Zinseszinseffekt

Dr. Ewald Judt, Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien

Quelle: Wirtschaftsuniversität Wien

Die letzten Jahre waren (und sind es immer noch) für Kreditnehmer positiv und für Tages- und Festgeldsparer eher unerfreulich, da Niedrigzinsen (niedrige Nominalzinsen) die Sparlandschaft prägen. Erstmalig in der Entwicklung ging der Nominalzinssatz bei der EZB auf null beziehungsweise sogar auf einen negativen Nominalzinssatz.

Einen negativen Realzins für Geldanleger gab es auch schon in der Vergangenheit, sobald die Inflation höher als der nominelle Zinssatz war. Diese Situation hat sich weiter verstärkt und dazu geführt, dass niedrigverzinste Geldanlagen sukzessive real immer weniger Wert werden.

Geldanlage funktioniert nicht mehr wie "gelernt"

Geldanlage in Zeiten von Niedrigzinsen funktioniert nicht mehr in der Form, wie es manche der älteren Sparer aus der Vergangenheit kennen. Sparen ist zwar grundsätzlich nicht an Zinsen gebunden, da man sowohl bei hohen als auch bei niedrigen oder keinen Zinsen sparen kann.

Sparen ohne Zinsen liegt immer dann vor, wenn man auf seinem Konto einen Zinssatz von Null bekommt oder sein Geld zum Beispiel zu Hause oder in einem Banksafe liegen hat. Auch ohne Zinsen lässt sich, wenn man lange genug spart, der Betrag für ein Sparziel (zum Beispiel eine bestimmte Anschaffung) erreichen. Es dauert aber ohne Zinsen länger als bei niedrigen und sogar deutlich länger als bei hohen Zinsen.

Das Problem ist der Wertverlust aufgrund der jährlichen Inflation, wodurch der angesparte Betrag am Ende der Laufzeit nicht mehr den Wert hat, den er vor Jahren hatte, das heißt, dass ein realer Verlust eingetreten ist. Ähnlich ist die Situation - wenn auch nicht in gleichem Ausmaß - in einer Zeit der Niedrigzinsen. Niedrigzinsen erschweren das Erreichen von Sparzielen deutlich.

Viele Anleger unterschätzen die Bedeutung von Zins und Zinseszins

Bei der Geldanlage zeigt sich, dass viele Anleger die Bedeutung der Zinsen und die mit ihnen einhergehenden Zinses zinsen unterschätzen. Geldanleger sind sich oft nicht bewusst, dass eine Differenz von wenigen Prozentpunkten einen erheblichen Unterschied in der Kapitalentwicklung nach sich zieht. Bei 4 Prozent Zinsen verdoppelt sich das eingesetzte Kapital in 18 Jahren, bei 0,5 Prozent in 144 Jahren. Hochgesteckte langfristige Sparziele, wie beispielsweise die Altersvorsorge, können - je niedriger die Zinsen sind - schwerer erreicht werden.

Eine Geldanlage bei niedrigen Zinsen ist nicht zu vergleichen mit einer Anlage bei hohen Zinsen. Die Ursache liegt in der starken Wirkung des Zinseszinseffekts. Die Bedeutung sieht man deutlich, wenn man sich folgende zwei fiktive Beispiele anschaut:

- Was wäre der heutige Wert eines Sparbuchs mit Zinseszinsen, wenn man zu Christi Geburt 1 Euro mit 5 Prozent angelegt hätte? 1 Euro x 1,05 hoch 2017 = 548 Euro plus 40 Nullen.

- Und was wäre der heutige Wert eines Sparbuchs mit Zinseszinsen, wenn man zu Christi Geburt 1 Euro mit 0,25 Prozent angelegt hätte? 1 Euro x 1,0025 hoch 2017 = 153,88 Euro.

Zum Zinseszinseffekt kommt es, wenn die jährlich anfallenden Zinsen nicht ausgeschüttet, sondern jedes Jahr dem angelegten Betrag hinzugerechnet werden. Die Geldanlage steigt dann durch die jährliche Zinshinzurechnung nicht mehr linear, sondern exponentiell. Dabei ist die mit dem Zinseszinseffekt verbundene Hebelwirkung umso größer je höher der Zinssatz und je länger die Geldanlagedauer ist.

Die Auswirkungen sind enorm. Sie treffen in der heutigen Zeit vor allem die jenigen Sparer, die auf klassische Ein lagen und auf Produkte setzen, die festverzinsliche Anleihen mit guter Bonität enthalten.

Altersvorsorge besonders betroffen

Besonders betroffen durch den Zinseszinseffekt ist die Altersvorsorge, was anhand von zwei Beispielen gezeigt werden kann:

- Was ist das Endkapital einer jährlichen Anlage (Sparrate) von 12 000 Euro bei einer Ansparzeit von 25 Jahre bei einem Zinssatz von 2 Prozent? 12 000 Euro x 1,0225 = 392 050,87 Euro.

- Und was ist der Endwert einer jährlichen Anlage (Sparrate) von 12 000 Euro bei einer Ansparzeit von 25 Jahre bei einem Zinssatz von 6 Prozent? 12 000 Euro x 1,0625 = 697

876,59 Euro. Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich bei der Berechnung der Wertentwicklung bei einer monatlichen Einzahlung von 1 000 Euro über diesen Zeitraum.

Im Niedrigzinsumfeld führt die Inflation zu negativen Realzinsen

In einer Zeit der Niedrigzinsen kommt der Wertverlust durch die Inflation besonders zum Tragen. Die EZB strebt einen jährlichen Preisanstieg von zwei Prozent an. Das bedeutet, dass bei einer Veranlagung in Sparbuchform in der heutigen Zeit negative Realzinsen anfallen und der reale Endwert niedriger ist als der nominelle Endwert inklusive Zinseszinsen.

Der Zinseszinseffekt, "das achte Weltwunder", wie ihn Albert Einstein nannte, kann nur abseits niedrigverzinster Produkte erzielt werden. Von besser verzinsten Geldveranlagungen profitieren vor allem Anleger mit höherem Finanzwissen und Vermögende. Anleger mit mehr Finanzwissen sind mit den verschiedenen Anlageformen vertraut und kennen deren Wirkungsweise beziehungsweise Risiko- und Renditeaussichten.

Die Schere zwischen den Geldanlegern wird größer

Analysiert man das Finanzwissen in der Bevölkerung, dann zeigt sich, mit wenigen Ausnahmen, dass der Wissensstand in der Bevölkerung sehr gering ist. Bereits Vermögende können ihr schon vorhandenes Kapital entweder durch selbst erworbenes/vorhandenes Finanzwissen oder mithilfe qualifizierter Vermögensberater anlegen.

Als Konsequenz dieser Entwicklung wird die Schere zwischen jenen, die ihr Geld ohne wirksamen Zinseszinseffekt und jenen, die ihr Geld mit dem Zinseszinseffekt anlegen, größer.

Über einfache Sparformen können keine höheren Zinsen erzielt werden. Produkte, mit denen der Zinseffekt auch in Niedrigzinszeiten (für Einlagen und Anleihen) genützt werden kann, sind zum Beispiel Aktien und Aktienfonds.

Bei einer Veranlagung in Aktien ist aber das Risiko der Anlage zu beachten, da Aktien generell ein Ausfallsrisiko haben und vor allem ein Investment in eine Aktie oder in wenige Aktien nicht das wichtige Prinzip der langfristigen Kapitalanlage - die Streuung - beachtet, wie dies bei Aktienfonds (gemanagten ebenso wie indexbasierten) der Fall ist.

Zu beachten sind auch die Kosten der Geldanlage. Indexbasierte Fonds (ETFs) haben dabei durch ihren geringeren Ausgabeaufschlag und geringere Management-Fees einen Vorteil.

Chance für Vertrieb alternativer Anlageprodukte

Die Niedrigzinsphase und die Hebelwirkung des Zinseszinseffekts durch Zinshöhe und Laufzeit bieten für Banken die Chance, ihren an langfristiger Geldanlage interessierten Kunden alternative Veranlagungsprodukte mit höherer Verzinsung als Tages- und Festgeld anzubieten.

Dazu muss allerdings die Produkt- und Preispolitik genau hinterfragt werden und eine zielgruppengerechte Multi-Channel Kommunikation mit einer begleitenden Vertriebsstrategie erarbeitet und umgesetzt werden, da die meisten Retail-Kunden die Renditechancen und Risiken von Aktienfonds wenig kennen. Banken und Sparer haben es derzeit nicht leicht, aber wann sollte gehandelt werden, wenn nicht jetzt.

Dr. Ewald Judt ist Honorarprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien; ewald.judt[at]wu.ac[dot]at; Dr. Claudia Klausegger ist Assistenzprofessorin am Institut für Marketing-Management der Wirtschaftsuniversität Wien; claudia.klausegger[at]wu.ac[dot]at.

Dr. Claudia Klausegger , Assistenzprofessorin am Institut für Marketing-Management der Wirtschaftsuniversität Wien
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