Leitartikel

Über die Zinsen

Wie gut haben sie es doch wieder einmal, diese Briten. Jedenfalls und zumindest mit der Geldpolitik. Falls es denn richtig ist, die Zinsen, respektive die Höhe derselben als Maßstab für den Zustand der Volkswirtschaft zu betrachten, sind sie in einer wirklich hervorragenden Lage: Sie müssen sich bei der Bestimmung der richtigen (falls es solches noch gibt) Zinssätze nicht an der Kapitalmarktrelevanz von Gibraltar, den Falkland Inseln oder wenigstens der Neuen Hebriden orientieren. Sondern die Bank of England braucht sich nur von ihrer volkswirtschaftlichen Abteilung und vielleicht noch in einem Telefonat mit dem Schatzkanzler die jüngsten Daten des überraschend dynamischen ökonomischen Aufschwungs im Kernland des Empire vermitteln zu lassen, um dann die Notenbankzinsen für das liebe alte Pfund vorsichtig - vielleicht - ein wenig zu erhöhen. Wider den möglichen Übermut der City zum Beispiel. Denn, wer wüsste es nicht, Großbritannien spielt zwar gelegentlich ein bisschen Europäische Union. Aber das Pfund gehört der Nation. Es ist in Euro-Europa zwar nicht mutterseelenallein. Aber es ist souverän.

Naja. Im März 2009 hat die Bank of England ihren Leitzins auf 0,5 Prozent reduziert, auf den tiefsten Stand seit 320 Jahren (schreibt die FAZ). Und erklärtermaßen als Konjunkturprogramm hat die Notenbank 375 Milliarden Pfund, umgerechnet 457 Milliarden Euro an Staatsanleihen zusammengekauft, was einem Drittel der gesamten britischen Anleiheschuld entspricht. Und so lieb und ehrlich wie jeder Euro-Banker hat der britische Notenbankgouverneur soeben auch erklärt, man handele "unabhängig von politischen Zyklen". Da rinnt er hin ins Nirwana, der Traum von einer gottlob noch völlig souveränen Geldpolitik. Die Welt 2014, die ist nicht einfach so.

Derart gravierende Vorbehalte voll des Frühlingsübermutes beiseitegewischt, kann man freilich doch einmal fantasieren, wie denn derzeit eine "unabhängige" D-Mark-Zinspolitik allein (!) für diese unsere Bundesrepublik aussehen würde. Müssten die Lebensversicherer, die Bausparkassen und nicht minder die bankmäßigen Einlagensammler auch mit einer geldpolitisch unkastrierten Bundesbank über die Niedrigzinsphase ohne Ende jammern? Müssten die zu gehörigen Lobbyisten dann auch noch immer dringlicher um politische Erlaubnisse des Aufweichens von einst verlässlichen Tarifen und Reserven buhlen? Hätten die Zinsspannen-Manipulationen (Verzeihung: Gestaltungsräume) damit auch wie derzeit die Kreativität der Kreditoren täglich herauszufordern? Könnten die Kontensparer endlich wenigstens die Portoerhöhungen aus ihren Renditen begleichen und die Hausfinanzierer immerhin nachdenklicher werden?

Die höchst theoretische Antwort auf solche Haufen von Fragezeichen lautet: Ja, eine souveräne D-Mark-Bundesbank würde die lange, lange Niedrigstzins-Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit demnächst beenden. Vielleicht würde sie eine erste moderate Zinserhöhung erst einmal als einen Akt von Moral Suasion ansagen, nachdem die Tariferhöhungen nicht allein bei Verdi viel zu hoch für die öffentlichen Haushalte ausgefallen sind, nachdem die Immobilienpreise in den Lieblingsräumen der Bundesdeutschen eindeutig den Beleihungswerten der BaFin-gequälten Finanzierer davonrennen, nachdem die Exporte sich nicht einmal vom Wechselkurs nachhaltig drücken lassen - nachdem die Wachstumsraten bereits wie Bratkartoffeln zu riechen beginnen. Ja, eine Zinserhöhung täte der Bundesrepublik gut.

Aber - wir werden durchaus noch darauf warten müssen. Denn Zinspolitik im Euroland hat sich bis heute ganz eindeutig zunehmend entfernt von fast allem, was man ihr früher als wichtigstem Instrument der Stabilitätsorientierung zumuten durfte. Wenn man verfolgen darf, mit welcher Brutalität die südeuropäischen Defizitländer den prosperierenden Rest der Gemeinschaft schier unaufhörlich erpressen, der Staatsfinanzierung per Kredit den dauerhaft zu niedrigen EZB-Zins zugrunde zu legen, "weil sonst ...", gibt es auch auf Sicht keine Hoffnung. Die Euroland-Zinsen bleiben als politische Zinsen zu Tiefständen verdammt. Sie sind ökonomischer Vernunft weitestgehend entzogen worden. Damit muss man, kann man rechnen, unfroh aber ziemlich sicher

Aber vielleicht wird die Bedeutung des Kapitalmarktzinses für wirtschaftliches - nicht: staatliches - Handeln sowieso überschätzt. Gerade die nun doch schon langen Jahre der Niedrigzinszeit haben auch in den funktionierenden Volkswirtschaften Euro-Europas demonstriert, dass die Investitionsneigung sehr oft lediglich eine bescheidene Abhängigkeit von der Investitionsfinanzierung aufzuweisen hat: Die Finanzierungskosten verschieben günstigstenfalls die Investitionsrechnungen zwar ganz hübsch hin zur Rentierlichkeit der ganzen Geschichte. Sie geben aber doch meist nicht den entscheidenden Ausschlag für das strahlende "Yes, we can". Die Branchenkonjunkturen, die Branchenaussichten weltweit sind wichtiger.

Nicht einmal auf den deutschen Immobilienmärkten haben die wunderschönen Kreditzinsen "im niedrigen einstelligen Bereich" einen Boom allerorten provoziert und produziert. In den besten Regionen der Republik sind die Preise für erstklassig Bestehendes und erst für neu zu Erstellendes etwa seit 2012 zweistellig gestiegen. Das heißt: Niedrige, sogar sinkende Kreditzinsen vermögen die "Anschaffungskosten" der Erwerber mitnichten so attraktiv zu machen, wie die Makler gemeinhin zu behaupten pflegen. Und die Renditeimmobilie als gepriesene Kapitalanlage für Kontoflüchtlinge, die leidet beim gemeinen Anlegervolk zunehmend unter den Fortschritten des Mieterschutzes der GroKo-Ideologen. Nein; da bläst noch nicht das große Horn.

Mit dem bescheidenen Zweifel an der Zinsabhängigkeit der normalen Volkswirtschaften darf sich der ebenso bescheidene Beifall für den anhaltenden EZB-Jubel über geringe Inflationsraten in der Währungsunion mischen: Billiges Geld verliert ganz offensichtlich mit anhaltender Benutzung heftig an Antriebskraft. Das wussten wir zwar hin und wieder schon einmal, etwa durch Lernen an japanischen Exempeln. Aber die überzeugten Staatsfinanzierer haben es dann, siehe oben, eben doch immer wieder vermocht, alles auf's Geld zu schieben. Vielleicht ist dies das Beste an der ewigen Niedrigzinsphase: Sie entlarvt das Ablenkungsmanöver der Fiskalisten einmal mehr. Cui bono?

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