Leitartikel

Kessel unter Druck

Der Jahreswechsel ist doch stets ein willkommener Anlass, wieder einmal all den alten Lastern abzuschwören, denen man schon so oft feierlich und entschlossen entsagen wollte, denen zu frönen man aber doch nicht zu widerstehen vermochte. So wird es wahrscheinlich auch diesmal misslingen. Deshalb raten diejenigen, die Lebensberatung als Berufung oder Mission ansehen, von derlei fruchtlosen Vorsätzen ab und empfehlen die Setzung klar definierter und vor allem erreichbarer Ziele. Während sich die televisionäre Zunft noch in Rückschauen selbst feiert und ihre eigene Wichtigkeit zelebriert, blicken die meisten doch nach vorn und fragen, was nun dieses Jahr wohl bringen mag. Mancher hofft, aus bleiernen Formen mit viel Fantasie die eigene Zukunft deuten zu können, während sich die selbsternannten "Profis" mit ihren ganz eigenen Weissagungen medial zu Wort melden. Es scheint ein großes Verlangen nach Orientierung zu bestehen - vielleicht aber auch nur nach Bestätigung der eigenen Mutmaßung. Dieses Feld wollen jedoch empirisch forschende Demoskopen nicht den Psycho- und Astro-Mystikern allein überlassen.

So hat der genossenschaftliche Fondsinitiator Union Investment deutsche Kapitalanleger nach ihren Erwartungen befragen lassen und dabei herausgefunden, dass diese im vierten Quartal bester Stimmung sind. Wohlgemerkt ungeachtet der europäischen Schuldenkrise. Gingen von den Befragten im dritten Quartal 2010 noch 48 Prozent von steigenden Aktienkursen in den nächsten sechs Monaten aus, waren es im vierten Quartal immerhin schon 56 Prozent - der zweithöchste Wert seit der ersten Befragung Anfang 2001. Noch mehr Zuversicht hatten deutsche Anleger zuletzt im zweiten Quartal 2007. Damals - am Vorabend der Krise - waren 63 Prozent optimistisch. Heute rechnen lediglich zwölf Prozent der Befragten mit sinkenden Kursen. Und 25 Prozent gehen von einem konstanten Kursniveau aus.

Hinsichtlich der allgemeinen Wirtschaftslage in Deutschland ist die Mehrheit der von der Union Investment Befragten von einer weiteren Verbesserung überzeugt. Im Vergleich zum Vorquartal stieg deren Zahl von 42 Prozent auf aktuell 54 Prozent. Auch dies ist der höchste Wert seit dem zweiten Quartal 2007, als die Optimisten 59 Prozent der Befragten ausmachten, und gleichzeitig der zweithöchste seit Beginn der Erhebung im Jahr 2001. Als unverändert sehen 31 Prozent die wirtschaftliche Situation, gegenüber 41 Prozent im Vorquartal. Derweil nehmen die Pessimisten weiter ab. Nur noch 15 Prozent, im Vorquartal 17 Prozent, erwarten eine Verschlechterung.

Dass sich im Zuge des erwarteten konjunkturellen Aufschwungs auch die Einkommenssituation positiv entwickelt, wagt jedoch nur ein kleiner Teil zu hoffen. Eine Verbesserung erwarten mit 27 Prozent zwar mehr als im Vorquartal, als sich nur 22 Prozent so äußerten, doch die Mehrheit von 62 Prozent, im Vorquartal 66 Prozent, schätzt, dass es im nächsten halben Jahr keine Veränderung ihrer Finanzlage geben wird. Elf Prozent sehen voraus, dass sie mit weniger Geld auskommen müssen. Ein Grund, dass die Mehrheit von einer stagnierenden oder gar sinkenden individuellen Finanzkraft ausgeht, liegt in der Inflationserwartung. Im Vergleich zum Vorquartal ist der Anteil der Anleger, die innerhalb der kommenden sechs Monate Preissteigerungen erwarten, um fünf Prozentpunkte auf 76 Prozent gestiegen. Dies ist der zweithöchste Wert, seit im dritten Quartal 2008 beachtliche 89 Prozent anziehende Konsumgüterpreise gewärtigten. Entsprechend sank der Anteil derer, die von konstanten Preisen ausgingen, um fünf Prozentpunkte auf 22 Prozent. An fallende Preise glauben jedoch gerade einmal zwei Prozent der Befragten.

Doch bekanntlich sind positive Erwartungen das eine, tatsächliche Investitionen jedoch etwas anderes. Trotz des Aufschwungs an den Börsen wollen 72 Prozent der von Union Investment befragten Anleger nämlich keine Konsequenzen für ihre Geldanlage ziehen. An eine Erhöhung ihrer Aktienanlagen denken sie trotz positiver Erwartungen nicht. Ist die Stimmung also besser als die Lage - oder umgekehrt? Tatsächlich werden Investoren weltweit wieder risikofreudiger, wie die jüngsten Erhebungen von State Street Global Markets, dem Investment-Research- und Trading-Bereich der New Yorker State Street Corporation, zeigen. Dessen auf realen Transaktionen institutioneller Anleger basierender Investor Confidence Index stieg im Dezember von 96,4 auf 104,4 Zähler. Vor allem in Asien, wo der Index von 95,5 auf 102,9 Punkte sprang, und in Nordamerika, wo sogar ein Plus von 7,7 Punkten auf 103,1 Zähler verzeichnet wurden, sind die Kapitalanleger optimistisch und investieren kräftig an den Börsen. Im Gegensatz zu Europa. Der europäische Indexwert brach binnen eines Monats um 10,8 Punkte auf 99,0 Zähler ein. Europäische Anleger bauen ihren Aktienanteil im Portfolio also ab.

Hier wächst offensichtlich die Furcht, dass die Schuldenkrise einiger europäischer Staaten doch noch die ganze Region mitreißen könnte. Die Rettungsbemühungen der Europäischen Union für hoch verschuldete Staaten und die Stützungsbemühungen des Rentenmarktes durch die Europäische Zentralbank scheinen die Investoren nicht nachhaltig zu beruhigen. Zum Jahreswechsel hat die Nervosität wieder spürbar zugenommen. Europäisches Kapital flüchtet derweil in Sachwerte: Der "Goldrausch" hält unvermindert an und erreicht schwindelerregende Höhen. Aber auch Betongold, solange es beste Core-Qualitäten besitzt, ist als Anlage - oder muss man sagen: Fluchtburg? begehrt.

Im Gegensatz zum Edelmetall, dessen Wertentwicklung fast ausschließlich durch die Spekulation bestimmt wird, können Immobilien unter Umständen immerhin einen Inflationsschutz bieten und leidliche Renditen abwerfen, solange Kaufpreis und Mieterträge in einem wirtschaftlich sinnvollen Verhältnis stehen. Kaufmännisch denkende Investoren werden darauf achten. Doch wohin soll die enorme Liquidität, mit denen Staaten und Notenbanken verzweifelt die Konjunktur anschieben und Staatspleiten kaschieren wollen? Längst ist sie wieder da, die Furcht vor neuen Blasen - an den Rohstoffmärkten sowieso, in den Top-Immobilienstandorten ohnehin, an den Börsen in Asien und Amerika wahrscheinlich auch. Der Druck auf dem Kessel steigt. L. H.

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