Leitartikel

Reverse Mortgage: schwer vermittelbar

"Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen/Und die erste und die zweite Hypothek", textete und komponierte 1923 Robert Steidl. Schon damals war das Lied ein Gassenhauer, dessen Erfolg sogar den großen Kurt Tucholsky darüber sinnieren ließ, ob die vergnügungssüchtige Jugend nicht schon dabei sei, das materielle und mehr noch das ethische - Erbe ihrer Vorfahren im Rausche zu verzehren. Dass Feierlaune und Katerstimmung dicht beieinander liegen, war damals nicht anders als heute. Aber auch wenn es manche herbeireden möchten, die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre ist nicht mit dem aktuellen Sub-prime-Rumpeln zu vergleichen. Gleichwohl lag das Epizentrum heute wie damals in den USA. Nur ein Zufall? Zumindest ist das Image amerikanischer Finanzprodukte, sofern sie das Eigenheim betreffen, derzeit stark in Mitleidenschaft gezogen worden. 120-Prozent-Hypotheken, RMBS-Fonds und Hypotheken-Versicherungen haben mittlerweile spürbare Akzeptanzprobleme, auch wenn sich Stefan Kofner bei der Ursachenforschung um eine Objektivierung der Diskussion bemüht (siehe Seite 582 ff).

Schwerer dürfte es auch eine Finanzinnovation haben, die als Innovation "made in USA" den hiesigen Markt beglücken soll, obwohl sie im Grundsatz seit Jahrhunderten in Deutschland bekannt, aber kaum noch gebräuchlich ist: Reverse Mortgage frei übersetzt als "umgekehrte Hypothek" - ist im Wesentlichen nichts anderes als die klassische Leibrente, wie sie das Bürgerliche Gesetzbuch seit 1871 kennt. Wobei schon damals nur kodifiziert wurde, was längst üblich war, weil bereits seit dem Mittelalter die Bauern ihren Nachlass dergestalt regelten, dass sie sich am Lebensabend auf das "Altenteil" zurückzogen, indem sie Hof und Grund einem Nachfolger übertrugen, der sie im Gegenzug mit Obdach, Nahrung, Brennmaterial und einem Taschengeld zu versorgen hatte.

Als "Wiederentdecker" der Produktidee darf sich Rüdiger Wiechers wähnen, der im Jahr 2001 auf der Jahrespressekonferenz der Dresdner Bauspar AG seine Gedanken zu einem Reverse-Mortgage-Produkt für Deutschland vorstellte. Dass das Projekt schon in der Pilotphase stecken blieb, lag, so heißt es, nicht an mangelnder Nachfrage - 3 000 Interessenten soll es gegeben haben. Zum Verhängnis wurde dem Produkt vielmehr die Übernahme der Dresdner Bank durch den Allianz-Konzern, der das Projekt auf Eis legte. In fröhlicher Regelmäßigkeit widmeten sich seitdem Medien, Wissenschaft und Wirtschaft der "Karteileiche" Reverse Mortgage. Dass die praktische Umsetzung bislang auf sich warten lässt, hat viele Gründe - rationale wie emotionale. So vernünftig der Homo oeconomicus im selbstgenutzten Wohneigentum nur eine Form der Kapitalanlage sieht, deren Rendite die eingesparte Miete ist, so wenig will dies der hierzulande im Eigentum Wohnende empfinden. Wer nach Jahrzehnten des Konsumverzichts sein Haus endlich schuldenfrei hat, verkauft es nicht wie Aktien, Staatspapiere und Fondsanteile, um die als zu karg empfundene Rente aufzubessern.

Selbst in den USA haben die Anbieter fast 15 Jahre gebraucht, um ein paar Hundert Verträge zusammenzuscharren. Erst im Juni 2007 ist - dank staatlicher Unterstützung - die Schwelle von 300 000 Verträgen überschritten worden, wie Achim Tiffe anmerkt (siehe Seite 586 ff). Eingedenk der Tatsachen, dass die Eigentumsquote hierzulande niedriger ist, die Deutschen weniger verschuldungsbereit sind und einem hiesigen Rentner im schuldenfreien Wohneigentum durchschnittlich ein höheres Nettoeinkommen als einem Mieterhaushalt zur Verfügung steht, erscheint das kalkulierte Nachfragepotenzial von ein bis zwei Millionen Personen und einem Hypothekenwert von bis zu zehn Milliarden Euro jährlich doch arg optimistisch. Die tatsächliche Nachfrage dürfte schon deswegen geringer sein, weil unter deutschen Eigenheimbesitzern die Vorstellung von kontinuierlich steigenden Hauspreisen noch immer weit verbreitet ist, weshalb sie die systembedingt niedrigeren Wertansätze bei Reverse-Mortgage-Verträgen nur in persönlichen Notlagen akzeptieren werden. Viele Baufinanzierer dürften von entsprechenden Produktangeboten absehen, weil sie um ihre Glaubwürdigkeit fürchten, wenn sie ein und dasselbe Objekt beim Kauf deutlich höher beliehen haben, als sie bei der umgekehrten Hypothek bereit sind, als Wert anzusetzen. In den Konditionen wäre zudem sicherzustellen, dass die Hausbewohner auch nach Abschluss des Reverse-Mortgage-Vertrages ebenso eifrig in die Instandhaltung der Immobilie investieren wie zuvor.

Diese Widrigkeiten haben hiesige Banken bisher von einer Produkteinführung abgehalten. Auch Finanzdienstleister mit internationaler Erfahrung sehen in Deutschland kaum Marktchancen für das Produkt, wie Richard Coon von Seniors Money International in dieser Ausgabe ab Seite 596 ff ausführlich begründet. Folglich gibt es nur wenige Versuche, die Leibrente zu institutionalisieren. Das von Rechtsanwalt Wolfgang von Nostitz skizzierte Modell "Heim und Rente" sieht beispielsweise die Kombination aus Hypothekenfonds und Rentenversicherung vor (siehe Seite 591), andere haben Sale-and-lease-back-Konstruktionen zum Vorbild. Dass eine der Großbanken und ihre Bausparkasse das Produkt noch nicht gänzlich begraben haben, ist im Markt ein offenes Geheimnis. Neuerdings sondiert auch ein bedeutendes öffentlich-rechtliches Kreditinstitut die Möglichkeiten von Reverse Mortgage.

Noch mögen die Vorbehalte, sein eigenes Heim für Konsumzwecke hypothekarisch zu belasten, überwiegen. Doch wird das so bleiben? Dass die Deutschen immer älter werden und weniger Kinder (und diese immer später) geboren werden, ist ebenso bekannt wie die Folgen: Rückläufige Rentenbeiträge führen zu einem niedrigeren staatlichen Rentenniveau und erfordern eine höhere private Vorsorge. Eine der wichtigsten Formen der privaten Altersvorsorge bleibt das selbstgenutzte Wohneigentum. Deshalb fordern die Bausparkassen zu Recht, den Wohnungserwerb wie andere (Riester-)Vorsorgeprodukte staatlich zu fördern. Doch auch nach 20 Monaten zäher Diskussion in der Regierungskoalition ist noch nicht einmal im Ansatz eine Entscheidung in Sicht. Damit wachsen die Chancen für die Etablierung alternativer Reverse-Mortgage-Angebote, weil diese auch ohne Fördergelder auskommen könnten, wie zumindest Mike Schneider beweisen will (siehe Seite 592 ff). So könne nicht nur die Miete gespart werden, sondern es ließe sich auch die Rente aufbessern. Wird Oma ihr klein Häuschen also künftig selbst "versaufen"? L. H.

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