Gastkommentar

Forward valuation auf diffuser Sentimentbasis: Zukunft der RICS-Marktwertermittlung?

Das Investmentjahr 2009 neigt sich dem Ende. Eine vorgezogene Bilanz zeigt mehr Licht als Schatten. Zugleich ist es für eine Entwarnung noch zu früh. Der rasche Wechsel im Sentiment ist atemberaubend gewesen. Er ließ die Reaktionsmöglichkeiten der Märkte weit hinter sich. So erwarteten im ersten Quartal des Jahres (1,6 Milliarden Euro Investmentvolumen) zahlreiche Transaktionsberater einen Anstieg der Spitzenrendite auf sieben Prozent bis Ende dieses Jahres. Der deutsche Investmentmarkt hat sich wieder einmal anders entschieden und zeigte sich selbst in einem bislang nicht gekannten Marktumfeld von seiner besten Seite: unglaublich stabil. Die Spitzenrenditen bewegen sich weiter zwischen 5,0 und 5,5 Prozent.

Schon macht bei Transaktionsberatern - wie 2005 - das Wort die Runde, dass allein die hartnäckige Weigerung der deutschen Sachverständigen, Verkehrswerte beziehungsweise "Buchwerte" herunterzunehmen, den Renditeanstieg verhindert habe. Ehre wem Ehre gebührt? Allenfalls dann, wenn man es als die Aufgabe eines Bewerters ansieht, einem ausgetrockneten Investmentmarkt mit hohen bid/offer spreads durch Abwertungen auf die Beine zu helfen. Es sollte nicht vergessen werden, dass sich seit dem Lehman-Kollaps im Herbst 2008 allein das Handelsvolumen und das Sentiment im freien Fall befanden, nicht aber die (wenigen) realisierten Preise.

Um es aus Sicht der deutschen Sachverständigen auf den Punkt zu bringen: Die Bewerter, die Ende 2008/1. HJ 2009 die Lücke der Kauf- und Verkaufspreisvorstellungen dadurch geschlossen haben, dass sie sich ohne ausreichenden Marktbeleg auf die Käuferseite geschlagen haben und von ihren noch im Jahr 2007 als Marktwerte bestätigten Grenzpreisen schlagartig auf Niveaus abgewertet haben, zu denen viele Marktteilnehmer selbst gerne gekauft hätten, aber mangels Angebot nicht konnten, haben nach deutschem Marktwertverständnis keine (objektivierten) Marktwerte, sondern Investmentwerte auf der Basis eines diffusen Sentiments und aktueller target returns ihrer Kunden ermittelt.

Allen internationalen Definitionen des Marktwertes ist die Ermittlung des nach einer angemessenen Vermarktungszeit am wahrscheinlichsten zu erzielenden Erlös für eine Immobilie gemein, wobei es sich um einen Käufer ("willing buyer") und Verkäufer ("willing seller") handeln muss, die beide gut informiert, umsichtig und ohne Zwang handeln. Auffällig ist, dass sich das Begriffsverständnis in der Wahrnehmung der Marktteilnehmer und in der praktischen Umsetzung gleichwohl unterscheidet. Die Bewerter haben in der Vergangenheit offensichtlich zu viel über Bewertungsmethoden gestritten und es versäumt, sich konzeptionell am Marktwertbegriff abzuarbeiten. Es hat ersichtlich nicht ausgereicht, zu Beginn der Dekade den open market value und den Verkehrswert mit einem Federstrich formal dem Marktwert gleich zu setzen, wenn sich die hinter den Begriffen stehenden Verständnisse und Bewertungskulturen fremd geblieben sind.

Der Unterschied zwischen den Bewertungskulturen tritt besonders zutage, wenn der Investmentzyklus wie 2006/2007 in eine Phase des Überschießens mündet oder die Wirtschaftslage abrupt umschlägt und der Preisbildungsmechanismus des Immobilienmarktes mehr Zeit zur Anpassung benötigt, wie seit dem Lehman-Kollaps zu beobachten war. So war es nicht verwunderlich, dass der zukünftige RICS-Präsident Robert Peto (DTZ) auf der IPD-Tagung "Immobilienbewertung - Kunst oder Wissenschaft?" die Auffassung vertrat, dass der Verkehrswert möglicherweise irgendeinem in der Vergangenheit für die Immobilie erzielbaren Durchschnittspreis entsprechen mag, aber nichts mit dem aktuellen Marktwert zu tun habe. Die Begründung und die weiteren Ausführungen waren dagegen neu. Zumindest in der Diktion und dem an den Tag gelegten Selbstverständnis. Sie zeigen, dass die RICS offensichtlich noch Hausaufgaben zu erledigen hat, was das Begriffsverständnis und die richtigen Lehren aus der Finanzkrise anbelangt. Bislang waren Bewerter stets der Auffassung, dass nur realisierte Preise wertbestimmend sein können. Nur realisierte Preise stellen Resultanten aus der Verhandlung über die Preisforderungen von Anbietern und den Preisgeboten von Nachfragern im Zusammenhang mit dem Tausch und Handel von Gütern dar. Erst sie konstituieren den Markt. Den Marktteilnehmern ist dieser marktwirtschaftliche Preisbildungsprozess mit all seinen situations- und machtspezifischen Einflüssen der dynamischen "Marktseitenverhältnisse" bestens vertraut. So werden selbst im börslichen Wertpapierbereich mit täglichen Preisfeststellungen bei aktuell nicht handelbaren Kursen die letzten festgestellten Preise noch am ehesten als marktgerecht angesehen und bei Wertpapierfonds der Anteilpreisermittlung zugrunde gelegt. Erst nach einem gewissen Zeitraum wird bei weiterhin inaktivem Markt vorsichtig auf den Mittelkurs abgestellt. Nach Peto ist demgegenüber das Ermitteln von Marktwerten auf der Basis historischer Marktpreise wie Autofahren mit Blick in den Rückspiegel. Eine eigentlich schöne Metapher, wenn der autofahrende Bewerter nur nicht in eine Nebelbank namens Zukunft schauen würde. Und die beginnt für alle Bewerter spätestens mit der Fertigstellung des Gutachtens. Wichtiger als historische Preise sind nach Peto das aktuelle Orderbuch des Marktes oder genauer gesagt eines Brokers und hier die Preisvorstellungen der Käufer. Zur Begründung seiner Auffassung verwies er darauf, dass gerade bei stark unterschiedlichen Preisvorstellungen von Käufern und Verkäufern die Aussagekraft eines ermittelten Marktwertes für den Auftraggeber nur darin liegen könne, was seine Immobilie am Tag der Bewertung am wahrscheinlichsten als Kaufpreis erlösen (! ) würde. Ganz allgemein muss nach seiner Auffassung jede Marktwertermittlung ausschließlich durch die Brille des Käufers und dessen Sentiment erfolgen. Er warnte deshalb geradezu vor Bewertern, die nicht ganz eng bei Maklerkollegen sitzen und wenigstens ein Ohr bei diesen haben. Das zweite Ohr, möchte man ergänzen, muss zusehen unabhängig zu bleiben.

Der Grund für das alleinige Abstellen auf die "Geldkursseite" seines Orderbuches ist nach Peto, dass eine Marktwertermittlung konzeptionell eine Transaktion am Stichtag unterstellt und deshalb a) die Beauftragung zur Marktwertermittlung einem Verkaufsauftrag zum Stichtag gleichkommt, b) der Auftraggeber mit der Auftragserteilung des Gutachtens in einem schwachen Marktumfeld gerade in Kenntnis dessen (konzeptionell) die Entscheidung zum Verkauf getroffen hat und er als hypothetischer Verkäufer deshalb c) nicht zu einem "unwilling seller" wird, wenn er das Preisangebot des Käufers (den Marktwert) als zu niedrig ablehnt. Wo bleibt aber der "willing seller", auf den bislang keine internationale Marktwertdefinition verzichten mag? Der wird kurzer Hand zur überflüssigen Kunstfigur erklärt, weil Verkäufer, so Peto, die Preise fordern, die Käufer nicht bereit sind zu bezahlen, "overeager" (übereifrig) sind und damit nicht als "willing" gelten können. So kommt der unterstellten Transaktion mal eben die Verkäuferseite abhanden. Warum die gleiche Begründung nicht auch für den hypothetischen Käufer gelten soll, blieb offen.

Zur Begründung des aus seiner Sicht RICS-konformen Marktwertverständnisses als ein "proxy for asking price" hat Peto ausgeführt, dass nirgendwo in den Red-Book-Standards geschrieben stehe, dass man für eine Marktwertermittlung aussagekräftige Marktpreise benötigt. Bei diesem Begriffsverständnis wird Marktwertermittlung in Immobilienmärkten mit Black-Box-Renditen selbstreferentiell und das leidige Haftungsthema auch gleich mit entschärft. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, wenn Neil Crosby von der University of Reading auf der gleichen Veranstaltung mitgeteilt hat, dass die englischen Offenen Immobilienfonds in 2008/2009 ihre "unabhängigen" Bewerter zu einer aggressiveren Gangart bei Abwertungen gedrängt und regelrecht forward valuations verlangt hätten. Von einer monatlichen Bewertung habe man in dieser Zeit auf eine 14-tägige Bewertungsfrequenz umgestellt und 50 Prozent aller Bewertungen seien in den draft sessions noch einmal abgeändert worden. Natürlich nur mit Blick auf die Dynamik des Marktes. Ein Schelm wer Böses dabei denkt.

Dr. Gernot Archner, Geschäftsführer, Bundesverband der Immobilien-Investment-Sachverständigen e. V., Frankfurt am Main

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