Exponentielles Wachstum

Dr. Claudia Klausegger

Quelle: privat

Das Phänomen des Wachstums spielt in seinen unterschiedlichen Dimensionen nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart und Zukunft eine entscheidende Rolle, sei es zum Beispiel in Form der Auseinandersetzung mit dem Wachstum von mit einer epidemischen Krankheit Infizierten oder in Form des Wachstums einer Kapitalanlage. Mathematisch betrachtet, können Wachstumsprozesse zwei unterschiedlichen Dynamiken folgen.

Beim linearen Wachstum erhöht sich der Bestand in jeder Zeiteinheit um einen fixen Wert. Das bedeutet, dass in gleichen Abständen jeweils die gleiche Menge dazu kommt. Ein Beispiel dazu: Ein Autowerk stellt bei einer monatlichen Produktion von 15 000 Autos in einem Jahr 180 000 Autos her. Ein lineares Wachstum ist überschaubar und erschließt sich dem menschlichen Verstand sehr gut.

Die mathematische Berechnungsformel dazu lautet:

B(t) = k · t

B(t) = Bestand nach t Zeiteinheiten

k = Zuwachs pro Zeiteinheit

t = Anzahl der Zeiteinheiten

Ergebnis im Fall des obigen Beispiels:

B(12) = 15 000 · 12 = 180 000

Beim exponentiellen Wachstum vergrößert sich in jeder Zeiteinheit ein Bestand um denselben Faktor, was einen immer größeren Zuwachs bedeutet. Zur Veranschaulichung: Wenn die Covid-19-Infektionen pro Tag um 10 Prozent steigen, so sind es (bei 100 Infektionen am ersten Tag) eine Woche später (am achten Tag mit 195 Fällen) nahezu doppelt so viele.

Das anfangs noch niedrige Wachstum beschleunigt sich somit rasant. Nach einem Monat (nach 30 Tagen) hat sich der Wert auf 1 745 Infektionen pro Tag beinahe verachtfacht. Die Einschätzung dieses exponentiellen Wachstums überfordert vielfach den menschlichen Verstand.

Die mathematische Berechnungsformel dazu lautet:

Formel 1

B(t) = Bestand nach t Zeiteinheiten

B(0) = Bestand zu Beginn

p = Wachstum in Prozent pro Zeiteinheit

t = Anzahl der Zeiteinheiten

Ergebnis im Fall der obigen Beispiele:

Formel 2

Beispiel Weizenkörner

Für die Kraft des exponentiellen Wachstums gibt es viele beeindruckende Beispiele. Das exponentielle Wachstum wird

zum Beispiel bei der orientalischen "Weizenkörnersage" besonders deutlich. Sissa ibn Dahir, ein Brahmane, hat im 4. Jahrhundert in Indien die Urform des Schachspiels erfunden. Dieses Spiel beeindruckte seinen Herrscher, der ihm einen freien Wunsch gewährte. Dieser wünschte sich Weizenkörner: Auf das erste Feld des Schachbretts ein Korn, auf das zweite die doppelte Menge, zwei Körner, auf das dritte Feld wieder die doppelte Menge, vier Körner, und so weiter. Der Herrscher war zunächst von der Bescheidenheit des Brahmanen überrascht. Noch überraschter war er allerdings als ihm sein Haushofmeister mitteilte, dass so viele Weizenkörner 1 + 2 + 22 + 23 + ... +263 im ganzen Reich nicht aufgebracht werden können.

Denn in der sich hier ergebenden Summe zeigt sich die Dynamik des exponentiellen Wachstums:

18.446.744.073.709.551.615 (18 Trillionen, 446 Billiarden, 744 Billionen, 73 Milliarden, 709 Millionen, 551 Tausend und 615) Weizenkörner wären notwendig gewesen, um Sissa ibn Dahir so zu belohnen, wie er es angeregt hatte.

Die mathematische Berechnungsformel dazu lautet:

Formel 3

B(t) = Anzahl nach t Schachfeldern

t = Anzahl der Schachfelder

Ergebnis im Fall des obigen Beispiels:

Formel 4

Eine der wichtigsten Erscheinungsformen des exponentiellen Wachstums in der Wirtschaft ist der Zinseszinseffekt. Er tritt ein, wenn die jährlich anfallenden Zinsen nicht ausgeschüttet, sondern jedes Jahr dem angelegten Betrag hinzugerechnet werden. Durch den Zinseszinseffekt steigt der Wert der Geldanlage exponentiell. Die mit ihm verbundene Hebelwirkung ist umso größer je höher der Zinssatz und je länger die Geldanlagedauer ist. Auch bei der Geldanlage zeigt sich, dass die kognitive Fähigkeit eingeschränkt ist, da den meisten Geldanlegern oft nicht bewusst ist, dass eine Differenz von wenigen Prozentpunkten einen erheblichen Unterschied in der längerfristigen Kapitalentwicklung ausmacht.

Paradebeispiel Zinseszinseffekt bei der Geldanlage

Diese Besonderheit zeigt sich zum einen bei der Einmalanlage. Zur Veranschaulichung zwei Beispiele:

  • Wenn 100 000 Euro auf 25 Jahre bei 4 Prozent Zinsen angelegt werden, erreicht der Sparer nach 25 Jahren 266 583,63 Euro.
  • Wenn hingegen 100 000 Euro bei 1,5 Prozent Zinsen auf 25 Jahre angelegt werden, erreicht dieser nach 25 Jahren mit 145 094,540 Euro deutlich weniger.

Die mathematische Berechnungsformel dazu lautet:

Formel 5

B(t) = Endwert

B(0) = Einmalanlage

t = Anzahl der Jahre

p = Zinsen in Prozent pro Jahr

Das Ergebnis im Fall der vorigen Beispiele sieht dann folgendermaßen aus:

Formel 6

Dieser Unterschied zeigt sich auch bei regelmäßiger Geldanlage wie bei der Altersvorsorge, bei der das Ansparen üblicherweise über eine längere Zeit erfolgt. Zu dieser Auswirkung des Zinseszinseffektes bei der Geldanlage zwei Beispiele:

Wenn bei einer jährlichen Anlage (Sparrate) von 12 000 Euro bei einer Ansparzeit von 25 Jahren ein Zinssatz von 2 Prozent zur Anwendung kommt, ergibt sich ein Endwert von 392 050,87 Euro.

Bei der gleichen jährlichen Anlage und der gleichen Ansparzeit kommt der Anleger bei einem Zinssatz von 6 Prozent auf einen deutlich höheren Endwert von 697 876,59 Euro.

Die mathematische Berechnungsformel dazu lautet:

Formel 7

B(t) = Endwert

t = Anzahl der Jahre

r = Sparrate

q = Zinsfaktor = 1 + p ./. 100

p = Zinsen in Prozent pro Jahr

Ergebnis im Fall der obigen Beispiele:

Formel 8

Wenn man diese exemplarischen Beispiele betrachtet, überrascht es nicht, dass der Zinseszinseffekt, als eine Auswirkung des exponentiellen Wachstums, von Albert Einstein als das achte Weltwunder bezeichnet wurde. Eine gern zitierte Aussage von Kenneth E. Boulding, US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler britischer Herkunft, zeigt die Grenzen des exponentiellen Wachstums auf: "Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist." Obwohl das exponentielle Wachstum scheinbar unbegrenzt sein kann, ist dies in unserer begrenzten Welt zumeist nicht der Fall, da das Wachstum an seine Grenzen stößt, das heißt der Zuwachs irgendwann abschwächt oder das Wachstum gänzlich endet.

Bei einer Epidemie endet das Wachstum beispielsweise dann, wenn große Teile der Bevölkerung immun sind (sei es durch das Überstehen der Erkrankung oder durch Impfung), bei der Weizenkörnersage endet das Wachstum durch die Unmöglichkeit der Aufbringung von so viel Weizen und bei der Geldanlage durch eine Veränderung der Bedingungen. Trotz dieser Grenzen, gilt es auf das Phänomen des exponentiellen Wachstums zu achten.

Dr. Ewald Judt ist Honorarprofessor der Wirtschaftsuniversität Wien, ewald.judt[at]wu.ac[dot]at.

Dr. Claudia Klausegger ist Assistenzprofessorin am Institut für Marketing-Management der Wirtschaftsuniversität Wien, claudia.klausegger[at]wu.ac[dot]at.

Dr. Ewald Judt , Honorarprofessor , Wirtschaftsuniversität Wien
Dr. Claudia Klausegger , Assistenzprofessorin am Institut für Marketing-Management der Wirtschaftsuniversität Wien

Weitere Artikelbilder

Noch keine Bewertungen vorhanden


X