Zielgruppenmanagement

Inaktive Kunden - das verborgene Potenzial

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Bis zu 50 Prozent der Bestandskunden von Banken und Sparkassen sind inaktiv, ein noch größerer Teil hat keine besondere Bindung zu seinem Finanzinstitut. Um diese Kunden wieder zu aktivieren und für sich zu gewinnen, reichen klassische Optimierungsprojekte nicht aus, so Oliver Mihm. Wichtig ist stattdessen ein tiefgreifender Veränderungsprozess, bei dem der Kunde zunächst wieder emotional an die Bank herangeführt werden muss, bevor man ihm konkrete Produkt- und Leistungsangebote unterbreitet. Das vorgeschlagene 3 - Phasen - Konzept mit Emotionalisierung, Aktivierung und Etablierung nimmt einen Zeitraum von zwei Jahren ein. Red.

Die Zahlen sind beeindruckend: 40 bis 50 Prozent der Bestandskunden von Banken und Sparkassen im Privatkundengeschäft sind inaktiv. Diese Kunden sind zwar grundsätzlich noch im Bestand, haben aber die Bindung zur Bank nahezu verloren. Klassische Kennzeichen für diese Gruppe sind

- ein Girokonto ohne Gehaltseingang,

- Ein-Produkt-Kundenbeziehungen oder auch

- ein Depot ohne Transaktionen.

Ist der letzte Beratungskontakt darüber hinaus auch noch Jahre her oder erhält man vom Kunden weder Service- noch Informationsanfragen, kann man davon ausgehen, dass hier eine massive Entfremdung in der Kunde-Bank-Beziehung stattgefunden hat. Aber gerade vor dem Hintergrund der schwierigen und kostspieligen Neukundengewinnung im Privatkundenbereich sind inaktive Bestandskunden ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Die Reaktivierung inaktiver Kunden hat einen direkten Ertragshebel und es ist kostengünstiger als die Gewinnung neuer Kunden.

Schwache Kompetenzwahrnehmung fördert rationalen Bindungsverlust

Das Paradoxe dabei ist, dass diese inaktiven Kunden mit ihrer Bank auf den ersten Blick gar nicht unzufrieden sind. Laut der Zahlen der IM-Trendstudie 2015 stieg im Gesamtschnitt über alle Institute die Zufriedenheit der Bankkunden von 61 Prozent im vergangenen Jahr auf 64 Prozent im Jahr 2015, obwohl rein statistisch ein Gutteil der Befragten eigentlich inaktive Kunden sind.

Der Widerspruch wird deutlich, wenn man die eher globale Zufriedenheitsebene verlässt. Dann ergibt sich ein deutlich differenzierteres Bild: Die relativ hohen Zufriedenheitswerte spiegeln beim Kunden lediglich eine für die Kategorie Finanzdienstleistungen typische Trägheit in der Wechselbereitschaft wieder.

So trauen nur 30 Prozent der Kunden von Geschäftsbanken und 24 Prozent der Direktbankkunden ihrer Bank mehr Kompetenz in finanziellen Fragestellungen zu als anderen Anbietern. Doch wenn Kompetenz beim eigenen Anbieter nicht mehr gesehen wird, steigen der rationale Bindungsverlust und die Offenheit für andere - oftmals preisgetriebene - Alternativangebote.

Fairness und Kundenerlebnis stark verbesserungswürdig

Das zeigt sich auch bei eher emotional gelagerten und häufig impliziten Bindungsfaktoren. Mehr als 80 Prozent der Kunden von Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken und Geschäftsbanken vertrauen ihrer Bank nicht vollständig hinsichtlich der Fairness. Die Erschütterungen der Finanzkrise und ihre Nachwehen haben sich bei den Kunden offensichtlich institutsübergreifend eingebrannt.

Konkrete Handlungsfelder ergeben sich auch beim Kundenerlebnis. Das Gefühl, für ihre Bank wichtig zu sein, haben nur 29 Prozent der befragten Kunden. Dies ist eine erneute Verschlechterung um 7 Prozentpunkte im Vergleich zur Befragung im letzten Jahr. 74 Prozent der Kunden attestieren ihrer Bank keine besondere Kundenorientierung im Vergleich zu anderen Unternehmen.

Die Härte des Vertrauens- und Bindungsverlusts auf Kundenseite scheint in den Führungsetagen der Banken noch nicht in Gänze angekommen zu sein. Die von uns befragten Top-Entscheider gehen davon aus, dass 77 Prozent der Kunden ihrem Bankberater vertrauen.

Banken überschätzen ihre Position gegenüber dem Kunden

Das ist eine eklatante Fehleinschätzung, wenn man diese Innensicht mit der Realität spiegelt: Der Anteil der Kunden, der ihrem Berater vertraut, ist mit 35 Prozent noch nicht einmal halb so hoch. Egal ob Fairness, Kompetenz oder Wertschätzung - Kunden haben ein durchweg schlechteres Bild von Banken als die Entscheider ebene es wahrnehmen will. Um die Kunde-Bank-Beziehung wieder nachhaltig aufzubauen, ist ein systematisches Konzept der Nähe umzusetzen, gerade auch im Hinblick auf den zunehmenden Wettbewerbsdruck aus dem Online-Bereich.

Wechselbereitschaft zu Paypal und Co. steigt signifikant

Die Wechseloptionen für Geldangelegenheiten sind durch den digitalen Wandel für Privatkunden stark angestiegen. 38 Prozent der Privatkunden können sich heute schon vorstellen, ihr Girokonto bei PayPal abzuschließen. Die klassischen Banken werden gezielt in die Zange genommen:

- Zum einen drängen etablierte Anbieter aus der Online-Welt wie Google oder Paypal und Co. vor allem in das Feld Zahlungsverkehr,

- zum anderen tummeln sich zahlreiche Fintechs in nahezu allen Bereichen der originär klar Banken zugeschriebenen Leistungsgebiete.

- Gleichzeitig tauschen sich nur noch 11 Prozent der Bankkunden in der Kernzielgruppe von 30 bis 59 Jahren regelmäßig mit ihrem Filialberater aus.

Es ist also höchste Zeit, die angeschlagene Beziehung von Bank und Kunde nachhaltig und emotional wieder aufzubauen. Denn nur stabile Kundenbeziehungen können eine Abwanderung vermeiden beziehungsweise inaktive Kunden wieder zur Bank zurückführen.

Ein Paradigmenwechsel ist notwendig

Der Wiederaufbau von emotionaler Nähe zwischen Bank und Kunde kann jedoch nur durch einen Paradigmenwechsel erreicht werden. Mit dem Steuerungsparadigma einer deckungsbeitragsorientierten A/B/C/D-Logik spricht die Bank inaktive Kunden erst gar nicht an oder aber es erfolgt eine klassische, von aktiven Kunden abgeleitete Kommunikation. Das heißt, der inaktive Kunde erhält Produktmailings und Einladungen zu Beratungsgesprächen in regelmäßigen Abständen. Seit etwa 25 Jahren werden diese Anstoßkettensystematiken kontinuierlich optimiert - allerdings ohne dass sich die Cross-Selling-Quoten dadurch massiv verbessert hätten.

Um tatsächliche Erfolge in der Kundendurchdringung zu erzielen, ist ein Wechsel des Ansatzes notwendig. Es gilt, den Kunden wieder emotional an die Bank heranzuführen, dies gilt für inaktive Kunden in noch höherem Maße, ist aber auch relevant, um aktive Kunden weiter zu binden.

Die Kommunikation muss also den Kunden auf einer emotionalen Ebene adressieren und dies zunächst ohne direkten Fokus auf Produktvorteile oder zeitlich begrenzte Vertriebsaktionen. Unter einer intelligenten Nutzung aller zur Verfügung stehenden Kanäle kann so die Kunde-Bank-Beziehung langsam wieder aufgeladen werden.

Voraussetzung: Bewusstmachung des Veränderungsprozesses

Obwohl mit der Hebung des Potenzials von inaktiven Kunden ein klarer Ertragseffekt verbunden ist, ist es kein klassisches Optimierungsprojekt für eine Bank. Vielmehr handelt es sich um einen Veränderungsprozess mit grundlegend differenzierten Ansätzen.

Vor dem Beginn des Projekts ist es daher entscheidend, alle Beteiligten auf diesen Paradigmenwechsel vorzubereiten und vor allem Offenheit, Kreativität und Begeisterung für das Thema zu wecken. Denn nur mit der Motivation und Innovationsfreude jedes involvierten Mitarbeiters kann am Ende durch einen kontinuierlichen Austausch ein erfolgsversprechender Ansatz ent stehen.

Ein mögliches Instrument zum Projektauftakt ist die Durchführung einer Zukunftswerkstatt. Hier können zum einen die strategische Wertigkeit und die Trageweite des Projekts, andererseits aber auch die Anforderungen an alle Beteiligten herausgearbeitet werden. Im Rahmen solcher Zukunfts-Workshops wird außerdem ein erster Grundstock an Ideen und Visionen gelegt. So können sowohl kritische Punkte im heutigen Umgang mit inaktiven Kunden gesammelt (Status quo) als auch Ideen für neue Ansätze erarbeitet werden (Vision).

Wichtig ist, dabei auch mögliche interne Barrieren zu identifizieren und aufzulösen.

- So ist es beispielsweise von zentraler Bedeutung, dem Filialvertrieb zu vermitteln, dass es nicht Ziel ist, jemandem (inaktive) Kunden "wegzunehmen", sondern vielmehr diese Kunden zu reaktivieren und dann als werthaltigen und aktiven Kunden dem Vertriebsmitarbeiter zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung zu stellen.

- Auf der anderen Seite sind aber auch die Mitarbeiter im Betrieb gefordert, die Prozesse und Services für ein verbessertes Kundenerlebnis zu verbessern.

- Nur wenn Vertrieb und Betrieb an einem Strang ziehen, wird der Kunde dies wahrnehmen und positiv vermerken.

Erstellung eines Konzepts der emotionalen Nähe

Sobald das Thema als klarer Veränderungsprozess bei den Mitarbeitern platziert ist und eine gemeinsame Aufbruchsatmosphäre geschaffen wurde, kann die tiefere inhaltliche Ausarbeitung starten. Zu Beginn ist ein gemeinsames Verständnis von inaktiven Kunden zu schaffen. Dabei kann man sich einer einheitlichen Definition aus Bankperspektive (zum Beispiel kein Beraterkontakt seit über zwei Jahren) oder Kundenperspektive (zum Beispiel "Ich nutze mein Girokonto schon länger nicht mehr bei dieser Bank") nähern.

Entscheidend ist, dass in der Konkretisierung der Definition für inaktive Kunden klare Parameter festgelegt werden können. Das heißt, eine Selektion der inaktiven Kunden sollte auf Basis der vorhandenen Daten im CRM-System der Bank oder Sparkasse gemäß klarer Parameter möglich sein. Danach ist ein Kreativ- und Konzeptionsschritt zu durchlaufen, in dem das Herzstück des Ansatzes gemeinsam entwickelt wird. Inhalte, Rhythmus und Kanäle der zur Umsetzung des Konzepts der emotionalen Nähe notwendigen Schritte sind zu erarbeiten.

Damit das volle kreative Potenzial genutzt werden kann, sollte in dem Projektteil ein sehr flexibles und agiles Projektmanagement angesetzt werden. Ziel ist es, Ideen zur Kommunikation aufzunehmen, zu schärfen und final in klare Kommunikationssteckbriefe zu übersetzen. Wichtig ist dabei die integrierte Perspektive unter Berücksichtigung und Nutzung aller relevanten Kommunikationskanäle.

Drei Phasen: Emotionalisierung, Aktivierung, Etablierung

Der Zeitraum für einen nachhaltigen Erfolg liegt bei rund zwei Jahren - auch das ist eine klare Abweichung von den regulären Betrachtungszeiträumen und erfordert strategische Weitsicht. Aber nur durch eine konstante und systematische Emotionalisierung der inaktiven Kunden können diese wieder aktiviert und bestenfalls als aktive Kunden etabliert werden.

Bei stationären Geschäftsmodellen gilt besonderes Augenmerk den Beratern in der Filiale: Diese haben als potenzieller persönlicher Kontaktpunkt eine Schlüsselrolle bei der Reaktivierung inaktiver Kunden. Gerade in der Emotionalisierungsphase sollen die Kunden durch produktferne und dafür hochemotionale Kommunikation erreicht werden. Mögliche Inhalte können dabei aus regionalen, sportlichen oder gesellschaftlichen Themenkomplexen generiert werden. Ziel ist es, hier die Kunde-Bank-Beziehung wieder emotional aufzuladen.

Das Herausbrechen aus klassischer Vertriebskommunikation mit Produktbroschüren oder Infoflyern ist notwendig, um überhaupt wieder die Wahrnehmungsschwelle beim Kunden zu durchbrechen und damit die erste notwendige Bedingung für eine Reaktivierung zu legen. Erst in der Phase der Aktivierung (frühestens nach 12 Monaten) kann behutsam im Rahmen von Lebenswelten und Bedarfssituationen eine Heranführung an das Leistungsportfolio der Bank oder Sparkasse erfolgen.

Auch hier gilt es nicht einfach nach Standard vorzugehen, sondern eine intelligente Systematik zu entwickeln, auf Basis derer solche Angebote je nach Zielpersonen adaptiert werden können. Der Erfolgsbeweis bei der Umsetzung des Konzepts der Nähe ist schließlich die Etablierung: Jeder reaktivierte Kunde wird in diesem Schritt in die bestehende Betreuungslogik der Bank eingegliedert und steht so den Vertriebsmitarbeitern zur weiteren Durchdringung zur Verfügung.

Transfer auf den gesamten Multikanal-Ansatz und andere Kundengruppen

Ein solches Konzept der emotionalen Nähe ist notwendig, um vom Kunden wieder als vertrauensvoller Partner für Geldangelegenheiten wahrgenommen zu werden. Denn dies ist die unvermeidliche Basis für alle im Zeitverlauf folgenden ökonomischen Effekte. Bei der zunehmenden Auswahl an Finanzdienstleistern sind für den Kunden Vertrauen und emotionale Bindung an eine Bank die notwendige Basis - lange bevor Entscheidungen zu Produkten gefällt werden.

Diese einfache Erkenntnis findet ihren Weg aber leider nur sehr selten in die Praxis. Denn ein solch emotionales Konzept erfordert Mut und eine langfristige Perspektive, zahlt sich aber durch ein entsprechendes Return on Investment oft um ein Vielfaches aus.

In den ersten Pilotprojekten konnte bereits nach 12 beziehungsweise 8 Monaten nachgewiesen werden, dass das Aktiv- und Passivvolumen gegenüber der Kontrollgruppe um bis zu 300 Prozent gesteigert wurde. Und bei erfolgreicher Durchführung in der Zielgruppe der inaktiven Kunden kann das Konzept der Nähe natürlich auch auf weitere Kundengruppen ausgedehnt werden. Denn für diese gilt in einem integrierten Multikanalansatz genauso: Vertrauen und emotionale Nähe sind die Basis für langfristige und werthaltige Kundenbeziehungen.

Zum Autor

Dr. Oliver Mihm, Vorsitzender des Vorstands, Investors Marketing AG, Frankfurt am Main

Dr. Oliver Mihm , Vorsitzender des Vorstands, Investors Marketing AG, Frankfurt am Main

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