AGILITÄT

Agiles Führen am Beispiel ING

Nadine Zasadzin, Foto: ING AG

Agiles Arbeiten erfordert auch einen neuen Führungsstil, sagen Sabine Engelhardt und Nadine Zasadzin. Die Führungskraft rückt gleichsam von der Bühne in den Hintergrund. Das Zauberwort lautet "Servant Leadership". Auch bei der ING ist dieser Transformationsprozess seit 2018 im Gang und soll im September abgeschlossen werden. Für Führungskräfte ist das nicht immer einfach. Hier setzt die Bank deshalb auf individuelles Coaching. Red.

Die klassischen Themen im Führungskräfte-Coaching kennen wir: Mitarbeiterführung und -gespräche, Kommunikation, Konfliktmanagement, Selbstpositionierung im Unternehmen, eigene Karriereplanung. Das harmlos und etwas überstrapaziert erscheinende Schlagwort "agil" bringt einige neue Komponenten in die Situation der Führungskräfte, mit denen diese häufig überfordert sind, da die klassische Managementschule ihnen das nicht hat vermitteln können.

Agiles Führen braucht Servant Leadership

Denn agile Führung verlangt einen anderen Führungsstil. Man hört oft den Begriff "Servant Leadership", der bereits 1977 von Robert K. Greenleaf geprägt wurde. Klassische Führungsstile und Servant Leadership unterscheiden ich sehr. Beim Coaching mit agilen Führungskräften kann man immer wieder beobachten, dass Servant Leadership auf dem Empowerment der Mitarbeiter basiert und eine Weiterentwicklung ist. Ein Servant Leader fokussiert sich auf die Bedürfnisse der anderen, und stellt seine eigenen Interessen als Führungskraft hintenan. Dies fördert Vertrauen, Motivation, Kooperation in den Teams und Innovation. Dienende Führung basiert auf einer anderen individuellen Haltung. Sie zeichnet sich aus durch ein hohes Maß an Empathie und Kommunikationskompetenz, Mut zur Selbstreflexion und Feedback zu geben und zu nehmen. Auch der Mut, Visionen zu haben, sowie den Willen, sich persönlich und beruflich weiter zu entwickeln und seine Mitarbeiter auch dabei zu begleiten, ist bei diesem Führungsstil entscheidend.

Führungskräfte, die mit dem agilen Führungsstil konfrontiert werden, stellen sich häufig zu Beginn Fragen wie:

- Was bedeutet eigentlich agil für mein Unternehmen/für mich? Ist das nicht nur wieder ein neues Modewort?

- Will ich als Führungskraft in einem agilen Umfeld arbeiten und führen - passt der agile Führungsstil zu mir? Bisher hat mein Unternehmen/meine Abteilung funktioniert, warum kann ich nicht weiter wie bisher machen?

- Was ist die Existenzberechtigung einer Führungskraft in einem agilen Umfeld?

- Wie lässt sich gegebenenfalls die Organisation/der Bereich auf "agil" umstellen? Funktioniert das überhaupt?

- Welche agilen Methoden gibt es, was machen sie anders?

- Welche Probleme löst die Agilität? Welche neuen entstehen?

- Was verliere ich persönlich durch die Agilität? Was gewinne ich?

Der Wandel ist aber erforderlich. Denn durch veränderte Kundenanforderungen, kürzere Produktzyklen und einen gestiegenen Innovationsdruck verändert sich die Volatilität beziehungsweise der Planungshorizont der Unternehmen. Damit ist die Unsicherheit im Hinblick auf die strategische Ausrichtung von Unternehmen und damit auch die Unsicherheit der einzelnen Mitarbeiter hoch, ob sie morgen ihren Job noch haben.

Bigtechs machen es vor

Zudem ist die Welt erheblich komplexer geworden: technische Neuerungen wie Cloud, Mobility, Automatisierung et cetera haben Arbeitserleichterung versprochen, tatsächlich ist unser aller Arbeitsfeld dadurch vielfältiger und komplexer geworden; die psychische Belastung nimmt zu. Weltweit agierende, große Unternehmen wie Google, Amazon, Facebook und Apple, haben es verstanden, sich die technischen Neuerungen zunutze zu machen und entwickeln mittels agiler Methoden neue Produkte mit einer ungekannten Kundenakzeptanz - über die klassischen Industriegrenzen hinweg.

Wir alle sehen uns mit der Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit - der Ambiguität - unserer digitalen Welt konfrontiert, insbesondere der Gratwanderung zwischen Verheißung (zum Beispiel Lebenserleichterung) und Bedrohung (zum Beispiel Zukunftsangst) durch die neuen Technologien und Produkte.

Ein professionelles Coaching kann all diese Themen auffangen. Bei Führungskräften ist ein Coaching in diesem Kontext besonders sinnvoll, da sie sich stärker für die Zukunft eines Unternehmens verantwortlich sehen und damit für die Zukunft tausender von Mitarbeitern. Laut der Studie Global Consumer Awareness des ICF (International Coaching Federation, 2017) hat die Bekanntheit und Nutzung von Coaching insgesamt ein bisher nie gekanntes Level erreicht und ist insbesondere in den Jahren 2010 bis 2017 sprunghaft angestiegen: 2010 und 2014 nutzten nur etwa 20 Prozent der Befragten Coaching, 2017 waren es bereits 58 Prozent.

Einer der größten Transformationsprozesse der Bank

Auch bei der ING ist das Thema "Agile Führung" derzeit einer der größten Transformationsprozesse, den die Bank jemals durchgeführt hat. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die erste agile Bank Deutschlands zu sein. Von der Produktentwicklung bis hin zur Kreditsachbearbeitung soll jede Einheit der ING agile Strukturen erhalten, mit agilen Methoden arbeiten und agiles Mindset leben. Die Transformation ist ein iteratives Vorgehen in drei Phasen:

- Der erste Teil des Unternehmens mit etwa 1 000 Mitarbeitern, die Produktentwicklung, wurde zum Sommer 2018 transformiert,

- der Service und Salesbereich mit rund 2 200 Mitarbeitern zum Juli 2019 und

- die Supportfunktionen mit rund 800 Mitarbeitern werden zum September 2019 umgestellt.

Die Transformation begleiten verschiedene agile, multidisziplinäre Teams aus Strategie, Kommunikation, Personalabteilung, Regulatorik, Operative, IT sowie Stabsabteilungen. So wurden alle Einheiten der Bank in die Transformation involviert. Zu Beginn des gesamten Prozesses gab es zwei wesentliche Herausforderungen:

1. Herausfinden, was passiert, wenn Entscheidungen und Prozesse aus der Hand gegeben werden.

2. Auch die Feststellung, dass nicht alle am gleichen Strang ziehen, war zunächst eine schwierige Situation. Wichtig war hier vor allem, dass man sich und seinen Werten treu bleibt und versteht, dass jeder Mitarbeiter und jede Führungskraft durch seine ganz individuelle Change-Kurve geht und jeder ein eigenes Verständnis von Offenheit, Involvement, Feedback, Transparenz, Problem- oder Hilfestellung hat.

Abschied vom Einzelbüro

Aber auch andere Probleme und Schwierigkeiten gab es zu meistern: Während in den Zeiten vor dem Umbruch jede Führungskraft ein Einzelbüro hatte und dadurch eine gewisse Distanz zu den Mitarbeitern entstanden war, wurde durch den neuen Führungsstil auch die räumliche Situation neu bewertet. So gibt es nun verstärkt Großraumbüros und auch der Vorstand der ING sitzt gemeinsam bei der täglichen Arbeit an einem großen Tisch. Dadurch hat sich auch die Qualität der Zusammenarbeit im Team entscheidend verbessert. Während zu Zeiten des traditionellen Führungsstils eine Meetingkultur herrschte, die hierarchischer Natur war, steht nun Mut zur Transparenz und damit ein Arbeiten auf Augenhöhe im Fokus.

Wenn die Führungskräfte mit gutem Beispiel voran gehen, kommt das bei den Mitarbeitern gut an. Wichtig ist, das Verhalten entsprechend sichtbar zu machen. So filmte die ING beispielsweise den Vorstand auf der Baustelle, als die Wände eingerissen wurden; dieser Film kam ins Intranet. Mitarbeiter können natürlich auch selbst vorbeischauen und sich das neue Großraumbüro ansehen. Das ist nur eine von vielen Maßnahmen.

Selbstorganisation der Mitarbeiter

Bei der Planung und Durchführung neuer Projekte macht sich der geänderte Führungsstil ebenfalls stark bemerkbar. Während vor der Umstellung das Team Vorgaben folgte, kann es jetzt freier und eigenständiger agieren. Das führt dazu, dass ständige Transparenz zu laufenden Prozessen möglich ist, außerdem kann sich die zuständige Führungskraft besser fokussieren, weil sie die Selbstorganisation und Verantwortung der Mitarbeiter ermöglicht.

Damit hat sich auch die Rolle der Führungskraft über die Monate hinweg verändert: Von der Hauptrolle "auf der Bühne", dem Entscheider, hin zu der Führungskraft hinter der Bühne, dem Servant Leader. Bei dieser Entwicklung und Weiterentwicklung spielte das Führungskräfte-Coaching eine große Rolle. Durch ein permanentes 1:1-Coaching ließen sich Themen wie Abgrenzungen im Verantwortungsbereich (Was nehme ich? Was lasse ich bei anderen?) und Klärung der eigenen Erwartungen (Was ist meine ideale, agile Welt? Und wie sieht die Wirklichkeit aus, in der ich arbeite?) viel besser aufarbeiten. Das Coaching half den Führungskräften, realistisch und mit emotionaler Distanz auf die eigene Situation zu schauen.

Sabine Engelhardt, Professional Certified Coach, International Coach Federation Deutschland e. V. (ICF Deutschland), Frankfurt am Main
Nadine Zasadzin, Leiterin "Center of Expertise Way of Working", ING AG, Frankfurt am Main
Sabine Engelhardt , Professional Certified Coach, International Coach Federation Deutschland e. V. (ICF Deutschland), Frankfurt am Main
Nadine Zasadzin , Leiterin "Center of Expertise Way of Working", ING AG, Frankfurt am Main

Weitere Artikelbilder

Noch keine Bewertungen vorhanden


X