Verkehrte Welt

Swantje Benkelberg, Chefredakteurin, Foto: Fritz Knapp Verlag GmbH

Heutige Schüler kennen Zinsen allenfalls noch aus Gesellschaftsspielen, in denen es um Geldgeschäfte geht. Die Zinsen auf das ersparte Taschengeld, die früher in der Sparerziehung eine wichtige Rolle spielten, haben sie nie erlebt. Stattdessen werden sie mit Werbung für Kredite zu Zinssätzen nahe null oder sogar zu Minuszinsen konfrontiert. Und sie lernen daraus im schlimmsten Fall: Eine Kreditaufnahme ist ein gewinnbringendes Geschäft. Die Tatsache, dass auch ein Kredit zu Minuszinsen eine Schuld ist, die zurückgezahlt werden muss, droht dadurch aus dem Blick zu verschwinden. Schon seit einer geraumen Zeit warnen Auskunfteien deshalb vor einem Trend zu unwirtschaftlicher Lebensführung, die bei ungünstigen Rahmenbedingungen sehr schnell zu Überschuldung führen kann. All das sind Folgen der Zinspolitik in der Folge der Finanzkrise 2008/2009. Und in Zeiten von Corona gibt es wenig Anzeichen dafür, dass sich an diesem Szenario bald etwas ändern könnte.

Im Bankgeschäft hat diese Zinspolitik alles durcheinandergewirbelt. Einlagen sind nicht länger in großem Stil willkommen, um das Kreditgeschäft zu refinanzieren, sondern drohen immer häufiger zum teuren Ballast zu werden. Eine wachsende Anzahl von Instituten zahlt nicht nur keine Guthabenzinsen, sondern verlangt von einem Teil der Kunden "Verwahrentgelte". Dabei wird die Entgegennahme von Einlagen als Dienstleistung umdefiniert, bei der für die Garantie der Sicherheit der Guthaben ein Entgelt zu entrichten ist. Wann und unter welchen Bedingungen das möglich ist, beschäftigt die Juristen. Gleiches gilt für das Kreditgeschäft. Hier ist für Kreditnehmer die Versuchung gewachsen, sich von älteren und damit teuren Kreditverträgen zu trennen, um günstiger neu abschließen zu können. Findige Juristen haben dafür Klauseln in den AGBs der Banken entdeckt, die sich als "Widerrufsjoker" nutzen lassen. Jüngst erst hat ein EuGH- Urteil den Weg zu noch mehr Klagen in diesem Sinne frei gemacht. Dabei stellt der Diesel-Skandal der Automobilbranche einen zusätzlichen Treiber dar, da Diesel-Besitzer nach Möglichkeiten suchen, sich auf dem Weg der Rückabwicklung von Fahrzeugen zu trennen, die durch die Manipulationen an Wert verloren haben.

Der Blick der Banken richtet sich deshalb vor allem auf das Wertpapiergeschäft, um so strafzinsbewehrte Einlagen reduzieren und gleichzeitig Provisionseinnahmen generieren zu können. Das Geschäft ist jedoch ein mühsames, da es tradierte Vorstellungen zu überwinden gilt. Die Turbulenzen an den Märkten, nachdem das Sars-Cov-2-Virus Europa erreicht hat, dürften - wie seinerzeit der Zusammenbruch des Neuen Marktes - einen erneuten Rückschlag für die in Zeiten boomender Märkte vorsichtig entwickelte Wertpapierkultur bedeuten. Und die geplante Finanztransaktionssteuer hat das Zeug dazu, dieselbe noch stärker auszubremsen. Über das Wertpapiergeschäft allein lässt sich die Abhängigkeit vom Zinsgeschäft deshalb nur sehr begrenzt verringern. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Banken in Sachen Plattformökonomie vorankommen und dafür neue Geschäftsmodelle entwickeln.

Durch die Corona-Epidemie geschieht das alles in einem verschärften Umfeld. Die guten Jahre mit stabiler Konjunktur und sinkenden Insolvenzzahlen bei Unternehmen wie privaten Haushalten sind vorbei. Bei den Haushalten ist davon auszugehen, dass das Einfrieren der Wirtschaft sowie das "Einsperren" der Menschen in den eigenen vier Wänden die beiden Haupttreiber für private Insolvenzen - Arbeitslosigkeit und Scheidung - zunehmen lassen wird. Aufseiten der Unternehmen ist erst recht absehbar, dass viele Firmen in Schwierigkeiten geraten. Trotz der staatlichen Förderprogramme bleibt die Hauptlast bei der Kreditwirtschaft. Hier zeigt sich: Das Kreditgeschäft ist nicht nur nach wie vor das Brot-und-Buttergeschäft der Banken, so oft auch die Forderung nach einer Neuausrichtung der Branche auf andere Geschäftsmodelle wiederholt wird. Sondern es ist auch noch immer essenziell für die Finanzierung der Wirtschaft. In der Not ist es eben doch die Hausbank, die ihren Kunden zur Seite steht. Die Forderung der Branche nach Maßnahmen, die ihr dafür den nötigen Spielraum gewähren, ist deshalb nur zu berechtigt. Dass die EZB deshalb die Minuszinsen abschafft, wird wohl trotzdem ein frommer Wunsch bleiben.

Swantje Benkelberg , Chefredaktion, bank und markt, Cards Karten Cartes , Fritz Knapp Verlag
Noch keine Bewertungen vorhanden


X