VERSICHERUNGEN

"Der Höchstrechnungszins spielt in der Produktentwicklung keine direkte Rolle" - Interview mit Guido Bader

Dr. Guido Bader, Foto: DAV

Der Wandel in der Produktpolitik der Lebensversicherung hat die Tätigkeit der Aktuare noch spannender gemacht als früher, sagt Guido Bader. Neben der klassischen Lebensversicherungsmathematik müssen sie sich zunehmend mit Finanz- und Kapitalmarktmathematik befassen und werden in Kapitalanlageprozesse einbezogen. Ein Ärgernis aus aktuarieller Sicht ist das immer geringere Verständnis der Politik dafür, dass die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben Zeit braucht. Das gilt zum Beispiel für eine mögliche Absenkung des Höchstrechnungszinses, wie ihn die Deutsche Aktuarvereinigung vorgeschlagen hat, oder auch für einen Provisionsdeckel in der Lebensversicherung. Red.

Wie tot ist die klassische Lebensversicherung?

Der Begriff "tot" ist unschön. Es ist ein Produkt, das zunehmend in den Hintergrund tritt, weil die Garantien neuer Produkte weiterhin sinken. Wir sehen jetzt auch im Markt, dass die Überschussbeteiligung weiter zurückgeht. Die klassische Lebensversicherung ist ein Produkt, das aufgrund des Kapitalmarktumfelds und der mit den Garantien verbundenen sicheren Anlagen geringere Renditeaussichten bietet. Wir sehen ja in der gesamten Altersvorsorge die Diskussion, dass Versicherungsnehmer stärker in chancenorientierte Anlagen investieren wollen und auch sollen.

Das führt letztlich dazu, dass das klassische Produkt nur noch für sehr konservative Anleger geeignet ist. Es ist sicherlich auch noch für kürzere Laufzeiten und Entsparprozesse geeignet, die traditionell sehr sicher sein sollen. Für lange Ansparprozesse auf die Rente hat es jedoch immer geringere Bedeutung.

Wie verändert das die Aufgabe der Aktuare?

Die Produktentwicklung ist in der "neuen Welt" für die Aktuare deutlich spannender geworden. Bei den Versicherungsprodukten gibt es immer noch Garantiekomponenten, die teilweise - wie bei Riester - vom Gesetzgeber sogar gefordert sind.

Die Garantien sind auch von vielen Kunden noch gewünscht. Wir sehen beispielsweise im Markt viele Produkte, die eine Art Sicherheitsnetz haben. Diese Verbindung aus Garantie- und Chancenkomponenten macht die Produktentwicklung anspruchsvoll und interessant. Die Aktuare sind zunehmend in Kapitalanlageüberlegungen einbezogen. Denn Chancenkomponente haben immer eine gewisse Volatilität. Um die in den Produkten enthaltenen Grundgarantien sicherzustellen, müssen sich die Aktuare Gedanken machen, wie zwischen Garantie- und chancenorientiertem Anteil umgeschichtet werden muss.

Dabei kommen automatisierte Umschichtungsmechanismen ins Spiel. Auch hier sind die Aktuare einbezogen, da die Algorithmen erst einmal entwickelt werden müssen. Wir sehen also eine Verschiebung von der alten, klassischen Lebensversicherungsmathematik hin zu einer Mischung aus Lebensversicherungs- und Finanzmathematik. Das ist ein sehr spannender Prozess.

Beim Sozialpartnermodell in der bAV gibt es überhaupt keine Garantien. Sind die Aktuare dort außen vor?

Im Gegenteil! Hier sind wir mittendrin dabei. Der Wunsch der Sozialpartner ist es, trotz des Garantieverbots möglichst stabile Kapitalverläufe und vor allem in der Rentenbezugsphase keine nach unten schwankenden Renten zu haben. Dafür müssen die Aktuare ihre klassischen Untersuchungen zu Sterbewahrscheinlichkeiten mit Analysen der Kapitalmärkte verbinden. Hier muss der Aktuar überlegen, welche Kapitalanlagen eingebunden werden, wie stark sie schwanken und wie beherrschbar sie sind. Das erfordert ein ganz enges Zusammenspiel der Aktuare, die die Produkte bauen und die Stabilisierungsalgorithmen für solche Renten entwickeln, mit den Asset Managern, die mathematisch beherrschbare Kapitalanlagen dahinter stellen.

Früher hat der Lebensversicherungsaktuar Sterbetafeln, Kosten und Zins beherrscht. Heute muss er nicht nur Lebensversicherungsaktuar, sondern darüber hinaus auch Finanzmathematiker sein.

Ist es nicht schwierig, solche Allrounder zu finden?

Die Branche braucht Aktuare nicht nur in der Produktentwicklung, sondern unter anderem auch im Risikomanagement, in den IT-nahen Bereichen und in der Bilanzmathematik. Und obwohl die deutsche Aktuarvereinigung jedes Jahr über 200 Mitglieder aufnimmt - mittlerweile haben wir schon mehr als 5 500 Mitglieder - ist der Bedarf an Aktuaren immens.

Hinzu kommt das ganz neue Feld Data Science rund um Künstliche Intelligenz und Big Data. Auch hier brauchen wir aktuarielles Know-how. Denn auch Künstliche Intelligenz muss mit Daten gefüttert werden und diese Daten müssen interpretiert beziehungsweise die KI muss überwacht werden. Auch das ist ein Thema für die Deutsche Aktuarvereinigung.

Stichwort Künstliche Intelligenz. Welche Rolle kann KI in der Lebensversicherung spielen?

Derzeit spielt sie noch eine untergeordnete Rolle. Ich persönlich glaube auch nicht, dass wir in der Produktentwicklung und Kalkulation von Lebensversicherungen künftig in großem Maße Big Data oder KI sehen werden.

Man kann vielleicht auf der Basis von Daten, die der Kunde zur Verfügung stellt, relativ genau vorhersagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Mensch in den nächsten drei oder vier Jahren berufsunfähig werden könnte. Die Lebensversicherer bieten ihre Produkte jedoch über sehr lange Laufzeiten an. In 30 oder 40 Jahren kann so viel passieren, dass die Daten, die heute vorliegen, schlicht nicht ausreichen, um mögliche Veränderungen zu erklären. Traditionell kalkuliert man deshalb mit Sicherheiten und gewährt Überschüsse. So wird es auch künftig sein. Es mag aber durchaus Produkte mit kurzen Laufzeiten geben, die sich mit Künstlicher Intelligenz ganz gut kalkulieren lassen.

Wo KI und Big Data in der Lebensversicherung eingesetzt werden kann, sind zum Beispiel die Stornoprävention oder Cross-Selling-Ansätze. Wenn die entsprechenden Daten vorliegen, lässt sich anhand des Kundenverhaltens relativ gut vorhersagen, wie groß die Stornowahrscheinlichkeit in den nächsten Monaten sein wird, und auf dieser Basis können Kunden dann präventiv beraten werden. Aber die Branche ist noch nicht so weit, dass das flächendeckend eingesetzt wird.

Auch bei diesen Themen wird es wieder mathematisch: Die Daten müssen sauber aufbereitet werden und es muss auch aktuarielles Verständnis für die Branche vorhanden sein, um die Künstliche Intelligenz mit den richtigen Daten zu füttern und diese dann richtig zu interpretieren.

Die KI darf ja auch nicht zu einer Blackbox werden ...

Genau. Dieser Punkt ist sogar rechtlich ganz entscheidend. Hier reklamieren wir als Aktuare eine sehr wichtige Aufgabe für uns. Ein Beispiel ist das Unisex-Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das der Versicherungsbranche nach Geschlecht differenzierte Prämienkalkulationen untersagt. Eine Künstliche Intelligenz könnte auf Basis der verfügbaren Daten zwar Prämien kalkulieren, würde aber dabei womöglich eine Geschlechterdifferenzierung vornehmen, die der EuGH verbietet. Deshalb darf die KI keine Blackbox sein, sondern wir müssen sicherstellen, dass es keine Geschlechterdiskriminierung gibt. Das ist eine wichtige Aufgabe der Aktuare: Sicherstellung der Gesetzeskonformität bei der Künstlichen Intelligenz.

Wofür braucht man heute noch den Höchstrechnungszins?

Der Höchstrechnungszins spielt in der Produktentwicklung tatsächlich vielfach keine direkte Rolle mehr. Bei Riester gibt es derzeit zum Beispiel eine endfällige Garantie von 100 Prozent der Beiträge. Trotzdem hat der Höchstrechnungszins auch dort eine Bedeutung. Denn diese endfällige Garantie muss bilanziert werden und in die Bilanzierung fließt der Höchstrechnungszins ein.

Ganz formal ist der Höchstrechnungszins ein Reservierungszins und kein Garantiezins für Produkte. Deshalb ist er überall dort wichtig, wo mit Garantien gearbeitet wird - in der Lebensversicherung ist das immer der Fall. Selbst bei fondsgebundenen Versicherungen gibt es garantierte Rentenfaktoren und damit Mindestrenten, die nicht fallen können. Im "Maschinenraum" spielt der Höchstrechnungszins also immer noch eine ganz entscheidende Rolle.

Früher war der Garantiezins, mit dem die Anbieter an den Markt gingen, in der Regel mit dem Höchstrechnungszins identisch. Diese Koppelung gibt es heute nicht mehr?

Die "alten" Produkte, bei denen der Garantiezins mit dem Höchstrechnungszins identisch ist, sind zunehmend verschwunden. Es gibt immer weniger Anbieter solcher Produkte und die werden sich auf immer weniger Produkte dieser Art konzentrieren.

Produkte der neuen Klassik haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Diese Produkte haben als Kapitalanlage zwar immer noch das klassische Sicherungsvermögen, das man früher als Deckungsstock bezeichnet hat. Sie haben aber Garantien, die unter dem Höchstrechnungszins liegen oder endfällig sind. Auch die scheinbar traditionellen Produkte werden also heute mit sehr unterschiedlichen Garantien unterhalb des Höchstrechnungszinssatzes kalkuliert.

Würde eine Absenkung des Höchstrechnungszinses dennoch auf die Attraktivität des Produkts Lebensversicherung durchschlagen?

Eine Absenkung des Höchstrechnungszinses wird mitunter in den Medien etwas platt kolportiert. Zunächst wäre sicherlich ein leicht negativer Impact zu erwarten. Langfristig könnte eine Absenkung den Menschen jedoch sogar helfen, weil der geringe Zinssatz viel mehr Menschen zum chancenorientierten Ansparen bringt, wie es in anderen europäischen Ländern längst weit verbreitet ist.

Die Deutsche Aktuarvereinigung hat nicht nur eine Absenkung, sondern auch eine neue Herleitung des Höchstrechnungszinses vorgeschlagen. Weshalb?

Bisher haben wir uns bei der Herleitung unserer Empfehlung an das Bundesfinanzministerium sehr stark auf deutsche Staatsanleihen konzentriert. Das ist aber nicht mehr sachgerecht. Inzwischen gehen wir viel stärker auf das Anlageuniversum der Unternehmen ein und berücksichtigen, welche Renditen die Unternehmen künftig realistisch am Kapitalmarkt für neu abgeschlossene Verträge erwirtschaften können.

Dafür betrachten wir ein konservatives, repräsentatives Portfolio eines deutschen Lebensversicherers. Dieses besteht zu großen Teilen aus festverzinslichen Wertpapieren und zu einem geringeren Anteil aus Substanzwerten wie Aktien und Immobilien.

Um dem Sicherheitsgedanken des Höchstrechnungszinses Rechnung zu tragen, haben wir einen 40-prozentigen Abschlag als Sicherheitspuffer einberechnet, der immer mindestens 40 Basispunkte beträgt. Das mündet dann in unsere Empfehlung eines Höchstrechnungszinssatzes. Wir haben im Grunde die Herleitung der Realität angepasst.

Wie hat das Bundesfinanzministerium auf Ihren Vorschlag reagiert?

Bisher noch gar nicht. Das Thema ist ja auch nicht losgelöst vom garantierten Beitragserhalt bei Riester und in der bAV zu betrachten. Dieser ist mit den jetzigen Renditen am Kapitalmarkt oder den künftigen Höchstrechnungszinsen nur noch sehr schwer bis gar nicht mehr darstellbar. Viele Fondsanbieter sind deshalb aus dem Riester-Geschäft bereits ausgestiegen. Dieses Thema interagiert mit dem Höchstrechnungszins. Ich könnte mir deshalb gut vorstellen, dass das Bundesfinanzministerium die Fragestellungen gemeinsam lösen will und deshalb noch ein wenig Zeit braucht.

Wie viel Zeit wäre denn aus Sicht der Aktuare noch?

Die DAV hat gefordert, dass die Branche bis Ende Januar Sicherheit haben sollte. Mittlerweile steigt bei den Verantwortlichen der Blutdruck. Das Unisex-Urteil des EuGH kam damals im Juni - und führte dazu, dass es nicht alle Versicherer rechtzeitig geschafft haben, das Urteil flächendeckend umzusetzen und deshalb zeitweise nicht alle Produkte anbieten konnten.

Das heißt: Wir haben vielleicht noch einen oder zwei Monate Zeit, aber dann wird es für viele Unternehmen wirklich eng für die rechtzeitige Umsetzung.

Was hat denn die Neuberechnung der Zinszusatzreserve gebracht?

Die Einführung und Umsetzung der Korridormethode ging auf einen Vorschlag der Aktuarvereinigung zurück. Dass die Entlastung durch die Korridormethode - oder besser ausgedrückt die Reduktion der Belastung - nicht so stark ausgefallen, ist wie ursprünglich an genommen, liegt am dramatischen Zinsverfall im Jahr 2019.

Nichtsdestotrotz sind wir mit der Rekalibrierung zufrieden und glauben, dass die Zeit, die die Unternehmen dadurch bekommen haben, sinnvoll genutzt werden kann, um die Reserven aufzubauen, mehr Rendite durch Substanzanlagen zu verdienen und die Produkte weiter zu modernisieren. Aus heutiger Sicht sieht die Deutsche Aktuarvereinigung deshalb keinen weiteren Anpassungsbedarf.

Wie ist der Stand der Dinge beim LVRG 2 - Stichwort Provisionsdeckel?

Das Thema hat sich aktuell ein wenig totgelaufen. Ich habe keinerlei Vorstellungen, was der Gesetzgeber hier genau plant und wie es weiter geht. Es ist zunächst aber kein aktuarielles Thema.

Erledigt hat sich das Thema aber vermutlich nicht?

Diskussionen um die Vergütung des Vertriebs werden vermutlich genauso endlos laufen wie die um die Vergütung von Managern. Es scheint ein deutsches Lieblingsthema zu sein, über die Verdienste bestimmter Berufsgruppen zu sprechen. Die Aufgabe der Aktuare ist es, sicherzustellen, dass die Kosten in den Produkten auskömmlich kalkuliert sind. Wir müssen die Vorgaben des Gesetzgebers aufgreifen und schauen, was den Vertrieben bezahlt wird. Sollte es zu Einsparungen kommen, müssen wir dafür sorgen, dass die neuen Versicherungsnehmer an den Kosteneinsparungen partizipieren.

Das heißt, wenn der Provisionsdeckel kommt, müssen die Verträge wieder neu kalkuliert werden?

Das ist wie bei der Änderung des Höchstrechnungszinses. Wenn sich per Gesetz die Kostenstrukturen ändern, müssen wir in jedes im Verkauf befindliche Produkt eingreifen und die Kosten neu kalkulieren. Wir hatten so etwas Ähnliches bereits, als der Gesetzgeber die Zillmerung, also die Abschlusskosten, die in den ersten fünf Jahren einkalkuliert werden dürfen, von 4 auf 2,5 Prozent der Beitragssumme gesenkt hat. Das bedeutete komplett neue Produkte ab dem Zeitpunkt der Gültigkeit.

Lässt sich abschätzen, wie viel das die Branche gekostet hat beziehungsweise wie viel die Umsetzung eines Provisionsdeckels kosten würde?

Die Neukalkulation der Produktpalette ist immer ein Großprojekt. In jedem Unternehmen müssen dafür - je nach Unternehmensgröße und Breite der Produktpalette zwischen 1 000 und 5 000 Personentage investiert werden. Da kommt man über die gesamte Branche gerechnet schon auf erkleckliche zweistellige Millionenbeträge.

An den Krankenkassenbeiträgen der betrieblichen Altersversorgung kann man ablesen, wie wenig der Gesetzgeber die Umsetzungskosten der Unternehmen im Blick hat: Im Dezember 2019 wurde eine Neuregelung beschlossen, die im Januar 2020 in Kraft treten sollte. Dass die Krankenkassen das nicht rechtzeitig umsetzen konnten, ist nicht überraschend. Auch bei der Grundrente hebt sogar die sonst sehr zurückhaltende gesetzliche Rentenversicherung warnend den Finger, dass die Einführung nicht bis zum 1. Januar 2021 gelingen kann. Hier wünscht man sich etwas mehr Gelassenheit in der Politik und etwas mehr Vorlauf. Das kann man nicht häufig genug wiederholen.

Dr. Guido Bader, Vorsitzender des Vorstands, Deutsche Aktuarvereinigung e. V. (DAV), Köln

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