Leitartikel

Vom Zwang des Geldes

"Eigentlich" hat es wirklich jeder gewusst. Die gelernten und gelehrten Ökonomen und die geübten Zentralbankiers pflichtschuldigst, das politische Management hat es zumindest geahnt, und das Volk hat es gefühlt, gefürchtet: Diese Europäische Währungsunion hätte nicht der relative Beginn des neuen Europas sein dürfen, sondern das schließliche Ergebnis des integrativen Fortschritts zu den Vereinigten Staaten des Abendlandes.

Währungsunion ohne wirklich spürbare, tatsächlich gewollte und gelebte politische Union, das geht nicht. Denn das liebe Geld, vornehm: der monetäre Sektor, ist eben nicht nur jener Schleier, der sich nach Meinung mancher Klassiker der nationalen Volkswirtschaft über die Realwirtschaft schmiegt. Sondern Monetäres und Reales sind zu einem Knäuel verwickelt, dessen Enden noch dazu in Knoten münden. Wer daran zerrt, löst wahrlich nichts, und das berühmte Schwert zum Durchschlagen würde nur völlig unbrauchbare Bruchstücke übrig lassen.

Dass die Einheit der europäischen Währung die weitreichende politische Einheit unerlässlich macht - wahrhaftig nicht zufällig ist dies ein festgeschriebenes Edikt der deutschen wie europäischen Verfassung und Präambel oder Schlusssatz der europäischen Verträge. Seit fünfzig, beinahe sechzig Jahren nun schon haben solche Fest- und Zielsetzungen aber nichts daran geändert, dass Europas Regierende im Auftrag der Regierenden die Vollendung der europäischen Einheit nur zögerlichst betreiben, weil beide mehr Verlust als Gewinn von der Sache erwarten. Verlust an Macht allemal, Verlust an Lebensqualität aus persönlicher, individueller Freiheit wohl auch.

Einem so nicht nachlesbaren Ondit zufolge soll beispielsweise Helmut Kohl, unser Kanzler, zu den entscheidenden Verhandlungen über die Zukunft des Kontinents mit der klaren Vorgabe "seiner Gremien" geschickt worden sein, den Euro keinesfalls ohne politische Union einzuführen. Und wieder zu Hause, soll er dann mit seinem gesunden, breiten Lächeln die Euro-Beschlüsse einschließlich des EZB-Platzes Frankfurt überaus gelobt haben - um am Schluss bedauernd hinzuzufügen, für mehr politische Einheit habe es leider, leider an politischem Willen gemangelt. Freilich, dieser Kanzler der Einheit hatte ja auch schon die deutschdeutsche Währungsunion mit purer Gewalt verwirklicht, ausdrücklich gegen den Einspruch der Bundesbank unter Karl Otto Pöhl. Und er soll schon bei diesem Exempel schlicht argumentiert haben: Der Zwang des Geldes für die brachiale Schaffung eines gemeinsamen Wirtschafts- und Gesellschaftsraums sei (wie es Kohls Nach-Nachfolge ausdrücken würde) "alternativlos". Die blühenden Landschaften zwischen Elbe und Oder waren gelogen. Aber die Radikalität des ostdeutschen Strukturwandels, die den Westen nur ein paar Billionen kostete, die ist Realität.

Wie bauernschlau oder von hinterhältiger Voraussicht doch die Alten gewesen sind! Auch wenn es immerhin runde zehn Jahre gedauert hat, bis der Euro sich anschickt, zu jener Zwangsjacke zu werden, die Euro-Europa zu einer geschlossenen Anstalt macht, das Prinzip funktioniert geradezu wunderbar. Entweder die Europäer formen jetzt unter gewaltigem, nur in Horrorszenarien geahntem Druck diejenigen Regeln, die die gemeinsame Währung verlangt, oder sie stürzen sich ins Chaos. Sie werden sich beugen müssen, alle, auch die Bundesrepublik. Europa wird entsetzlich geschwinde eine Schuldenunion, eine Fiskalunion, eine Sozialunion in Maßen, eine Rechtsunion in Ansätzen darzustellen haben, weil es - nicht: wenn - es den Euro behalten muss.

Und was man inmitten der Schulden- und Eurokrise vielleicht doch leicht übersieht: Die Angst vor diesem verbindlichen Europa in sehr naher Zukunft muss eigentlich doch gar nicht mehr so riesig sein. Denn ist es nicht alltäglich geworden, dass mehr als die Hälfte aller Gesetze von Brüssel vorbestimmt wird? Ist es nicht fast beruhigende Gegenwart, dass Brüssel die "Beihilfen" des Staates für längst überflüssige (Landes-)Banken verfolgt oder Wellnessparks an Rennbahnen für nicht weiter zuschussfähig erklären kann? Kartellstrafen, Verbrauchsverbote, Bankgeschäfte - was kommt da nicht via Brüssel? Und dieser Europäische Gerichtshof, an den sich widerliche Kindermörder wie scheußliche Sicherheitsverwahrte wenden, spricht er nicht längst supranationales und meist sogar verstehbares Menschenrecht?

Europäische Einheit ist keine Fiktion. Jeder kann sie anfassen. Was allerdings auch jeden sehr stören darf, ist der bis heute schier unglaubliche Mangel an europäischer Demokratie. Mit welcher unendlichen Mühe sich das immerhin frei gewählte Europäische Parlament gegenüber Europäischer Kommission und nationalen Ministerrunden durchquälen muss, ist schlicht beschämend. Ob auch hier die "Schuldenunion" nicht ebenso dringlich einen parlamentarischen Kontrolleur braucht, wie der Deutsche Bundestag es für just diesen Bereich zu sein verlangt?

"Typisch deutsche" Positionen in der Eurokrise sind bis jetzt überhaupt nicht lobenswert. Wenn der gelegentlich doch etwas wankelmütige Finanzminister soeben wieder in der nationalen Haushaltsdebatte verlauten lässt, diese Bundesrepublik werde ob ihrer Art von Stabilitätspolitik geradezu als "Musterland" apostrophiert, als beispielhaft somit, dann ist dies just der Ton des unglückseligen Wilhelm II, der der Welt empfahl, am deutschen Wesen zu genesen. Dies ist rudimentärer Nationalismus aus dem vorvorigen Jahrhundert, und folgerichtig erwächst daraus der sehr wohl europäische Vorwurf, das unentwegte deutsche Nein zu mehr Haftung und mehr Hilfe, mehr Aufsicht und mehr Notenbank, mehr Verhandlungszeit oder auch einfach mehr Gnade (vor Recht) sei die neue, die aktuelle deutsche Machtpolitik - Weltmachtpolitik mal anders nach zwei so schrecklich gescheiterten Versuchen. Aber vielleicht ist diese aufgeregte Kritik daran, dass den Deutschen offenbar so gar nichts zur Krisenlösung einfällt als die pure Ablehnung aller (!) anderen Vorschläge, doch so etwas wie gewolltes Leiden auf dem Weg zum europäischen Ziel. Vielleicht soll die zu erwartende endliche deutsche Zustimmung zu Rettungsschirmen, EZB-Käufen und gestreckten südeuropäischen Sparprogrammen nur so teuer wie möglich erkauft werden. Das wäre es wert.

Wie viel Zeit Euro-Europa braucht, um zu überleben, niemand kann es wissen. Denn ökonomisches und erst recht politisches Handeln ist sehr menschliches Handeln. Und wenn es richtig ist, dass von der südeuropäischen Misswirtschaft einige außerordentlich profitierten, die meisten aber nur ein wenig, dann dreht sich dieses bei den Sparprogrammen und "Restrukturierungen" ins deutlich Schlimmere. Jetzt leiden, bluten die meisten, obwohl auch manche gut weiterleben. Dafür Verständnis, "Einsicht in die Notwendigkeiten" zu verlangen, ist furchtbar viel verlangt. 1973 hat Volkmar Muthesius, der erste Chefredakteur der "Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen", ein faszinierendes Buch geschrieben: "Augenzeuge von drei Inflationen".

Darin kommentiert er die Geldentwertung von 1923, die Währungsreform von 1948 und die Nachfrageinflation seit 1967. Seine Schlussgedanken sind arg pessimistisch: "Die lautesten und auch die ehrlich gemeinten Bekenntnisse zur Stabilität nützen nichts, wenn sie sich nicht mit dem Willen zu einer Art Gewaltkur paaren, nämlich zu konsequentem und kompromisslosem Handeln, und, was auf das gleiche hinausläuft, zum Verzicht auf unproduktive öffentliche Aufgaben und Ausgaben. Aber - es sind die Volksvertreter, welche die Gesetze machen, aus denen die Verneinung der marktwirtschaftlichen Ordnung hervorgeht. Bleiben die Politiker auf diesem Kurs, so wird sich bald unausweichlich die Frage stellen, ob die moderne Demokratie, durch Interessenteneinflüsse und Bürokratie bereits entartet, zur Bewahrung guten Geldes überhaupt fähig ist. Ist sie das nicht, dann werden beide untergehen, die Währung und die Demokratie."

Den ärgsten Sündern auf den Bänken des Parlaments, so zitiert Muthesius den Staatssekretär Karl Maria Hettlage, sei zugute zu halten, dass sie oft "arglos" zustimmten - kenntnisarm und leichtfertig. Wie schön und gut, dass das nationale (!) Bundesverfassungsgericht dem Bundestag soeben neuerlich die Kompetenz zugesprochen hat, mitverantwortlich für das Krisengeschehen in Europa zu sein. Aber die Sorge der Deutschen, von "den anderen" schließlich doch nur ausgenutzt und damit betrogen zu werden, ihren inneren "Wohlstand für alle" schließlich doch vergeblich für ganz Europa gespendet zu haben, die wird durch ungeheures Vertrauen in die parlamentarische Kontrolle nicht wirklich erledigt sein. Aber - zwischen Pest und Cholera hat noch niemand eine frohe Entscheidung gefunden. K.O.

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