Digitalisierung

Zukunftspotenziale digitaler Ökosysteme - Chancen im Verbund

Prof. Dr. Diane Robers, Head of Entrepreneurship, EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden
Quelle: EBS Universität

US-amerikanische Unternehmen machen es vor, wie digitale Ökosysteme Kunden an sich binden. Dabei machen sie auch vor Finanzprodukten nicht mehr halt. Auch die Finanzbranche hat mittlerweile entsprechende kollaborative Ansätze entwickelt. Vor allem, weil die Konvergenz zwischen Bank- und Versicherungsprodukten immer stärker zunimmt, bietet es sich an, bestehende Allfinanzlösung mit bestehenden Verbundstrukturen zu bündeln, um so zum Allround-Anbieter zu werden und dabei Skaleneffekte im Verbund zu nutzen und Infrastrukturkosten zu teilen. Red.

Der Begriff der Ökosysteme stammt ursprünglich aus den Naturwissenschaften und wurde 1935 von dem Geobotaniker Arthur G. Tansley geprägt. Das Grundprinzip von Ökosystemen als Lebensgemeinschaft von Organismen mehrerer Arten in Form von Produzenten und Konsumenten in ihrer physikalischen Umgebung sowie deren Wechselwirkungen wurde in den frühen neunziger Jahren dann von James F. Moore für die Beschreibung der Funktionsweise sogenannter Business-Ecosystems herangezogen und auf diese transferiert (Moore, J. F. 1996).

Mittlerweile findet das Konstrukt der Ökosysteme zur Beschreibung der Akteure unternehmerischer Wertschöpfungsketten, der Analyse von Netzwerken oder der Wechselwirkung von Produzenten, Zulieferern, Dienstleistern oder Forschungseinrichtungen auch zur Bildung regional wirksamer Cluster (wie beispielsweise das Silicon Valley) vielfach Anwendung. In der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung lässt sich ein sprunghafter Anstieg an Publikationen zu (Business)Ökosystemen ab dem Jahr 2010 auf mittlerweile über 400 Publikationen beobachten. Sie haben ihren thematischen Ursprung vor allem in den Bereichen "Strategie", "Entrepreneurship" und "Innovation".

Untersucht werden dabei beispielweise die Funktionsweise der Wertschöpfung (Wie wird Wert durch mehrere Akteure geschaffen? Wie können sich Wertschöpfungspartner den erzeugten Wert in Form von Margen oder Gewinn aneignen?), Steuerungsmechanismen in Ökosystemen (Wie erfolgt die Governance?), das Hervorbringen und Monetarisieren von Innovationen (Wie kann ich durch komplementäre Kompetenzen Innovationen besser komponieren und vermarkten?), die Frage der technologischen Umsetzung (zum Beispiel digitale Plattformen) oder die Grundsatzfrage, wie ein Ökosystem als Abbild eines Geschäftsmodells funktionieren kann (Wie erfolgen Leistungserstellung, Zugang zum Kunden, gegebenenfalls Risk oder Opportunity Sharing, mit welchem Ertragsmodell?).

Digitalisierung als Katalysator

Mit dem Durchbruch der Digitalisierung ab 2002 (Wende zur digitalen Informationsspeicherung), der zunehmenden Computerisierung von Arbeits- und Privatleben und der Verfügbarkeit von digitalen Angeboten im Internet bekommen digitale Ökosysteme eine immer größere Bedeutung. Entscheidend ist hierbei, dass mittels digitaler Plattformen und eines einfachen Zugangs des Nutzers (zum Beispiel über One-ID), Angebot und Nachfrage komfortabel, einfach, schnell und individualisiert sowie zudem zeitlich und örtlich unabhängig zusammengebracht und abgewickelt werden.

Aus dem ursprünglichen E-Commerce (online bestellen und zahlen) entwickelten sich das E-Business (elektronische Integration der Supply Chain) und schließlich digitale Ökosysteme (Wertschöpfung über digitale Plattformen und Vernetzung von Akteuren). Durch Digitalisierung und Vernetzung entstehen Chancen für Unternehmen, über branchenübergreifende und interdisziplinäre Kooperationen den eigenen Wertschöpfungsanteil zu steigern (skalen- und effizienzorientiert).

Die sich ergänzenden Partnerschaften können weitere Märkte und Wachstumspotenziale erschließen. Technische Plattformen und Assistenten (wie zum Beispiel Chatbots oder Roboadvisors) unterstützen dabei die Kommunikation zwischen den Zulieferern und Anbietern sowie dem Kunden.

Das digitale Ökosystem imitiert dabei das Verhalten biologisch komplexer Systeme, um ein dynamisch anpassbares Gesamtsystem aufzubauen. Ziel ist es, eine Vielzahl an digitalen Inhalten (Produkten und Services) mit mobilen Endgeräten unter einem Dach zu integrieren, damit die Kunden idealerweise ihre Plattform nicht mehr verlassen (müssen).

Plattformanbieter stärken ihre eigene Marktposition, weiten Geschäftsfelder auch außerhalb ihrer Kernkompetenzen aus und setzen Technologiestandards durch. Dies erzeugt einen sogenannten "Walled Garden", das heißt über exklusive Vertriebsmodelle auf der jeweiligen Plattform und spezifischem Kundenwissen behält der Anbieter die Gesamtsicht über eventuelle Kaufentscheidungen, die er gegebenenfalls auch incentivieren kann (breites Angebotsspektrum, bequemer Zugang, Zahlungsmodalitäten, Abwicklung aus einer Hand).

US-Konzerne geben den Innovationstakt vor

Zu den erfolgreichen Playern gehören die bekannten Konglomerate, vor allem US-amerikanische Konzerne wie beispielsweise Apple, Google und Amazon, aber zunehmend auch chinesische Anbieter wie Baidu, Tencent und Alibaba. Diese schaffen es nicht nur, den Kunden in ihr System "einzulocken", sondern geben einen Innovationstakt mit beeindruckender Geschwindigkeit vor, treiben den digitalen Wandel voran und machen mit ihren Angeboten auch vor dem Finanzdienstleistungssektor nicht halt.

Erwähnenswert in diesem Kontext ist auch das Engagement des chinesischen Internetkonzerns Tencent in der jüngsten Finanzierungsrunde der Smartbank N26. Beim Handelsriesen Amazon wird vermutet, dass er sich mit dem Einstieg in Versicherungsprodukte - zunächst in Form der Gründung einer eigenen Krankenkasse -auseinandersetzt.

Finanzbranche zieht nach - auch mit kollaborativen Ansätzen

Vor allem dem "traditionellen" Finanzdienstleistungssektor wurde häufig vorgeworfen, in Bezug auf Digitalisierung und Innovationskraft anderen Branchen hinterherzuhinken. Die Chancen der Digitalisierung sind hier aber mittlerweile weitgehend erkannt. Dies betrifft vor allem die Kundenschnittstelle in Form von Omnikanalpräsenz (der Kunde kann über die von ihm favorisierten Interaktionsmöglichkeiten in der Filiale, über das Internet, telefonisch, per SMS) on- und offline kommunizieren oder Geschäfte abwickeln. Auch werden Investments in Digitalisierungsprojekte und Innovationsinitiativen oder die Zusammenarbeit mit Start-ups gesteckt.

Hervorzuheben sind hierbei nicht nur singuläre Ansätze, sondern auch kollaborative Unternehmensinitiativen wie das Insurtech Hub in München, bei dem zwölf bayerische Versicherungsunternehmen gemeinsame Aktivitäten (Inkubation, Co-Working, digitale Plattform) für ein Netzwerk zur Zukunft der Assekuranz zwischen Wissenschaftlern, Startups und Versicherern und internationalen Talenten ins Leben gerufen haben.

Allfinanz 4.0

In dem Kontext "Zukunftsfähigkeit" gewinnt auch das Thema "Allfinanz 4.0" neue Aufmerksamkeit. Bereits 2001 wurde das Thema Allfinanz vor dem Hintergrund einer finanzkräftigen Erbengeneration diskutiert, die ihr Vermögen entsprechend gewinnbringend investieren möchte und dabei zunehmend ergänzender und vor allen Dingen privater Vorsorgekonzepte bedarf.

Seit mehreren Jahren nun bildet sich eine stärkere Konvergenz zwischen Bank- und Versicherungsdienstleistungen heraus. Zunächst war diese Entwicklung ausschließlich auf der Vertriebsebene zu erkennen, wo Bank- und Versicherungsprodukte über den Bankschalter verkauft wurden. Nun lassen sich auch Fortschritte sowohl auf der Entwicklungs- als auch der Produktebene erkennen. Diese wachsen zusammen und haben höhere Interdependenzen, was sich beispielsweise auf Bank- und Sparkassenprodukte, Fonds, Leben-, Kranken- und Sachversicherungsprodukte sowie den Immobilienbereich auswirkt. So werden beispielsweise für entsprechende Zielgruppen in Luxemburg oder Liechtenstein maßgeschneiderte paneuropäische Lösungen in der Lebensversicherung zur Steuer- und Nachlassplanung, Vermögensverwaltung und Vermögenssicherung angeboten.

Geschäftsmodelle weiterentwickeln

Durch das Internet und die damit einhergehenden informationstechnologischen Möglichkeiten erlebte die Finanzbranche weitere tiefgreifende Veränderungen. Erwartet wird, dass die Interaktion mit den Kunden in den nächsten fünf Jahren mehrheitlich digital über alle Phasen der Wertschöpfungskette stattfindet. Trotzdem wünscht sich ein Großteil der Kunden auch in Zukunft - gerade bei komplexen Produkten und Themenbereichen - eine persönliche Beratung, in die er allerdings häufig schon vorab informiert hinein geht.

Vor dem Hintergrund der dargestellten Rahmenbedingungen wird es für Banken und Versicherungen wichtig sein, sich mit ihren eigenen Geschäftsmodellen und der Value Chain intensiv auseinander zu setzen. Welche Leistungen sind in Zukunft für welche Kundengruppe attraktiv? Welche Leistungen werden von Wettbewerbern angeboten? Wie soll mit der neuen Konkurrenz der Startups oder internationalen Konglomerate umgegangen werden? All dies sind Fragen, die dabei helfen können, das eigene Geschäftsmodell zu überdenken und entsprechend weiter zu entwickeln.

Allfinanzlösungen mit bestehenden Verbundstrukturen bündeln

Grundsätzlich haben Banken und Versicherungen aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrungen, Kundenbeziehungen und entsprechenden Kompetenzen in regulierten und komplexen Produkten einen klaren Vorteil gegenüber neuen Mitbewerbern. Wesentlich wird sein, die Wertschöpfungskette in Bezug auf die (neuen) Kundenbedürfnisse stetig anzupassen und in entsprechenden Angebotsbündeln sowie Vertriebskonzepten sowohl on- als auch offline abzubilden.

Bündelt man nun Allfinanz-Lösungen mit bestehenden Verbundstrukturen, so ergibt sich die Chance, Kunden umfangreiche, individuelle und vor allen Dingen auf jede Lebenssituation zugeschnittene Produkte zu verkaufen. Der Finanzdienstleister kann sich als Ansprechpartner und "Allround-Kümmerer" in wesentlichen Bedarfsfeldern positionieren. Diese "kundenzentrierte Sichtweise" wird bei nahezu allen aktuellen Neuproduktentwicklungen der Anbieter in den Mittelpunkt gestellt: Handelt es sich beispielsweise um ein Bedürfnis rund ums Wohnen und Leben, Sicherheit oder um Mobilitätfragen? Zunehmend werden dabei auch branchenübergreifende Dienstleistungen konzipiert, wie zum Beispiel Versicherer als integraler Bestandteil von Mobilitätsleistungen, Versicherer als Gesundheitsberater oder Präventionsleistungen rund ums Heim.

Als größter Vertreter von Finanzdienstleistungen vor Ort spielt hierbei "die Sparkasse" als Marktführer eine herausragende Rolle, die sie für die Zukunft ausbauen müsste - chancenorientiert, aber auch vor dem derzeit diskutierten Kontext wegbrechender Erträge und möglicher Filialschließungen. Hierbei sind Rahmenbedingungen wie ökonomische Verflechtungen durch Beteiligungen, das Verbundprinzip der Ausschließlichkeit sowie die Unterstützung durch Vertriebsstrukturen und Spezialisten optimal zu gestalten. Die Sparkassen-Finanzgruppe ist mit rund 560 Unternehmen (Sparkassen, Landesbanken, Landesbausparkassen, öffentliche regionale Erstversicherungsgruppen sowie Spezialfinanzierer) dezentral nach dem Regionalitätsprinzip am Markt vertreten. Sie arbeitet nach dem Verbundprinzip und ist über den Dachverband "Deutscher Sparkassen- und Giroverband e.V. (DSGV) organisiert.

Wettbewerb nicht mehr zwischen Unternehmen, sondern Ökosystemen

In Form eines Kooperationsprojektes des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes gemeinsam mit der Versicherungskammer Bayern (VKB) wurden in einem Entrepreneurship Masterkursprojekt an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Möglichkeiten zur Etablierung eines digitalen Ökosystems aufgezeigt und evaluiert. Zwischenzeitlich sind Pilotanwendungen - etwa bei der Sparkasse Mainfranken-Würzburg gemeinsam mit der VKB - in der vertrieblichen Umsetzung. Wesentliche Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung dabei sind:

- Die Digitalisierung von Prozessen, Produkten und Dienstleistungen bringt "Digitale Ökosysteme" hervor, die in der zukünftigen Wertschöpfung eine maßgebliche Rolle spielen werden.

- Es ist beobachtbar, dass sich der Wettbewerb von Unternehmen, die auf Skaleneffekte angewiesen sind, zunehmend von einzelnen Unternehmen hin zur Rivalität von (digitalen) Ökosystemen verschiebt.

- Anbieter halten Kunden durch Log-In Effekte und vergleichsweise einfachen Zugang zu allen lebensbegleitenden Produkten und Dienstleistungen in ihrem (jeweiligen) Ökosystem.

- Die potenzielle Innovationskraft eines Ökosystems ist durch gebündelte Ressourcen, einer Vielzahl kreativer Potenziale oder Verknüpfung von Kompetenzen enorm und schafft damit eine höhere Flexibilität in Bezug auf Neuproduktentwicklung, Marktzugang und Marktbearbeitung.

Bestehende Verbund-Skaleneffekte nutzen und Infrastrukturkosten teilen

Um gegenüber neuen kundenzentrierten Modellen von Startups oder anderen großen Marktplayern zu bestehen, wird das Erkennen und die schnelle Umsetzung technologischer Möglichkeiten (etwa durch Künstliche Intelligenz, Robotics, Blockchain) zur notwendigen Bedingung. Durch die gezielte Nutzung von bereits bestehenden (Verbund-)Skaleneffekten können dabei Infrastruktur-Kosten geteilt und neue Zielgruppen auch digital erreicht werden.

Zusätzlich ermöglichen lokale Vorteile (wie persönliche Kundenkenntnis) verbunden mit traditionellen Kompetenzen (Risiken einschätzen, bewerten, managen) auf die Bedarfssituation zugeschnittene Lösungsangebote. Beides kombiniert, führt zu einem starken zukunftsfähigen Business-Ökosystem.

Literaturhinweise

Moore, J. F. (1996): The Death of Competition: Leadership and Strategy in the Age of Business Ecosystems, New York. Bengsch, D (2011): 2002 begann das Digitalzeitalter, (online) www.welt.de (16. Mai 2018).

Masak, D. (2009): Digitale Ökosysteme, Berlin/Heidelberg.

Sawall, A. (2018): Smartphone-Bank N26 hat fast 1 Million Kunden, (online) www.golem.de/news (16. Mai 2018).

Thaler, M. (2018): Amazon gründet eigene Krankenkasse, (online) www.procontraonline.de (16. Mai 2018).

Schulte-Noelle, H. (2001): Allfinanz - Entwicklungen eines globalen Versicherungsunternehmens, in: Financial Services - Modelle und Strategien der Wertschöpfung, Hrs. v. Ackermann, W., St. Gallen.

Bühler, P./Fleischer, M./Maas, P. (2017): Digitale Transformation in Märkten mit Versicherung: Von der Verteidigung des Geschäftsmodells bis zur Auflösung der Branche, in: versicherungsrundschau, 1-2/17, S. 64

Adesso AG/versicherungsforen Leipzig GmbH (2015): Studie Geschäftsmodelle 4.0 - Was die Assekuranz von anderen Branchen lernen kann, Leipzig.

Die Autoren
Prof. Dr. Diane Robers, Head of Entrepreneurship, EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden
Franz Kränzler, Generalbevollmächtigter, Versicherungskammer Bayern, München
Prof. Dr. Diane Robers , Professorin für Management Practice , EBS Universität für Wirtschaft und Recht gGmbH, Oestrich-Winkel
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