Vertriebspolitik

Die Filiale im Vertriebswege-Mix der Zukunft

Rückläufige Filialzahlen, zunehmende Onlinenutzung und Marktanteilsgewinne der Direktbanken sind die Symptome für einen tief greifenden Strukturwandel im Privatkundengeschäft. Das Kanalverhalten von Bankkunden hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten massiv verändert. Auf Basis der aktuellen IM-Privatkundenstudie 2012 zeigen wir auf, welche Kunden in welchen Kanälen heute welche Anforderungen an die Kundenbetreuung stellen und mit welchen Ansätzen filialbasierte Institute den Herausforderungen begegnen können. Im Mittelpunkt stehen dabei die Rolle und Gestaltung von Filialen im Rahmen von Multikanalstrategien. Wenn von der Beziehung zwischen Bank und Kunde die Rede ist, steht immer noch das Dreieck Kunde - Berater - Filiale im Fokus. Betreuungskonzepte, Beratungsansätze, Vertriebssteuerung und Qualitätssicherung (Beratungsprotokolle, Testkäufe) sind alle auf diese Konstellation ausgerichtet. Multikanalmanagement - verstanden als integrierte, systematische Steuerung von Informations-, Produkt-, Service- und Interaktionsangeboten über verschiedene Kanäle (Filiale, Telefon, Online, Brief) - ist in den meisten Häusern noch nicht gelebte Praxis.

Dabei bietet eine stärkere Ausdifferenzierung der Angebote auf die verschiedenen Kanäle die Chance, positive Ertragseffekte durch passgenauere Angebots- und Kanalkombinationen zu erzielen. Voraussetzung dafür ist ein genaues Verständnis des Kundenverhaltens bei der Nutzung von Bankprodukten und Vertriebskanälen. Auf dieser Grundlage lässt sich auch die Rolle der Filiale für jede Zielgruppe neu definieren - mit entsprechenden Konsequenzen für ihre Gestaltung und Ausstattung.

Zwei Verhaltensdimensionen sind entscheidend für die Entwicklung optimaler Vertriebskanalstrategien: Das preisbezogene Kaufverhalten und das Kanalnutzungsverhalten.

Das preisbezogene Kaufverhalten ist vor allem von Involvement und Kompetenz in Finanzangelegenheiten getrieben. Involvement und Kompetenz korrelieren positiv mit Einkommen, Vermögen, Nutzung von Finanzprodukten sowie Preissensibilität. Rund 20 Prozent (2010: 18 Prozent) der Finanzentscheider in 40 Millionen deutschen Haushalten sind hoch kompetent und stark involviert in Finanzangelegenheiten. Diese Preisentscheider fühlen sich sicher, wenn sie Finanzentscheidungen ohne Beratung treffen, sie informieren sich häufig und intensiv über Produkte und Konditionen und vergleichen fast immer mehrere Angebote.

Der Großteil der Kunden, nämlich 52 Prozent, sind Preissensible, die zum Beispiel ein Tagesgeld-Konto bei einer Direktbank abschließen, aber auf Beratung und Filialen nicht verzichten möchten. Preissensible sind nicht dauerhaft involviert, sondern engagieren sich je nach Anlass und Situation mehr oder weniger stark in Finanzangelegenheiten. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die Preisindifferenten, die sich in Finanzdingen nicht sicher fühlen und das Thema Finanzen nach Möglichkeit meiden. Sie suchen Beratung, holen oftmals kein Gegenangebot ein und entscheiden am Ende meist nicht nach dem Preis, auch wenn sie betonen, wie wichtig ihnen ein guter Preis ist. Rund 27 Prozent (2010: 29 Prozent) der Finanzentscheider gehören zu dieser Kundengruppe.

Anteil der Filialkunden schrumpft

Das Kanalnutzungsverhalten von Privatkunden hat sich in den vergangenen Jahren stark ausdifferenziert. Dabei zeigen sich drei grundlegende Verhaltensmuster:

Für Online-Kunden spielt die Filiale fast keine Rolle mehr. Lediglich in der Beratungs- und Abschlussphase wird die Filiale noch gelegentlich kontaktiert. Die Nachfrage dieser Kunden nach Beratung ist vergleichsweise gering, am liebsten schließen sie Finanzprodukte direkt im Internet ab. Allein von 2010 bis 2012 wuchs der Anteil der Online-Kunden von 24 Prozent auf 27 Prozent.

Das größte Kundensegment bilden mit 52 Prozent die Multikanalkunden. Sie nutzen für Information und Banking bevorzugt den Online-Kanal, für Beratung und Abschluss die Filiale und beim Service Online und Filiale gleichberechtigt. Internet und Filiale haben für diese Kunden eine ähnlich hohe Bedeutung.

Filialkunden nutzen in allen Phasen des Kaufzyklus - das heißt für Information, Beratung, Abschluss, Banking und Service - bevorzugt die Filiale. Vom Onlinebanking können diese Kunden bislang kaum überzeugt werden, eher nutzen sie die SB-Geräte in der Filiale. Der Anteil der Filialkunden liegt noch bei rund 21 Prozent - mit fallender Tendenz (2010: 26 Prozent).

Verhaltensbezogene Segmentierung

Aus der Zusammenfassung des preisbezogenen Kaufverhaltens und des Kanalnutzungsverhaltens ergeben sich sechs prägnante Kundentypen, die IM-Finanzentscheider: Online-affine Preisentscheider, Multikanal-Preisentscheider, online-affine Preissensible, preissensible Multikanalkunden, preissensible Filialkunden und (filialaffine) Preisindifferente (siehe Abbildung 1). Diese verhaltensbezogene Segmentierung erklärt, wie Kunden mit ihrer Bank interagieren und welche Erwartungen und Bedürfnisse sie im Kaufzyklus haben. Auch die Bankwahlentscheidung wird durch die zugrunde liegenden Einstellungen geprägt: Online-affine Preisentscheider, Multikanal-Preisentscheider und online-affine Preissensible sind bei Direktbanken, aber auch bei preisoffensiven Filialbanken, zum Beispiel Postbank und Sparda-Banken, überdurchschnittlich vertreten. Filialaffine Preissensible und Preisindifferente sind besonders häufig Kunden von Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken. Multikanal-Preissensible sind bei allen Bankengruppen anzutreffen, jedoch etwas häufiger bei Geschäftsbanken wie der Deutschen Bank (siehe Abbildung 2). Schon aus der Beschreibung der verschiedenen Kundentypen wird offensichtlich, dass die Anforderungen an die Kundenbetreuung unterschiedlich sein müssen.

Filialkunden werden durch die bisherigen Betreuungskonzepte am besten erreicht. Durch die häufigen Filialkontakte dieser Zielgruppe ergeben sich immer wieder Ges prächsanlässe. Bei Kunden, die ansonsten wenig Interesse und Initiative in Finanzangelegenheiten zeigen, ist die Nutzung dieser Kontakte besonders wichtig. Andererseits haben Filialkunden auch einen geringeren Produktbesitz und weniger Abschlussaktivität, daher ist Effizienz bei ihrer Betreuung ein Thema. Filialkunden werden in Relation zu ihrem Potenzial häufig überbetreut: Rund jeder zweite Filialkunde führt mindestens einmal im Jahr ein ausführliches Beratungsgespräch mit seiner Bank - der Durchschnitt aller Kunden liegt bei 40 Prozent. Filialkunden sind die aktivsten Nutzer von SB-Geräten, aber auch die Kunden, die bei einer Filialschließung am wahrscheinlichsten wechseln. Ohne Filiale mit persönlichem Ansprechpartner sind Filialkunden also kaum zu gewinnen, zu binden und ertragreich zu betreuen (siehe Abbildung 3).

Online-Kunden von Filialbanken zu wenig berücksichtigt

Online-Kunden sind grundsätzlich gut informiert und wenig beratungsbedürftig. Auch ohne Beratung schließen sie von allen Kundengruppen die meisten Produkte ab. Online-Kunden werden zwar durch Direktbanken gut betreut, von Filialbanken aber relativ schlecht erreicht. Dabei bezeichnet nur jeder vierte Online-Kunde eine Direktbank als seine wichtigste Bankverbindung. Und über 80 Prozent besuchen zumindest gelegentlich eine Bankfiliale. Für Information, Produktabschluss und Servicewünsche nutzen sie jedoch bevorzugt das Internet. Um Online-Kunden zu überzeugen, sollten Informationen und Abschlussmöglichkeiten auf Selbstbedienung ausgerichtet sein. Die Filiale nutzen sie weniger für einfache Bankgeschäfte als für qualifizierte Information, Service oder Beratung. Zur Beratung kommen sie vor allem, wegen konkreter, produktbezogener Anliegen, zum Beispiel Wertpapier- oder Baufinanzierungsberatung. Online-Kunden stellen daher auch höhere Anforderungen an Fachwissen und Problemlösungskompetenz der Mitarbeiter.

Multikanalkunden sind preissensibel

Über Multikanalkunden hört man gelegentlich die Meinung, sie seien "hybride" Kunden, die sich situativ unterschiedlich verhielten und deren Verhalten kaum vorhergesagt werden könne. Tatsächlich zeigen auch Multikanalkunden stabile, in sich homogene Verhaltensmuster. Multikanalkunden nutzen gezielt die Vorteile verschiedener Kanäle und schätzen das "sowohl als auch", das ihnen filialbasierte Banken bieten. Die Filiale und der persönliche Berater sind diesen Kunden wichtig. Jeder dritte Multikanalkunde gibt an, dass sein Bankberater über seine Vermögensverhältnisse immer gut informiert sei - in dieser Hinsicht unterscheiden sich Multikanalkunden kaum von Filialkunden, jedoch erheblich von Onlinekunden. Die eigene Bank wird als Informationsquelle gern genutzt, wobei Berater und Homepage der Bank ungefähr gleichauf liegen. Einfache und transparente Produkte wie Tagesgeld schließen diese Kunden jedoch auch online ab. Durch die hohe Onlinebanking-Nutzung sind die Filialkontakte geringer. Umso mehr kommt es darauf an, die Kontakte im Onlinebanking gezielt zur Überleitung in die Filiale zu nutzen. Filialbanken haben die besten Chancen, diese Kunden zu binden, wenn sie Multikanalkunden das Gefühl der persönlichen Beziehung zu ihrer Bank an allen Kontaktpunkten geben können.

Preisdurchsetzung ist bei Multikanalkunden ein zentrales Thema. Multikanalkunden sind zum großen Teil preissensibel - die sehr anspruchsvollen Multikanal-Preisentscheider bilden eine kleine, aber wichtige Teilgruppe. Sie achten bei der Kaufentscheidung auf den Preis, allerdings auch auf guten Service und das Vertrauensverhältnis zum Berater. Eine stringente Vorteilsargumentation, die auch emotionale Leistungsmerkmale hervorhebt, ist daher wichtig.

SB-Filialen nicht uneingeschränkt zu empfehlen

Welche Konsequenzen lassen sich nun für die Ausrichtung der Filiale ableiten? Diese Frage ist vor allem für die Flächenbanken, Sparkassen und Volks- und Raiffeisenbanken entscheidend. Mit 2 600 Kunden pro Geschäftsstelle bei Volksbanken Raiffeisenbanken und rund 3 800 Kunden pro Filiale bei Sparkassen sind sie deutlich näher an ihren Kunden als Großbanken mit 4 900 Kunden pro Filiale. Gerade in ländlichen Regionen ist ein weiterer Filialabbau jedoch meist mit einem Verlust an Marktreichweite verbunden.

Um Schließungen zu vermeiden, setzte man bisher meist auf kleinere Filialen mit eingeschränkten Funktionen, zum Beispiel SB-Filialen ohne Beratung und persönlichen Service, Banking-Shops ohne qualifizierte Beratung und mit eingeschränktem Service oder die Beratungsfiliale ohne Information, Service und Problemlösung. Nach einer Studie des ZEW aus dem Jahr 2008 sollen zukünftig nur noch 40 Prozent aller Filialen Vollservice-Geschäftsstellen sein. Diese funktionale Aufteilung hat für Banken organisatorische Vorteile. Die Ansprüche an die Mitarbeiter sind klar definiert, die Umsetzung der Filialkonzepte weniger komplex.

Aus Marktsicht ist diese Vorgehensweise jedoch weniger empfehlenswert. SB-Filialen werden zwar von Filialkunden gern genutzt, gleichzeitig entfallen jedoch vertrieblich nutzbare Kontakte. Multikanalkunden weichen auf andere Kanäle aus oder nutzen für die Beratung eine weiter entfernte Filiale. Dennoch ist die Umwandlung in eine SB-Filiale letztlich mit Kundenverlusten verbunden, die sich nur schwer durch Neukundengewinnung kompensieren lassen. Filialkonzepte ohne Bargeldversorgung und Service reduzieren die Grundauslastung der Filiale erheblich. Andererseits benötigen Multikanal- und Online-Kunden, keine SB-Geräte, sondern qualifizierte Berater und Problemlöser. Die Reduzierung der Funktionalität verschlechtert also Akzeptanz und Auslastung der Filiale und schiebt die endgültige Schließung des Standorts meist nur hinaus (siehe Abbildung 4).

Videotelefonie wertet kleine Standorte auf

Schon heute belegen Direktbanken Spitzenplätze bei der kompetenten und aussagekräftigen Beantwortung von Anfragen per Telefon und E-Mail. Durch zentrale Wissensdatenbanken und standardisierte Prozesse erzielen sie Wettbewerbsvorteile gegenüber Filialbanken mit rein beratergebunden Prozessen.

Die technische Entwicklung bietet jedoch auch ganz andere Möglichkeiten: Kleine Filialen mit weniger als vier Mitarbeiterkapazitäten so zu betreiben, dass sie die Stärken der Filiale, nämlich persönlichen Kontakt und vollen Zugang zu den Leistungen der Bank ausspielen können. Durch die Zuschaltung von spezialisierten Beratern per Skype (Videotelefonie), den Zugriff auf Wissensdatenbanken, Gesprächsleitfäden und Argumentarien sowie eine ganzheitliche Kundensicht und Kundenkontakthistorie werden auch kleine Filialen in die Lage versetzt, Kunden ganzheitlich zu betreuen.

Zielgruppenspezifische Betreuungskonzepte müssen zukünftig nicht zwingend an eine Filiale gebunden sein. Kanalübergreifende Betreuungskonzepte werden bei einigen Banken und Sparkassen zum Beispiel im Gewerbekundensegment umgesetzt beziehungsweise befinden sich in Vorbereitung. Kernelemente sind ein verbesserter Kundenservice per Telefon und E-Mail mit einer Erreichbarkeit von 50 Stunden in der Woche, die Verlagerung von Kompetenzen und Know-how in die Direktkanäle, das heißt Auskunft, Beratung, (Kredit-)Prüfung und Abschlussmöglichkeit sowie der Ausbau der Dialogkompetenzen durch Skype (Videotelefonie über Internet) oder Beraterchat.

Filiale wertschöpfend vernetzen

Die Steigerung der Kontakte zwischen Berater und Bank geht mit erheblichen Kostenvorteilen und besserer Kundenbindung einher. Ähnliche Betreuungskonzepte sind auch für online- oder multikanalaffine Privatkunden-Segmente denkbar, zum Beispiel für junge Kunden oder Freiberufler.

Die Filiale ist zu teuer, um allein als Servicezentrum für Online-Verweigerer zu dienen. Ziel muss die wertschöpfende Vernetzung der Filiale im Rahmen intelligenter Multikanalstrategien sein. Nur dann kann die Filiale ihre Stärken, nämlich persönliche Ansprechpartner, qualifizierte Beratung und kompetente Problemlösung, auch in Zukunft voll ausspielen. Für die bedarfsspezifische Differenzierung und Ausrichtung des Vertriebswege-Mix am Kundenverhalten bilden die IM-Finanzentscheider eine tragfähige Grundlage.

Dr. Oliver Mihm , Vorsitzender des Vorstands, Investors Marketing AG, Frankfurt am Main
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