Plädoyer für eine Retail-Börse

Horst Bertram

Deutschland sonnt sich gerne im Glanz seiner Stärken. Kanzlerin Angela Merkel wird regelmäßig zur mächtigsten Frau der Welt gewählt. Deutschland ist die stärkste Volkswirtschaft Europas. Zahlreiche mittelständische Unternehmen sind mit ihren Produkten Weltmarktführer. Enttäuschend ist seit vielen Jahren die Situation des deutschen Bankensektors, in dem lediglich die Deutsche Bank zur Weltspitze gehört. Wenig erfreulich sind in Teilbereichen auch die Rahmenbedingungen für Unternehmensfinanzierungen; zu viel wird noch von dem unter starkem Regulierungsdruck stehenden Bankensektor finanziert, anstatt Alternativen im Fremdkapitalmarkt zu bieten.

Diese starke Abhängigkeit vom Bankkredit stellte auch deutsche Großunternehmen zum Höhepunkt der Finanz- und Bankenkrise vor extreme Herausforderungen.

Allerdings bereitet auch der Zustand von Teilen des deutschen Kapitalmarktes durchaus gemischte Gefühle. Zuerst zu den Börsen: Die Bundesrepublik verfügt mit der Gruppe Deutsche Börse über einen leistungsstarken Börsenbetreiber, Abwickler und IT-Dienstleister. Aber es gibt keinen gemeinsamen deutschen Börsenplatz. In vielen Bereichen herrschen merkwürdig diffuse und häufig unrentable Strukturen vor und große Teile des Wertpapierhandels spielen sich außerhalb der Börsen ab. Folglich wird auch der Finanzplatz - trotz seiner unbestreitbaren Einzelstärken - als solcher nicht richtig wahrgenommen.

In diesem Gebilde spielen Börsen - allen voran die Deutsche Börse - eine wichtige Rolle oder sollten sie spielen. Die Deutsche Börse dominiert mit der Eurex den Terminhandel und gehört in diesem Segment zur absoluten Weltspitze. Bei den Aktien bedient der vollelektronische Xetra-Handel die Bedürfnisse institutioneller Anleger, die auf die großen und liquiden Titel setzen. Darüber hinaus kämpfen zahlreiche Regionalbörsen um die Orders von Privatanlegern und Aufträge für weniger liquide Werte. Die Regionalbörsen haben sich teilweise, wie beispielsweise die Stuttgarter Börse mit der Euwax und deren Derivate-Handel, erfolgreich Nischen gesichert. Im Schatten dieses intensiven Wettbewerbes hat sich aber die noch relativ junge Tradegate Exchange zum klaren Marktführer im Aktienhandel für private Anleger entwickelt. An der Gesellschaft ist die Deutsche Börse beteiligt, sie macht damit aber ihrer Frankfurter Wertpapierbörse und ihren dortigen elf Maklern - Spezialisten genannt, massiv Konkurrenz. Aus Sicht des privaten Investors ist die Zersplitterung wohl wenig attraktiv, sonst würden nicht so viele Orders über Tradegate laufen.

Gemeinsam haben alle Marktteilnehmer ein Problem: hohe Kosten und demzufolge geringe Gewinne. Hier wäre es an der Zeit, dass sich alle Verantwortlichen der Handelsplätze an einen Tisch - er darf ruhig eckig sein - setzen, um an einer zukunftsträchtigeren Struktur zu arbeiten. In der Diskussion darf auch nicht vergessen werden, dass sich die Makler, die an vielen Plätzen die Preisstellungen auf eigene Rechnung und Risiko liefern, bis zu Beginn der Aktienhausse 2013 wirtschaftlich durchaus in gestressten Verhältnissen befanden. Nicht umsonst ist die Zahl der Makler - oder präziser Spezialisten - an der Frankfurter Wertpapierbörse in den Jahren davor massiv zurückgegangen. Auch aus diesem Grunde besteht Handlungsbedarf, sonst entsteht bei den Regionalbörsen in der nächsten Baisse der Restrukturierungsdruck in der Not.

Ziel einer neuen Struktur sollte sein, eine leistungsstarke Handelsplattform für Privatkunden und weniger liquide Aktien zu schaffen - die neue "Deutsche Retail-Börse". Wer von den bisherigen Regionalbörsen welche Produkte, Assetklassen und technischen Elemente einbringt, dafür gibt es bestimmt bei den Börsenprofis viele gute Ideen. Diese Plattform könnte beispielsweise von 8 bis 18 Uhr als eine von der BaFin regulierte und mit einer leistungsstarken Handelsüberwachungsstelle ausgestattete Börse operieren. Diese Börse hätte gute Chancen, den Investoren die Vorteile einer öffentlich-rechtlichen Institution mit effektiver Überwachung und staatlicher Aufsicht schmackhaft zu machen. Nach 18 Uhr und beispielsweise auch am Wochenende könnten interessierte Makler auf der gleichen Plattform außerbörslich ihre Preise stellen. Hier würde das beste Preisangebot zum Zuge kommen, der Investor sähe auf der Handelsmaske seiner Onlinebank nur den Namen "Deutsche Retail-Börse". Vielleicht würde so ein "Angebot" auch über MiFID II dazu führen, dass es wieder eine Art "Börsenzwang" für kleinere Orders von privaten Kunden geben könnte.

Ein positiver Nebeneffekt könnte sein, dass es damit auch gelingen mag, weitere Assetklassen an diese Börse zu bringen. Dies gilt besonders für den Handel mit Anleihen, der traditionell fast komplett außerbörslich über Investmentbanken läuft. Die Nachfrage der Privatanleger könnte dafür sorgen, dass sich Emittenten bereit erklären, ihre neuen Titel an der Deutschen Retail-Börse handeln zu lassen, anstatt eine Alibi-Notierung in Luxemburg vorzunehmen. Die handelnden Banken würden sich über den steten Zufluss von Retail-Aufträgen über die Börse freuen. Gerade ein kontinuierlicher Fluss an kleineren Aufträgen sorgt bei manchen Bonds für eine erfreuliche Wertentwicklung. Die Investmentbanken wären auch der natürliche Handelspartner für die an der Börse die Preise stellenden Makler. Für einen vollelektronischen Handel sind aufgrund abnehmender oder teilweise gänzlich fehlender Liquidität viele Anleihesegmente nicht geeignet. Mit einer starken Plattform für den institutionellen Handel, den die Deutsche Börse mit Xetra und der Eurex bietet, und einer leistungsstarken Retail-Börse hätte der deutsche Finanzplatz eine überzeugende Handelsinfrastruktur. Aufgrund der alternativ nutz baren sonstigen Plattformen dürfte das Konzept unter wettbewerbsrechtlichen Gründen wenig Kritik hervorrufen. Der deutsche Kapitalmarkt wäre damit gut für die von der EU-Kommission geplante Europäische Kapitalmarktunion gewappnet.

Ob aus dieser Vision eines Tages Realität wird? Da die Verantwortlichen bisher sehr an ihren Pfründen hingen, ist nicht zu viel Optimismus angebracht.

Genug zur Börse, der Kapitalmarkt ist ein Sammelplatz aller handelnden Akteure. Auch aufseiten der Banken und Emittenten sind stärkere Anstrengungen zu unternehmen, den Finanzplatz wieder wahrnehmbarer zu machen. Dazu gehört auch, die Vorteile eines langfristigen Engagements in Aktien zu thematisieren und dafür die Werbetrommeln zu schlagen. Dies kann man nicht vier Onlinebanken alleine überlassen, die für den 16. März 2015 den Tag der Aktie ausgerufen haben. Hier ist kontinuierliches Marketing und die Aufklärung breiter Bevölkerungsgruppen zu betreiben. Langfristig ausgerichtete Aktienanlagen sind nicht nur ein wesentliches Element zur Erzielung einer angemessenen Altersvorsorge, sondern stellen auch der deutschen Wirtschaft das nötige Eigenkapital für Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen zur Verfügung. Hier sind auch die Emittenten gefordert, mehr für die Interessen der privaten Anleger zu unternehmen.

Es gibt zahlreiche deutsche Firmen, bei denen zielgerichtete Investor-Relations-Arbeit zu einer Zunahme der Zahl der privaten Aktionäre geführt hat. Gefordert sind in diesem Zusammenhang auch der Gesetzgeber und die Aufsicht. Ob es beispielsweise zu jeder Aktie ein Produktinformationsblatt braucht oder ob nicht generelle Erklärungen zu den Risiken dieser Assetklasse reichen, sollte auf den Prüfstand kommen. Das Gleiche gilt für die Anforderungen an die Dokumentationsunterlagen von Börsengängen, über 600-seitige Prospekte mit 400 Seiten Risikofloskeln freuen sich nur die Anwälte.

Der Finanzplatz braucht in diesem Zusammenhang auch eine wahrnehmbare Stimme nach außen. Es gibt zwar Dutzende Bankenverbände, aber außer vom Deutschen Aktieninstitut - das hervorragende Arbeit leistet - ist kaum etwas zu Finanzplatzthemen zu hören. Die Stimme kann nur von den wirklichen Entscheidungsträgern in den Banken und Unternehmen kommen. Anders als in den 80er und 90er Jahren verstecken sich die "Seniors" hinter anderen Aufgaben, als dass sie für den gemeinsamen Standort, der viele Arbeitsplätze bietet, einstehen. Ein restrukturierter Börsenplatz mit einer überzeugenden Handelsinfrastruktur, mehr an der Börse gehandelte Produkte, gezielte und kontinuierliche Informationsmaßnahmen zur Wiederbelebung der darnieder liegenden deutschen Aktienkultur und eine wahrnehmbare und gehörte Stimme des Finanzplatzes - das würde Deutschland gut zu Gesicht stehen.

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