Eigen- und Mitverantwortung - die Grundpfeiler einer gelingenden Gesellschaft

Notker Wolf OSB, Abtprimas des Benediktinerordens - Freiheit ohne Verantwortung wird zur Willkür. So lässt sich der Appell von Notker Wolf zusammenfassen. Seine Ausführungen bezieht er nicht nur auf die Bürger, sondern auch ganz konkret auf das Wirtschaftsgeschehen. Einerseits lehnt er den allzu schnellen Ruf nach einem Eingreifen des Staates bei (ökonomischen) Krisen ab, andererseits vermisst er Führungspersonen - gerade auch Banker -, die die eigenen Fehler eingestehen und öffentlich klarmachen, welche Wege die Branche gehen kann, um zukünftigem Versagen vorzubauen. (Red.)

Eigenverantwortung ist uns Benediktinern buchstäblich ins Buch geschrieben. Der abendländische Mönchsvater Benedikt von Nursia verlangt von seinen Mönchen, "von ihrer eigenen Hände Arbeit zu leben". Nur dann seien sie wirklich Mönche. "Wenn aber Ortsverhältnisse oder die Armut fordern, dass sie die Ernte selber einbringen" - es gab damals auch Angestellte in den Klöstern - "sollen sie nicht traurig sein" (Benediktusregel 48, 7-8). Deshalb reagiere ich sensibel, wenn ich den Eindruck von Bevormundung seitens des Staats oder von Ansprüchen an die Gesellschaft bekomme. Die 68er traten für die Freiheit ein, nicht aber für die daraus resultierende Eigenverantwortung. Für alles sollen Staat und Gesellschaft zuständig sein, um selber seine Willkür-Freiheit ausleben zu können.

Freiheit und Eigenverantwortung

Kern der Menschenwürde ist die Freiheit. Sie ist ein Gut, das jeder bei seiner Geburt mitbekommt, entfalten und bewahren muss. Es gilt, die eigene Freiheit wahrzunehmen und sie den andern im selben Maß zuzugestehen. Die Tendenz, andere zu bevormunden, aus Gründen des Machtstrebens, der eigenen Ambitionen und Anerkennung wegen, ist weit verbreitet. Ich kann aber meine eigene Freiheit nicht aufgeben und muss sie voll und ganz dem andern zugestehen. Nach jüdisch-christlichem Verständnis ist die Freiheit das wertvollste Geschenk Gottes an den Menschen. Es macht ihn geradezu Gott ebenbildlich. Er untersteht einzig der Autorität Gottes und wo der Mensch eine uneingeschränkte Freiheit ausüben möchte, verfällt er der Sünde und unterjocht andere.

Der Mensch ist zur Freiheit geboren, aber nicht zur Willkür. In der Pubertät, da wir erst den rechten Weg zur Freiheit finden müssen, mag der Rocksong gelten: "Born to be free, born to be wild." Die Freiheit hat in der Tat immer den Drang auszubrechen und über die Stränge zu schlagen. Und wir müssen uns zeitlebens etwas von diesem Drang bewahren, wollen wir nicht in Traditionen erstarren. Das gilt für die Wissenschaft, das gilt für die Politik, das gilt auch für das Unternehmertum, damit die Wirtschaft sich weiter entwickelt und die neuen Herausforderungen im Wettbewerb bestehen kann. Wer auf den Kunden hört, nimmt dessen neue Bedürfnisse rechtzeitig wahr.

Freiheit lässt den Menschen kreativ werden, flexibel und anpassungsfähig. Sie drängt zur Eigeninitiative; denn dazu ist die Freiheit gegeben. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, ein freier Mensch steht souverän über seinen Wünschen und Neigungen, er lässt sich nicht von ihnen abhängig machen, genauso wenig wie von äußeren Einflüssen, er ist selbstständig und gegebenenfalls resistent gegenüber dem Mainstream und der Political Correctness. Ein freier Mensch denkt selbstständig und handelt selbstständig. Das ist abendländische Tradition seit Sokrates (469-399 v. Chr.). Die Souveränität bedeutet nicht, dass einer alles allein macht, im Gegenteil, er kann andere einbinden, er weiß, dass er nicht alles wissen kann und sucht den Rat der anderen. Souveränität nimmt andere Menschen ernst. In ihr ist die Toleranz grundgelegt. Ein freier Mensch ist team fähig, er nimmt Kritik ernst, weil es ihm nicht um sich selbst, sondern um die Sache geht. Er weiß aber andere zu bewegen, zu motivieren, er hat das Ziel im Blick und zeigt Ausdauer. Er denkt in jeder Hinsicht nachhaltig. Es kommt ihm nicht auf den raschen Erfolg an.

Freiheit und Bevormundung

Ein freier, souveräner Mensch ist sich bewusst um seine Eigenverantwortung. Zunächst einmal sind ihm Denken und Gestaltungsfähigkeit gegeben, damit er sein Leben als Erwachsener selbst meistert. Der Staat und andere Institutionen oder Personen können nur subsidiär wirken. Nun gibt es zwei grundsätzliche, einander entgegengesetzte Modelle für das Verhältnis von Staat und Individuum: entweder die Unterstützung des Bürgers in seinen Freiheiten oder die Beherrschung des Individuums bis hin zu den kleinsten Lebensäußerungen. Der Staat ist Lebenserhalter und Lebensbeglücker. Die Wirtschaft wird vom Staat gelenkt, er ist der Unternehmer. Gerade aus dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme erkennen wir, dass der Staat diese Rolle nicht ausüben kann. Ihm fehlt es an neuen Ideen, an Innovation, Risikobereitschaft. Politiker sind nun mal keine Wirtschaftsfachleute. Das wäre auch bei der teuren Energiewende zu bedenken.

Der Staat entmündigt das Individuum, weil er ihm nicht traut, sei es aus Machstreben, beziehungsweise aus Angst, der Einzelne könne gefährlich werden, sei es aus Misstrauen dem Menschen überhaupt gegenüber, um nicht zu sagen: aus Menschenverachtung. Eigenartigerweise beobachte ich bei vielen Bürgern einen versteckten Hang zur Unterwürfigkeit. Der Staat soll für alle und alles zuständig sein, von der Kindererziehung bis zur Altenpflege, vom Mindestlohn, von der Energieversorgung bis zur Bankenrettung. Der Ruf nach dem Staat wird immer öfter laut. Diese enorme Anspruchshaltung ist eine Selbstentmündigung bis hin zur Infantilisierung.

Ursachen des Rufs nach dem Staat

Der Ruf nach dem Staat kommt nicht von ungefähr, gerade wenn man trotz Vollbeschäftigung nicht mehr "von der eigenen Hände Arbeit" sein Leben bestreiten kann. Es sind vor allem die Erfahrungen, welche die Bevölkerung im Zusammenhang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/ 2009 gemacht hat, eine Krise, die unendlich vielen Menschen Ersparnisse und Lebensunterhalt geraubt hat. Gier schien den Profit von Banken und Topmanagern möglich zu machen. Risikoüberlegungen wurden beiseite geschoben. Selbst einfache Menschen ließen sich ebenso durch das Versprechen hoher Renditen blenden. Erst durch die Krise wurde den Menschen die Höhe von Gehältern, Boni und selbst Abfindungen bei Versagen bewusst. Für den einfachen Lohnempfänger sind diese Summen astronomisch.

So wurde der Ruf nach Moral laut, der Ethik eines Anstands. Doch gab es bereits vor der Krise Regeln der Good Governance, die nicht gefruchtet haben. Die Vorgaben der Compliance wurden jetzt verschärft mit starken Kontrollen. Ob das aber hilft? Die Menschen hatten das Vertrauen in die Führungspersonen von Banken und Unternehmen verloren. Daher kam es zu dem lauter werdenden Ruf nach Reglementierung der Finanztransaktionen, nach einer staatlichen Kontrolle der Banken. Letztes ist nicht verwunderlich, nachdem die Regierung mit Steuergeldern systemische Banken vor der Insolvenz retten musste. Die Regierung konnte ihre Energiewende nicht nur deshalb fast widerstandslos über die Bühne bringen, weil sich in Japan ein Tsunami ereignet hatte, und die Deutschen besonders sensibel waren für die "grüne Energie", sondern weil viele den Energiekonzernen nicht mehr trauten.

Das Vertrauen in Großbanken und Großunternehmen konnte leider bis heute nicht zurückgewonnen werden. Das jüngste Bekanntwerden von Manipulationen und Korruption hat dem Ansehen zu sehr geschadet, vor allem weil es danach aussieht, dass es nicht aufhört und dass durch die Krise nichts besser geworden ist, wie erhofft wurde. Es sieht danach aus, als seien Topmanager bar jeglicher Moral, und das heißt Verantwortung. Eigenverantwortung hat sich zu reinem Eigeninteresse entwickelt. Es zählt nur der eigene Gewinn. Mitverantwortung scheint überhaupt noch nicht bedacht zu sein. Das gilt sicher nicht für alle Topmanager, aber so kommt es bei der Bevölkerung an, und das ist nicht einfach die Schuld der Medien. Man kann in der Tat nur staunen mit welcher Selbstverständlichkeit, um nicht zu sagen Kaltschnäuzigkeit Gehälter und Boni eingefordert werden.

Eigenverantwortung bedeutet die Verpflichtung, sich möglichst selbst zu erhalten, und aus unserer Einbettung in Gesellschaft und Umwelt resultiert die Mitverantwortung für das Bonum commune und die Erhaltung der Natur als Lebensraum des Menschen. Freiheit ohne Verantwortung wird zur Willkür. Verantwortung aber bedenkt immer die Konsequenzen des eigenen Tuns und die Auswirkung auf die Mitmenschen und die Natur. Der Mensch ist Teil einer Gesellschaft, eines Staats und des globalen Lebensraums.

Moral oder staatliche Eingriffe

Letztlich war die Finanzkrise bis heute ein moralisches Versagen, kein finanztechnisches. Das Verlangen einiger Banken und Banker, immer höheren Profit einzufahren, führte zum eigentlichen Versagen. Risiko und Haftung waren Fremdworte geworden. Gold blendet im wahrsten Sinn des Wortes. Dazu kam noch ein massenpsychologisches Phänomen: Wenn jemand vorgibt, man müsse nur eine besondere Richtung einschlagen, dort sei das große Geld zu holen, und wenn das noch von sogenannten Experten gesagt wird, laufen alle wie Lemminge dorthin und lassen selbstständige Überlegungen außer Acht. Nach dem Zusammenbruch der ersten Banken wurde der Ruf nach Reglementierung und staatlicher Lenkung immer lauter. Wurden zunächst die Vermögen reicher Leute versenkt, so verschwanden auch die Altersvorsorgen vieler Menschen, die ihren Beratern geglaubt und ihre Ersparnisse in Papieren angelegt hatten. Wenn nun auch der Steuerzahler zusätzlich für das Versagen von Banken aufkommen soll, wird der Ruf nach staatlichen Eingriffen verständlich.

Die wirtschaftliche Lenkung durch den Staat - sprich Politiker - ist alles andere als begrüßenswert. Doch wo bleiben die Banker, die ihre Fehler zugeben, die nicht darauf warten, dass die Bevölkerung mehr Verantwortung und Moral einklagt, sondern selbst öffentlich für die Transparenz eintreten und den Bürgern erläutern, welche Wege sie jetzt beschreiten, um zukünftigem Versagen vorzubauen. Stattdessen gewinnt der normale Zeitungsleser den Eindruck, dass Gier und Korruption weitergehen - ob das stimmt oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Banken klagen über den Vertrauensschwund und hoffen auf neues Vertrauen. Vertrauen aber wächst, wenn der Kunde merkt, dass die Führungspersonen ihre Verantwortung für sie wahrnehmen oder es zumindest versuchen. Fehler können immer unterlaufen.

Fazit, so traurig es scheinen mag: Eigenverantwortung wird weiterhin als Sorge um das eigene Vermögen verstanden, abgekoppelt von der Mitverantwortung für Mitarbeiter, Gesellschaft und Natur. Dabei möchte ich nochmals hervorheben: Wenn der Durchschnittsbürger in derselben Lage wäre wie die gescholtenen Topmanager, würde er vermutlich genauso handeln. "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein" (Jo 8, 7), hat schon Jesus gewarnt.

Selbstentwürdigung

Bevor ich diesem offenbar allgemein menschlichen Verhalten nachgehe, möchte ich noch eine schon erwähnte Beobachtung aufgreifen: Viele ziehen staatliche Eingriffe vor; wann immer etwas schiefläuft, soll der Staat eingreifen. Er wird als Übervater oder Übermutter verstanden, ich brauche nur zu fordern, anstatt selbst Leistung zu erbringen und Verantwortung zu übernehmen. Es ist bequem, aber gleichzeitig eine Selbstinfantilisierung und Selbstentwürdigung.

Der Philosoph Ludwig Feuerbach beschreibt in der Einleitung zu seinem Werk "Vom Wesen des Christentums" (1841) den Unterschied von Mensch und Tier, und zwar von der Triebstruktur her. Wenn der Trieb eines Tieres gesättigt ist, hört das Verlangen für eine gewisse Zeit auf. Eine satte Katze ist mit einer Maus nicht mehr hinter dem Ofen hervorzulocken. Es können beim Menschen von seinem Verstand her andere Gesichtspunkte dazukommen, wie der besondere Geschmack, sodass der Mensch die natürlichen Grenzen überwindet und weiter isst oder trinkt. Auf Dauer kann sich dann eine biologische Abhängigkeit einstellen. Geldgier kann in diesem Sinne zu einer Sucht ausarten. Man möchte Topmanagern kein solches Verhalten unterstellen; denn das stünde unter ihrer Würde, möchte man meinen. Der griechische Philosoph Platon (428/427-348/347) hat schon darauf hingewiesen, es sei mit den menschlichen Trieben und Emotionen genauso wie bei schäumenden Rossen; der Wagenlenker muss ihnen die Zügel der Vernunft anlegen und sie unter Kontrolle halten. Das verlangt Askese, zu deutsch: Übung.

Wege zu verantwortlichem Verhalten

Askese hat oft einen negativen Anstrich, bedeutet aber nichts anderes als die Notwendigkeit der Einübung guter Verhaltensweisen, so wie ein Sportler trainiert und ein Musiker seine Läufe wiederholt, bis er sie auswendig kann - und das kann mühsam sein. Das ist aber ein wichtiger Prozess bei der Erziehung. Nur so können Kinder auch den Erfolg antrainierter Regeln erfahren. Bei der Aneignung von Werten wirken drei Komponenten zusammen: das gute Beispiel, die Erläuterung und die Einübung. Ein Kind sollte erfahren, dass Sprichwörter alte Werterfahrungen in Worte fassen: "Ehrlich währt am längsten, Lügen haben kurze Beine."

Gute Beispiele wirken auch auf Erwachsene, genauso wie negative. Daher ist es bedauerlich, wenn Manager nach dem Motto des 11. Gebots handeln: Lass dich nicht erwischen. Ich meine, solche Manager geben sich gar keine Rechenschaft darüber, welch zersetzende Wirkung Steuervergehen und Korruption auf die allgemeine Bevölkerung haben. Deshalb ist auch ein fortwährender ethischer Diskurs in der Gesellschaft von Bedeutung. Es wird gesagt, dass Ethik-Lehrstühle an wirtschaftlichen Fakultäten nichts brächten, ebenso wenig wirtschaftsethische Seminare. Die Erfolge solcher Bemühungen sind nicht quantifizierbar. Vielleicht könnte ein wirtschaftssoziologischer Statistiker einen halbwegs fundierten Überblick erbringen. Quantifizierbarkeit kann aber nicht der einzige wissenschaftliche Maßstab sein, wenn auch der einleuchtendste.

Während der Finanzkrise 2008 kam ein ernst zu nehmender Vorschlag: Es war zunächst als Vorwurf gemeint: Ob denn die Manager kein Ehrgefühl mehr im Leibe hätten, keine Scham? Dieser Vorwurf gründet auf der Erfahrung, dass wir Menschen um unsere Verantwortung wissen sollten. Wer Freiheit beansprucht, dem muss man auch die Verantwortung zumuten. Es gab früher Grundsätze wie bei den Beamten: "Schnaps ist Schnaps und Gehorsam ist Gehorsam." Es gab so etwas wie ein Ehrgefühl in verschiedenen Berufen: "Das ist unter meiner Ehre, das kommt bei mir nicht vor." Solche Prinzipien sind Tabus, die der Mensch aufbaut, um im Zweifelsfall frei zu bleiben für seine Verantwortung für das Gute und das Gemeinwohl. Die 68er haben eine derartige Forderung als Zumutung aufgefasst. Das sei eine Beschränkung der Freiheit, begründet in der Auffassung, dass der Mensch grundsätzlich von Natur aus gut handelt. Die jüdischchristliche Tradition weiß um den schwachen Menschen. Letztlich bleibt die Befreiung von der Sünde ein Geschenk Gottes, aber wir können einiges dazu tun, damit wir verantwortlich für uns und für andere handeln.

Eigen- und Selbstverantwortung sind die beiden Grundpfeiler einer gelingenden Gesellschaft. Wir stehen inzwischen am Scheideweg zu einer Weltgesellschaft. Es wäre spannend, in diesem globalen, digitalen Kontext darüber nachzudenken. Es tun sich enorme Möglichkeiten auf, Menschen auszuspionieren und heimlich zu lenken. Um dieser Versuchung zu widerstehen, bedarf es eines hohen Grades an Verantwortungsbewusstsein. Ein Ausspruch von Mark Zuckerberg, dem Gründer und Vorstandsvorsitzenden von Facebook, die Zeit der Privacy sei vorbei, lässt erschrecken. Viele merken nicht einmal die Ungeheuerlichkeit und Arroganz seiner Auffassung. Unsere Freiheit, die sich in Eigen- und Mitverantwortung niederschlägt, steht vor großen Herausforderungen, wollen wir nicht einer modernen Sklaverei anheimfallen, sondern weiterhin auf unsere individuelle und gesellschaftliche Menschenwürde stolz sein.

Dieser Beitrag basiert auf einer Rede des Autors beim Zahlungsverkehrssymposium 2015 der Deutschen Bundesbank am 15. Juni 2015 in Frankfurt am Main. Zwischenüberschriften sind teilweise von der Redaktion eingefügt.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X