Ordnungspolitik und Krise

Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld, Foto: Sachverständigenrat

Corona belaste die öffentlichen Finanzen enorm. Feld listet in seinem Beitrag eine ganze Reihe von Hilfsmaßnahmen auf, die dennoch nur einen Bruchteil der eingeleiteten Maßnahmen darstellen. Auch auf die Maßnahmen vonseiten der EU weist er hin. Manchem Beobachter werde schon schwindelig angesichts der gigantischen Summen und Kreditermächtigungen. Der Autor erwartet daher einen Anstieg der deutschen Staatsverschuldung von rund 59 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf rund 70 Prozent. Gleichzeitig stellt er fest, dass derzeit in Deutschland und auf EU-Ebene zunehmend auch wirtschaftspolitische Grundsatzfragen gestellt würden. In der Krise würden die Regeln ausgesetzt erscheinen. Doch dem Anschein widerspricht er energisch. Noch mehr als zuvor sei die Regelbindung in der Ordnungspolitik elementar. Daher fordert Feld auch dazu auf, dass die fiskalpolitische Konsolidierung in Deutschland mit einer Rückkehr zur Regelgrenze der Schuldenbremse eingeläutet werden sollte. (Red.)

Die Corona-Pandemie ist eine enorme Belastung, natürlich in allererster Linie für die an Covid-19 (schwer oder weniger schwer) erkrankten Menschen sowie diejenigen, die sich vor einer Ansteckung fürchten müssen. Zugleich ist die Pandemie Auslöser einer wirtschaftlichen Krise. Im zweiten Quartal 2020 ist der schärfste Wirtschaftseinbruch seit der Aufzeichnung von Quartalsdaten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu beobachten. Wer die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland kennt, wird feststellen können, dass es seit dem Jahr 1949 wohl keinen kräftigeren Quartalseinbruch gegeben haben dürfte.

Für das gesamte Jahr 2020 erwartet der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung eine Schrumpfung des BIP um 5,1 Prozent, etwas weniger als in der Finanzkrise, nicht zuletzt angesichts eines hochdynamischen dritten Quartals. Klar ist jedoch, dass diese Wirtschaftsentwicklung mit einer enormen wirtschaftlichen Belastung in verschiedenen Teilen der Wirtschaft einhergeht. Gastgewerbe, Hotellerie, Tourismus, Transportwesen und Einzelhandel sind besonders stark betroffen.

Gigantische Summen

Die Corona-Krise belastet nicht zuletzt die öffentlichen Finanzen von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen. In jeder Rezession sorgen die automatischen Stabilisatoren - geringere Steuereinnahmen aufgrund rückläufiger Einkommen, Gewinne und Umsätze, höhere Ausgaben für Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit - für steigende Finanzierungsdefizite. Der Bund hat darüber hinaus die Regelungen für die Kurzarbeit gelockert, unterschiedliche Finanzhilfen (Soforthilfe für kleine Unternehmen und Soloselbstständige, Überbrückungshilfen I bis III, November- und Dezemberhilfen) sowie Kreditprogramme der KfW aufgelegt, einen Wirtschaftsstabilisierungsfonds zur Eigenkapitalbeteiligung an Unternehmen eingerichtet sowie ein umfassendes Konjunkturpaket verabschiedet, das steuerliche Maßnahmen, etwa die temporäre Umsatzsteuersenkung, und ein umfangreiches Investitionsprogramm enthält.

Hinzu kommen die Maßnahmen der Länder und der Europäischen Union (EU), vor allem die Aufbau- und Resilienzfazilität mit temporärer Verschuldungsmöglichkeit der EU und die enorme Liquidität, welche die Europäische Zentralbank (EZB) über Anleihekäufe zur Verfügung stellt. Damit die Gemeinden ihre Investitionstätigkeit beibehalten, entlastet der Bund sie bei den Sozialausgaben durch Übernahme der Kosten der Unterkunft um ein weiteres Viertel. All diese Maßnahmen sind nur punktuelle Highlights, die Liste ist viel länger.

Manchem Beobachter wird schwindlig angesichts der im Schaufenster stehenden Summen und der Kreditermächtigungen, die ihre Parlamente Bund und Ländern gewährt haben. Die Verschuldung des deutschen Gesamtstaates wird von rund 59 Prozent des BIP im Jahr 2019 voraussichtlich auf rund 70 Prozent des BIP im Jahr 2020 ansteigen. Im Jahr 2021 ist ein weiterer Anstieg zu erwarten. Dabei steigt die Verschuldung um mehr als das Finanzierungsdefizit des Staates - voraussichtlich 5,5 Prozent im Jahr 2020 - an, weil im Schuldenstand unter anderem Kredite, Garantien und Bürgschaften zu berücksichtigen sind. Angesichts struktureller Herausforderungen wie dem Klimaschutz, der Digitalisierung und dem demografischen Wandel, die jede für sich genommen eine Belastung der öffentlichen Finanzen bereithalten, ist die Sorge groß, wie dies zu bewältigen sein soll.

Ordnungspolitik ist regelbasierte Wirtschafts- und Finanzpolitik

In der öffentlichen Debatte in Deutschland und auf europäischer Ebene führt die derzeitige Gemengelage dazu, dass grundsätzlich über die Ausrichtung der zukünftigen Wirtschaftspolitik diskutiert wird. Manch einer in der politischen Diskussion nimmt die Corona-Krise zum Anlass, seine längst gehegten Wünsche für ein neues wirtschaftspolitisches Paradigma nun endlich in die Tat umzusetzen. Zwar ist unklar, was das aktuelle Paradigma ist, von dem es sich zu entfernen gilt. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Deutschland und der EU ist letztlich von enormem Pragmatismus geprägt. Rasch kommt jedoch wieder die Ordnungspolitik in den Fokus.

Ordnungspolitik ist eine regelbasierte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ihr geht es darum, dass die staatlichen Akteure die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens so festlegen, dass eine menschenwürdige wirtschaftliche Ordnung entsteht oder sichergestellt wird. Im Rahmen eines so festgelegten Regelwerkes von formalen und informalen Regeln können die wirtschaftlichen Akteure ihre Entscheidungen gemäß ihren eigenen Vorstellungen frei treffen. Die Regelorientierung unterscheidet die Ordnungspolitik vom staatlichen Interventionismus, der in individuelle Entscheidungen eingreift, um wirtschaftliche Ergebnisse vorzuprägen oder gar festzulegen. Ordnungspolitik sollte daher nicht mit Ordnungsrecht verwechselt werden.

In der Krise scheinen geltende Regeln ausgesetzt. Sie wirken überwunden, verschwinden aus dem Blickfeld; es macht sich vereinzelt eine Stimmung des "Anything goes" breit. In den persönlichen Freiheiten angesichts des Infektionsgeschehens stark eingeschränkt, nimmt der Wunsch zu, die Regelbindung der Wirtschafts- und Finanzpolitik aufzugeben. Dies gilt vor allem in der Finanz- und Geldpolitik, den seit Langem in der Debatte am stärksten umstrittenen Bereichen der Wirtschaftspolitik.

Rückkehr in den Regelrahmen

Aus dieser scheinbaren Entbindung von beschränkenden Regeln folgt nicht, dass das ordnungspolitische Prinzip regelgebundener Politik seine Bedeutung verlieren würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die Regelbindung der Ordnungspolitik dient dazu, politische Entscheidungsmacht und den Einfluss von Interessengruppen auf die Politik so einzuschränken, dass allgemeine Interessen verfolgt und Partikularinteressen zurückgedrängt werden. Die Autoindustrie hätte in der Krise eine Autoprämie sicher gut gefunden, während ordnungspolitisch vielmehr ein generöserer steuerlicher Verlustrücktrag angezeigt ist.

Die Bedeutung regelgebundener Politik wird insbesondere in der Finanz- und Geldpolitik deutlich. Die strikte Einhaltung der Schuldenbremse hat es Deutschland ermöglicht, seine Schuldenstandsquote nach der Finanzkrise von gut 82 Prozent des BIP im Jahr 2010 auf rund 59 Prozent des BIP im Jahr 2019 zurückzuführen. Dadurch verschaffte sich die Fiskalpolitik den notwendigen Spielraum, um sich in der Corona-Krise mit so umfangreichen fiskalpolitischen Maßnahmen gegen den Wirtschaftseinbruch zu stemmen und darüber hinaus ihre Bonität für die europäische Finanz- und Geldpolitik einzusetzen. Die nächste Krise kommt bestimmt. Bis dahin ist es notwendig, sich erneut fiskalpolitische Spielräume zu erarbeiten und widerstandsfähig gegen krisenhafte Entwicklungen zu bleiben. Andere Mitgliedsstaaten in der EU werden diese Widerstandsfähigkeit überhaupt erst einmal erreichen müssen. Und die EZB sollte zurückkehren zu einer Normalisierung des geldpolitischen Geschehens, damit die Sorge vor einer fiskalischen oder finanziellen Dominanz nicht weiter zunimmt und die Inflationserwartungen ungünstig beeinflusst.

Sehr viel Flexibilität in der Geldpolitik

Derzeit ist noch nicht absehbar, wie groß das Konsolidierungserfordernis in der Fiskalpolitik sein wird und wie rasch sich die EZB aus der unkonventionellen Geldpolitik verabschieden können wird. Die vergangenen zehn Jahre im Nachgang zur Finanzkrise lassen vermuten, dass die Geldpolitik noch relativ lange brauchen wird, bis sie zur Normalität zurückkehrt. Normalität würde bedeuten, dass die Phase der Negativzinsen beendet und die hohen Bestände an Anleihen in der Bilanz der EZB allmählich abgebaut werden. Das Ende der expansiven Geldpolitik hängt davon ab, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf das Produktionspotenzial in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion (EWU) haben wird, wie sehr die jeweiligen Bankensysteme in Mitleidenschaft gezogen werden und wie rasch die Kreditvergabe der Banken im Wirtschaftsaufschwung wieder anzieht. Die Wirtschaftslage in der EWU ist sehr heterogen und die EZB muss ihre Politik auf die Gesamtheit der Währungsunion ausrichten.

Der in der Geldpolitik gesetzte Regelrahmen lässt sehr viel Flexibilität zu. Jedenfalls ist es der EZB aber untersagt, monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben. Die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik sind jedoch fließender, als es einer ordnungspolitisch geprägten Politikperspektive lieb sein kann. Anhaltspunkte finden sich gleichwohl in der jüngeren Diskussion um die Geldpolitik, wie sie ihren prominentesten Ausdruck im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 findet. Demnach sollte die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen darlegen und sie muss bei ihren Anleihekäufen bestimmte Grenzen einhalten. Die Verhältnismäßigkeit der Geldpolitik lässt sich unter Verwendung von geldpolitischen Regeln, wie der Taylor-Regel, als Benchmark für die öffentliche Diskussion leicht nachvollziehbar demonstrieren. Die Grenzen für Anleihekäufe bestimmen sich gemäß dem Kapitalschlüssel, der die Mitgliedsstaaten anteilig abbildet, und den Emittenten- und Emissionslimiten, die sicherstellen, dass die EZB bei Umschuldungen keine blockierende Mehrheit erhält. Diese Grenzen lassen sich schon während der Krise im Zuge der Krisenpolitik einhalten.

Ausgabendisziplin wichtig

Die fiskalpolitische Konsolidierung in Deutschland sollte durch eine Rückkehr zur Regelgrenze der Schuldenbremse eingeläutet werden. Derzeit ist die Schuldenbremse nicht ausgesetzt, sondern ihre Ausnahmeklausel gilt, die eine höhere Verschuldung in Krisenzeiten erlaubt. Setzt sich der Aufschwung, wie vielfach erwartet, nach dem Abflauen der zweiten Infektionswelle gegen Ende des Winterhalbjahres fort und wird angesichts der verfügbaren Impfstoffe im weiteren Verlauf des Jahres 2021 nicht weiter aufgehalten, lässt sich die Ausnahmeklausel nicht mehr für das Jahr 2022 bemühen. Die Befürchtung, dass sich mit der Einhaltung der Regelgrenze der Schuldenbremse kräftige Einschnitte für die Bevölkerung auf der Ausgabenseite oder massive Steuererhöhungen verbinden, ist überzogen. Schon in der Flüchtlingskrise wurden erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, die nicht in Anspruch genommen wurden und in eine Reserve flossen, die selbst in der Corona-Krise nicht angetastet wurde. Ähnliches deutet sich in der Corona-Krise an. Bund und Länder haben erhebliche Kreditermächtigungen zur Verfügung, auf die sie im Sinne von Reserven zurückgreifen können. Diese Reserven sind insbesondere für Infrastrukturmaßnahmen geeignet, etwa in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung, für die sie nicht zuletzt in den Konjunkturprogrammen vorgesehen sind.

Insgesamt muss festgestellt werden, dass ein erheblicher Teil der finanzpolitischen Konsolidierung durch ein dynamischeres Wirtschaftswachstum erreicht wird. Dies war zusammen mit den niedrigeren Zinsausgaben der Schlüssel für eine erfolgreiche Konsolidierung im Zeitraum von 2010 bis 2019. Wirtschaftswachstum wird erneut der Schlüssel für den Konsolidierungserfolg in den kommenden zehn Jahren sein. Daher ist im Hinblick auf die einzuschlagenden Wege zur Konsolidierung festzuhalten, dass Steuererhöhungen eher kontraproduktiv sind. Steuererhöhungen haben ungünstige Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum.

Ausgabenseitig ist das finanzpolitische Umfeld allerdings etwas schwieriger als zuvor. Zwar lassen sich noch Konsolidierungsbeiträge niedrigerer Zinsausgaben erzielen. Sie dürften aber im Umfang geringer ausfallen als in den Jahren 2010 bis 2019. Nach einer bereits längere Zeit andauernden Niedrigzinsphase ist die Durchschnittsverzinsung der Staatsverschuldung in Deutschland geringer als vor zehn Jahren, wenngleich noch etwas höher als die gegenwärtigen Refinanzierungsbedingungen. Zudem wird sich die demografische Entwicklung ungünstiger auswirken, weil die Babyboomer ab dem Jahr 2021 in den Ruhestand gehen und dadurch ein Druck zu höheren monetären Sozialleistungen entsteht. Es wird daher auf der Ausgabenseite notwendig sein, Ausgabendisziplin zu üben, sodass Ausgabensteigerungen hinter der Wachstumsrate des BIP zurückbleiben. Strukturell darf diese Ausgabendisziplin nicht zulasten zukunftsträchtiger staatlicher Investitionen gehen.

In der EU ist die Rückkehr zu einer soliden Finanzpolitik in einigen Mitgliedsstaaten der Währungsunion wesentlich schwieriger. Es ist kaum zu erwarten, dass Italien oder Spanien ihre Schuldenquoten auf unter 60 Prozent des BIP bis zur nächsten Rezession zurückgeführt haben werden. Eine Rückkehr zu den Regelgrenzen der europäischen Fiskalregeln kann hierbei nur als Krücke dienen.

Die Aufbau- und Resilienzfazilität der EU wird zwar helfen, zukunftsträchtigere staatliche Investitionen anzustoßen. Aber ohne eigene Reformanstrengungen in den besonders von der Pandemie betroffenen Mitgliedsstaaten wird es schwierig werden, rechtzeitig vor der nächsten Rezession widerstandsfähig genug zu sein. Der Schlüssel zum Erfolg liegt hier ebenfalls im Wirtschaftswachstum. Die Wachstumsbedingungen der europäischen Volkswirtschaften müssen nachhaltig verbessert werden, um besser auf zukünftige Krisen vorbereitet zu sein. Die Aufbau- und Resilienzfazilität und die damit verbundene Verschuldungsmöglichkeit der EU sind nur temporär und sollten temporär bleiben. Diese Mechanismen dauerhaft einzurichten, würde falsche Anreize für die Mitgliedsstaaten setzen. Die EU würde Ausgaben finanzieren, über welche die Mitgliedsstaaten allein entscheiden würden, ohne dass die EU eine hinreichende Kontrolle hätte. Das ordnungspolitisch zentrale Haftungsprinzip, der Einklang von Haftung und Entscheidung, würde durchbrochen. Der daraus resultierende Fehlanreiz würde die notwendigen Reformen in nationaler Verantwortung gerade nicht zustande kommen lassen. Eine dauerhafte Verschuldungsmöglichkeit der EU kann es daher nur mit einem nennenswerten fiskalpolitischen Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten geben.

Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik, Universität Freiburg und Direktor des Walter Eucken Instituts
Prof. Dr. Dr. h.c. Lars P. Feld , Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik , Universität Freiburg und Direktor des Walter Eucken Instituts
Noch keine Bewertungen vorhanden


X