Preisstabilität und Inflation

Die Einführungsansprache von EZB-Präsident Mario Draghi zum Frankfurter Europäischen Bankenkongress am 21. November enthielt folgenden Kernsatz: "We will do what we must to raise inflation and inflation expectations as fast as possible, as our price stability mandate requires of us."

Das im Vertrag über die Europäische Union enthaltene Mandat spricht in Art. 127 nur vom vorrangigen Ziel, die Preisstabilität zu gewährleisten, ohne zu definieren, was darunter zu verstehen ist. Weiter heißt es in Art. 127: "Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB (Europäisches System der Zentralbanken) die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union ..."

Der Rest der Rede von Draghi enthält denn auch keine Erläuterungen zum Verhältnis von Preisstabilität zu höherer Inflation. Vielmehr befasst sie sich mit dem wirtschaftspolitischen Ziel einer Belebung von Wachstum und Beschäftigung. Offenbar sieht Draghi in der Erhöhung von Inflation und Inflationserwartungen keine Beeinträchtigung der Preisstabilitätszielsetzung, sondern eine monetäre Massnahme in einer Art Ersatz- oder zumindest Vorreiterrolle für die bislang ausgebliebene Umsetzung geeigneter struktur- und fiskalpolitischer Zielsetzungen.

Das ist dann doch ziemlich weit vom Wortlaut des Art. 127 entfernt, obwohl man gleichzeitig einräumen muss, dass sich seit etwa zehn Jahren bei den Ökonomen ein Verständnis von Preisstabilität durchgesetzt hat, das nicht mehr auf eine Minimierung des Anstiegs im Lebenshaltungskostenindex zielt, sondern auf einen Korridor unter, aber nahe bei zwei Prozent jährlichem Preisanstieg.

Es ist also unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht oder der EuGH, die ja noch immer mit der Frage einer Vereinbarkeit von Staatsanleihekäufen durch die EZB mit dem Verbot direkter Staatsfinanzierung nach Art. 123 Abs. 1 befasst sind, auch in puncto Preisstabilität eine mandatswidrige Praxis der EZB in ihre Überprüfungen einzubeziehen geneigt sein könnten. Das Thema ist dennoch alles andere als trivial, auch wenn der Dax Draghis Rede mit einem Freudensprung von 2,4 Prozent quittierte.

Die New Yorker Finanzmarktkorrespondentin der Financial Times, Tracy Alloway, hat zur Beziehung von Quantitative Easing zu den Kapitalmärkten das Konzept der Co-Abhängigkeit aus der Psychiatrie bemüht. In Co-Abhängigkeitsbeziehungen fördern Bezugspersonen eines Suchtkranken bisweilen dessen Sucht durch ihr Tun oder Unterlassen zusätzlich, wodurch am Ende eine völlige Hilflosigkeit des Co-Abhängigen entstehen kann.

Mohamed El-Erian, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Fondsgesellschaft Pimco und weiterhin Mitglied des International Executive Committee von deren deutscher Muttergesellschaft Allianz, benutzte kürzlich noch einmal dasselbe Bild zum Verhältnis der US-Fed zu den Aktienmärkten.

Auch im Verhältnis der EZB zur EU-Politik scheint dieser Vergleich nicht ganz unpassend, da die Politiker zu den vielfach unpopulären, aber überfälligen Strukturreformen nicht willens oder imstande zu sein scheinen, die akkommodierende Geldpolitik der EZB aber weiter jeden Handlungsdruck von ihnen nimmt. So steigen die Aktienkurse, obwohl sich doch die realökonomischen Daten eher weiter abschwächen und obwohl in einem deflationären Umfeld überhöhte Staatsverschuldung nur umso schwerer zurückgefahren werden kann.

Gleichzeitig erleben kleine Sparer aufgrund von Null- oder gar Negativzinsen eine Umverteilung zugunsten der Vermögenden, deren Aktien- oder Grundbesitz infolge der EZB-Politik vom Markt immer höher bewertet wird. Dadurch beleben sich nicht nur in der Eurozone längst überholt geglaubte Feindbilder gegen die Mächtigen und Reichen "da oben", was sich im rasanten Zulauf bei populistischen Protestparteien vom ganz rechts- bis zum linksextremen Flügel widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen von EZB-Präsident Draghi - vielleicht nicht so sehr juristisch oder ökonomisch - jedenfalls aber politisch grundsätzlich problematisch. Andrew Haldane, Chefökonom der Bank of England, verwies kürzlich unter Einbeziehung von Einsichten der Verhaltensökonomie auf die Notwendigkeit institutioneller Vorkehrungen gegen die häufig nicht bewussten Risiken von Hybris, Selbstüberschätzung und Gruppendenken in den nach außen weitgehend abgeschotteten Entscheidungsgremien von Zentralbanken. Ganz konkret warnt Haldane vor Zentralbankentscheidungen, die ohne ex-ante-Vergewisserung eines gesellschaftlichen Konsenses oder auch ohne komplett transparenten ex-post-Legitimationszwang getroffen werden oder zustande kommen können.

Michael Altenburg, Luzern

Noch keine Bewertungen vorhanden


X