterschiedlicher Finanzmarkttransaktionen im Internet. Mit dem Zusammenschluss begann die Börse unter anderen mit der Entwicklung einer neuen App für den Handel mit Kryptowährungen. Die Smartphone-App Bison ermöglicht seit Februar 2019 den kostenlosen Handel sowie die Verwahrung der gängigsten Kryptowährungen.

Neben der Handelsplattform beinhaltet die App ein Stimmungsbarometer, das mithilfe von Machine-Learning-Algorithmen täglich etwa zwei Millionen Social-Media-Nachrichten hinsichtlich eines Bezugs zu Kryptogeld untersucht und daraus die relevanten Nachrichten auswertet. Die KI filtert die Nachrichten mittels semantischer Analysen und ordnet diesen, bezogen auf die jeweilige Kryptowährung, die Attribute positiv, negativ oder neutral zu. Durch visuelle Aufbereitung in einem aggregierten Stimmungsbarometer findet letztlich eine Bewertung statt, die in weiterem Sinne auch als Kauf-, Verkauf- oder Halteempfehlung gedeutet werden kann. Zumindest liefert die Software damit eine Entscheidungshilfe für die Kunden.

In den kommenden Jahren wird eine Generation heranwachsen, die rund um die Uhr von KI-Technologie umgeben sein und diese selbstverständlich und intuitiv nutzen wird. Robo Advisory folgt einem anhaltenden, langfristigen Trend und wird seinen Platz in einem diversifizierten Markt einnehmen, allerdings keine außerordentliche disruptive Macht gewinnen, so die Meinung von Bankexperten sowie das Ergebnis empirischer Studien.10) Neben der angebotenen Komplettlösung des Robo Advice kann KI auch Investmentfonds selbst aktiv managen. Dabei ist festzustellen, dass KI-basierte Software Tätigkeiten genauso gut oder besser als ihre menschlichen Pendants erledigen können, selbst wenn diese beträchtlichen Verstand und Wissen für die Ausführung bedingen. Seit dem Sieg von Deep Blue über Kasparov sind mehr als 23 Jahre vergangen, in der Zwischenzeit haben bereits andere KIs gegen Profis der deutlich komplexeren Spiele Go sowie Jeopardy gewonnen.11) Das Börsenspiel der Realität konnten bislang zwar weder Mensch noch Maschine für sich entscheiden, es bleibt jedoch spannend zu beobachten, wie die Annäherung an Marktvorhersagen durch KI weiter an Fahrt aufnimmt.

Fußnoten

1) Vgl. GfK: Künstliche Intelligenz - Meinungsumfrage im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken, Nürnberg

2) Vgl. Reiter, Julius, Frère, Eric, Zureck, Alexander: Bank der Zukunft, Essen: FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Institute for Strategic Finance, 2020, S.9

3) Vgl. Wodzicki, Michael, Majewski, Daniel A., MacRae, Mark: "Digital Banking Maturity 2020 - How banks are responding to digital (r)evolution?" Budapest: Deloitte Central Europe, 2020, S. 2.

4) Vgl. McCarthy, John, Minsky, Marvin L., Rochester, Nathaniel, Shannon, Claude E.: A Proposal for the Dartmouth Summer Research Project on Ar tificial Intelligence, in: AI Mag, 27 (1955), Nr. 4, S. 12-14

5) Vgl. Russell, Stuart, Norvig, Peter: Künstliche Intelligenz - ein moderner Ansatz, 3., akt. Aufl., München: Pearson, 2012, S. 1176

6) Siehe Fußnote 2

7) Vgl. Wang, Pei-Ying, Liu, Chun-Shou, Yang, Yao-Chun, Huang, Szu-Hao: "A Robo-Advisor Design using Multiobjective RankNets with Gated Neural Network Structure", in: IEEE ICA, (2019), S. 77 ff.

8) Vgl. Narat, Ingo (KI Rendite, 2020): Wo Künstliche Intelligenz Rendite bringt - Anlagestrategen setzen auf Algorithmen, um die Erträge aufzubessern - mit gemischtem Erfolg. Welche Angebote sich wirklich lohnen, in: HBl, 74 (2020), Nr. 234, S. 30-31

9) Vgl. Moniz, Andy, Mesomeris, Spyros, Templeman, Luke: ESG und Big Data - Anlegen mit Alpha-Dig, in: DB Research: Konzept, (2018), Nr. 14, S. 10-13

10) Vgl. Krcmar, Helmut et al.: "Zukunftsstudie: Leben, Arbeit, Bildung 2035+ Durch künstliche Intelligenz beeinflusste Veränderungen in zentralen Lebensbereichen", München: Vgl. Krcmar, Helmut et al.: "Zukunftsstudie: Leben, Arbeit, Bildung 2035+ Durch künstliche Intelligenz beeinflusste Veränderungen in zentralen Lebensbereichen", München: Münchner Kreis, Bertelsmann Stiftung, 2020, S. 44.11

11) Vgl. Thompson, Caroline V.: Robo Advisory - Das Uber der Finanzbranche oder vorübergehender Trend? In: ZfgK, 70 (2020), Nr. 3, S. 230-236

Der Beitrag wurde von der Redaktion gekürzt. Die Langversion inklusive ausführlicher Fußnoten und Literaturhinweise finden Sie hier.

Benjamin Ruppert , Anlagemanager und stellv. Abteilungsdirektor im Wealth Management , Commerzbank AG, Stuttgart

Weitere Artikelbilder

Eigene Bewertung: Keine Durchschnitt: 5 Punkte (1 Bewertung)


X