DIGITALER VERTRIEB

Chancen und Risiken von KI für die Finanzbranche

Jochen Werne, Foto: Bankhaus August Lenz

Künstliche Intelligenz ist das neue Buzz-Wort der Finanzbranche, sagt Jochen Werne. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung wird sie zum Hoffnungsträger für die Banken - zu Recht, meint der Autor. Schließlich verfügen Banken über einen enormen Datenschatz. Trotz aller Digitalisierung und Einsatzbereiche von KI sieht Werne jedoch die Chance auf eine Renaissance der Beratung als Bindeglied zwischen Mensch und technisierter Welt. Red.

Nicht nur die Finanzbranche, sondern die ganze Welt befindet sich in einem tief greifenden Wandel, dem Wandel von der analogen in die digitale Ära. Die "Ressourcen" hierfür sind Daten, die "Handelsgüter" sind Informationen. Und das Einzigartige dabei: Wir selbst produzieren diese Rohstoffe - immer mehr, immer schneller. In einer Rede zum Thema Privacy and Big Data im Royal Institute for International Affairs, Chatham House legt der Harvard Assistant Professor Dr. Michael Kosinski zwei Slides auf. Das Erste zeigt eine IBM Schätzung über die weltweite durchschnittliche tägliche Produktion von Daten pro Person und Tag im Jahr 2012: 500 Megabyte. Das zweite Slide eine Schätzung des Economist für das Jahr 2025: 62 Gigabyte.

Diese Digital Footprints spiegeln nicht nur unser tägliches und äußerst privates Leben wider, sondern es sind ebenfalls die Zahlungsströme ganzer Unternehmen und Industrien, also digitale Daten der gesamten Wirtschaft, die tagtäglich den globalen Datenkosmos bereichern. Auch Google, Apple, Facebook und Amazon (GAFA) verorten in der Nutzbarmachung und Auswertung dieser Daten schon lange die Technologien der Zukunft. Auch Banken sowie Versicherungsgesellschaften sehen in Machine- und Deep-Learning-Ansätzen das Potenzial, zukünftig ein relevanter Spieler in einem zunehmend technologiegetriebenen Marktumfeld zu werden.

KI ist das neue Buzz-Wort

Nach "Fintech", "Blockchain" und "Kryptowährung" ist "KI" nun das neue Buzzword der Branche. Vom KI-optimierten Chatbot bis zum hochkomplexen, selbstlernenden Anlagealgorithmus - die Omnipräsenz des Begriffs suggeriert, dass die Integration der Artificial Intelligence ins eigene Business Model geradezu überlebensnotwenig zu werden scheint. Aber ist das wirklich so? Wo stehen wir mit den technischen Möglichkeiten und welche Faktoren sind durch Technologie nicht zu ersetzen?

Hoffnungsträger für die Branche

Erst die Erfindung des Buchdrucks 1450 durch Gutenberg ermöglichte es, Informationen in großem Stil zu vermehren - ein Meilenstein auf dem Zeitstrahl der Entwicklungen der Menschheit. Heute leben wir umgeben von Smartphones und Cloud-Anwendungen, in denen wir selbstgewählt die persönlichsten Informationen speichern, teilen und von überall auf der Welt abrufen können. Was in Zeiten dieser Technologieentwicklungen möglich wird, ist de facto nichts weniger als eine Revolution.

Es ist somit auch wenig verwunderlich, dass eine teilweise sorgenvoll in die Zukunft blickende Finanzbranche die mit KI verbundenen Möglichkeiten als Hoffnungsträger ansieht - besonders in Zeiten von Disruption, Vertrauensverlust der Kunden und neuer, technisch hochgerüsteter Wettbewerber.

Tatsächlich hat die Finanzbranche ein wertvolles Ass im Ärmel: Sie verfügt über einen über Jahrzehnte angewachsenen Berg an strukturierten Kundendaten. Durch reifende KI-Systeme wird das Aufbereiten und Verarbeiten - sprich das nutzbar Machen dieser Daten nicht nur einfacher, sondern sehr viel kostengünstiger, schneller und zielgerichteter. KI kann es den Banken daher nicht nur ermöglichen, ihre Serviceleistungen noch kundenspezifischer zu machen, sie wird viele Bereiche der Finanzbranche maßgeblich verändern - vom Asset Management über Business Operations und Geldwäscheprävention bis hin zum Marketing.

Die Komplexität der Veränderungen auf allen Ebenen, beginnend mit den vollkommen veränderten, technologischen Möglichkeiten und ihren Auswirkungen auf die Transformation alteingesessener Geschäftsmodelle, über die sich daraus ergebende neue wirtschaftliche Situation der Unternehmen sind enorm. Der Unterschied zu Umbrüchen in vergangenen Jahrzehnten liegt in der zeitlichen Komponente. Wenn Unternehmen heute nicht unmittelbar auf Marktveränderungen reagieren, eröffnen sie dadurch Wettbewerbern den Weg zur eigenen Kundschaft. Und dies schneller als je zuvor. Laut einer neuen Studie von Innosight beschleunigt sich die sogenannte kreative Zerstörung weiter. Auch über die kommende Dekade hinweg soll die Verweildauer von Unternehmen auf der S&P500 Liste, der Aktienindex, der die Aktien von 500 der größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen umfasst, weiter abnehmen. So war die Verweildauer auf der S&P500 Liste 1964 noch 33 Jahre, was in 2016 bereits auf 24 Jahre geschrumpft ist. In 2027 sollen es nur noch 12 Jahre sein.

In solch disruptiven Zeiten wünschen sich alle Beteiligten einen "effizienten" Change-Prozess. Aktives, wohlüberlegtes Change Management wird aber oft sträflich vernachlässigt. Dafür öffnet man blindem Aktionismus Tür und Tor. Das Geschäftsmodell einer Finanz- Plattform ist komplex, die Regulatorik streng und die Wechselbereitschaft der Kunden nur gering. Aus diesem Grund war dieses Geschäftsmodell bislang zu uninteressant für die Fast-Growth- Internetkonzerne. Gerade die oftmals als konservativ und unmodern wahrgenommenen Banken sollen sich nun in digitale Plattformen wandeln, die es mit Amazon & Co. aufnehmen können?

Banken brauchen eine zukunftsweisende und nachhaltige Strategie. Diese beginnt mit dem Verständnis, dass seit Ende der neunziger Jahre unser aller Leben durch Technologiesprünge geprägt wird. Kurz gesagt: Die Welt dreht sich gefühlt schneller als je zuvor und verlangt von allen eine hohe Adaptionsfähigkeit. Hierbei muss man jedoch zwei Sphären unterscheiden:

- Erstens unsere Sphäre als Konsumenten digitaler Services, in der wir jenen Dienstleistungen unser Vertrauen schenken, die einfach handhabbar, intuitiv erlernbar und vermeintlich sicher sind.

- Die zweite Sphäre ist diejenige der Entscheider und Führungskräfte und ihrer Fähigkeit des Erlernens eines fundamentalen Basisverständnisses der erwähnten neuen Technologien, um auch zukünftig den von ihnen erwarteten Job des "Strategy Makers" ausüben zu können. Die vermeintliche Überforderung und absolute Disqualifikation in diesem Bereich zeigt sich immer wieder auf Konferenzen, wenn Führungskräfte eine Rede mit den Worten beginnen: "Ich war total überrascht, als meine Tochter mir gezeigt hat ..."

Was heißt dies für die Banken des 21. Jahrhunderts? Wer diese exponentielle Dynamik technischer Möglichkeiten nicht versteht oder nicht ausreichend in seinem Geschäftsmodell berücksichtigt, wird den Anschluss verlieren - Anschluss an die Kunden von heute und von morgen.

Jeder große Technologiesprung ging historisch betrachtet immer mit einer positiven und einer missbräuchlich nutzbaren Entwicklung einher. Bei jeder elektronischen Transaktion entstehen kundenspezifische Daten. Diese bereits seit vielen Jahren erhobenen strukturierten Datensätze werden nun zum wertvollsten Rohstoff. In Kombination mit der Anreicherung externer, eventuell nichtstrukturierter Daten gilt es, sie sinnvoll "nutzbar" zu machen. Genau hier liegt jedoch auch das Risiko. Geraten die Daten in falsche Hände und wird bewusst Missbrauch betrieben, kann Personen und Gruppen durch Cyber-Angriffe gezielt erheblicher Schaden zugeführt werden. Vertrauen ist und bleibt eines der wichtigsten Assets einer Bank, welches es um jeden Preis zu schützen gilt.

Dass das Thema ernst genommen wird, zeigt sich nicht nur in nationalen Initiativen, wie der deutschen Plattform für Künstliche Intelligenz "Lernende Systeme", sondern beispielsweise auch im europäischen Artificial-Intelligence-Schulterschluss, der mit Hochdruck von Frankreich und Deutschland vorangetrieben wird.

Neue Ertragsquellen durch effiziente Datennutzung finden

Unbestreitbar befindet sich die gesamte Bankenwelt in einer entweder massiv evolutorischen oder sogar disruptiven Transformationsphase. Nicht die Technologiesprünge selbst bedrohen dieses Geschäft, wie wir es seit 500 Jahren kennen. Die Kunden haben vor allem ihr Verhalten seit der Einführung des Smartphones 2007, also vor lediglich 12 Jahren, grundlegend geändert. Sie sind einerseits nicht bereit, lieb gewonnene Gewohnheiten, wie von den Banken quer subventionierte kostenfreie Girokonten oder kostenfreie Geldautomatenabhebungen, aufzugeben. Vielmehr weichen sie bei margenträchtigen Geschäften auch noch auf flexible Anbieter aus, die es mit ihren Angeboten oftmals schaffen, das Kundenverhalten besser zu antizipieren. In einer preissensiblen Kultur wie der deutschen, in welcher Werbekampagnen, wie "Geiz ist geil" zu Symbolen für Konsum mit Spareffekt avancierten, ist es nur logisch, dass klassische Dienstleistungen nur dann nachgefragt werden, wenn es sie anderswo nicht bequemer, günstiger und in der heutigen Zeit vor allem "digitaler" gibt.

Um die Akzeptanz für neue Technologien, allen voran der KI, in der Finanzbranche voranzutreiben, ist es wichtig, dass bestehende digitale Tools immer besser auf die veränderten Kundenbedürfnisse angepasst werden. Die erfolgreiche Symbiose zwischen Mensch und Digital-Technik ist dabei unabdingbar. Mithilfe von Online-Finanzforen, Banking-Apps, Vlogs und digitalen Branchenvergleichen können Privatpersonen heute zwar im Grunde den gleichen Wissensstand erreichen wie Finanzprofis, doch was in der Regel fehlt, ist die erfolgreiche Filterung des "information overloads" und die Berücksichtigung des Behavioral-Finance-Problems. Ein realistisches Modell für eine erfolgreiche Transformation der Finanzbranche - auch unter Nutzung von KI-Systemen - heißt daher in der Theorie ganz simpel und in der Praxis äußerst komplex: neue Ertragsquellen durch die effiziente Nutzung von Daten finden, die Bedürfnisse des immer digitaler werdenden Kunden stets in den Mittelpunkt sämtlicher Aktivitäten zu stellen und ihn auf seinem Weg der Transformation idealerweise parallel zu begleiten.

Nicht zu vergessen ist auch, eigene Geschäftsmodelle und -prozesse massiv zu verschlanken und zu optimieren. Transformation steht und fällt mit konkret erfolgreichen Einsatzszenarien. Folglich kann die technologische Revolution einhergehend mit dem Einsatz von KI-Systemen nur gelingen, wenn sie gesellschaftlich akzeptiert wird. Dass wir Kunden dies nicht als selbstverständlich akzeptieren, zeigt eine Studie von Autonomous, veröffentlicht in The Financial Brand im Mai 2018, wo 46 Prozent der Befragten angaben, sich von einer KI-unterstützen Operation unterziehen zu lassen, jedoch nur 34 Prozent meinten, sich dabei wohl zu fühlen, wenn ihre Bank Künstliche Intelligenz in der Finanzberatung einsetzen würde.

In der Menschheitsgeschichte war Sorge immer ein Begleiter von Veränderung. Obwohl Menschen von Geburt an mit Veränderungen umgehen müssen, um unser Überleben zu sichern, scheint Angst zu unserem ständigen Begleiter geworden zu sein. Der renommierte amerikanische Psychologe Martin Seligman bezeichnet dieses Phänomen als "erlernte Hilflosigkeit", das heißt es entwickelt sich aufgrund unangenehmer, negativer Erfahrungen wie Gewalt, Verlust oder Entlassung das Gefühl, ohne Kontrolle, also hilflos zu sein. Die Reaktion darauf, kann in der Verweigerung zur eigenen Veränderung münden.

Eine Renaissance für Bank- und Finanzberater?

Unter Berücksichtigung demografischer Aspekte sehen sich aktuell vor allem ältere Menschen durch den digitalen Wandel mit Neuerungen konfrontiert, mit denen sie sich deutlich schwerer vertraut machen können, als dies für digital affine Bevölkerungsschichten der Fall ist. Dreh- und Angelpunkt ist auch hier der Zeitfaktor. Die Veränderungsgeschwindigkeit unserer Zeit setzt Anpassungen voraus. Ältere Menschen haben aufgrund fehlender Routine oder seltenerer Konfrontation mit Digitalität im Alltag Herausforderungen mit schnelllebigen Innovationen Schritt zu halten. Darüber hinaus helfen nahezu tägliche Schlagzeilen in den Medien wie "Totale Transparenz", "gläserner Konsument", "ständige Verfügbarkeit, "Artificial Intelligence" oder Themen wie "Arbeitsplatzverlust aufgrund anhaltender Automatisierung" nicht, Vertrauen zu schaffen und Sorgen und Ängste zu minimieren.

Allen Unkenrufen zum Trotz bedeutet deshalb gerade die Digitalisierung die Chance auf eine Renaissance des Berufsstandes des Finanzberaters. Jedoch handelt es sich hierbei um einen Typus Berater, der wesentlich näher an den Kunden, seine Bedürfnisse, Wünsche und auch Ängste rücken muss, als dies bisher der Fall war. Der Kern dieser Arbeit liegt nicht darin, komplexe Portfolios zu managen und mithilfe selbst entwickelter Machine-Learning-Algorithmen zu optimieren. In der Analyse komplexer « Datenmengen wird der Mensch einen Computer nicht schlagen können. Stattdessen sind zukünftige Finanzberater die Schnittstelle zum Kunden. Sie sind Vertrauens- und Wissensvermittler, die dem Privatinvestor eine komplexe Materie wie die Finanzmarkttheorie oder gesellschaftspolitische Zusammenhänge und ihre Auswirkungen auf das eigene Portfolio übersetzen können.

Der Mehrwert, den persönliche Finanzberatung bietet, ist der Fakt, dass sie ein Bindeglied zwischen menschlichen Bedürfnissen und einer immer schneller und immer komplexer werdenden Welt darstellen kann. Hochqualifizierte und in Kommunikation geschulte Finanzberater können einem Kunden abstrakte Konzepte mit konkreten Beispielen so erläutern, dass der Kunde sie wirklich versteht. Zwischen diesen Spannungsfeldern bewegt sich das Individuum "Mensch". Auf der einen Seite Initiator all dieser Veränderungsprozesse, andererseits Betroffener. Zum einen genießt der Mensch die Vorteile der Neuerungen und nutzt innovative Tools, die sein Leben zweifelsohne in vielerlei Hinsicht erleichtern. Zum anderen darf er dem Charme jeder smarten Innovation nicht in blinder Euphorie verfallen, sondern muss verantwortungsvoll mit den Technologien umgehen.

Nicht alle Probleme durch KI zu lösen

Innovative Technologien bringen neben vielen Erleichterungen auch oben beschriebene Herausforderungen mit sich. Folgender Vergleich sollte vereinfacht die gerade aufgezeigte Problematik zwischen Stärken und Limitationen automatisierter Systeme verdeutlichen: Ein Autopilot hätte 2012 die Costa Concordia wohl nicht mit einem Felsen kollidieren lassen - der Grund war menschliches, emotionsgetriebenes Verhalten. Ein Autopilot hätte aber auch 2009 nicht einen Airbus 320 auf dem Hudson River landen können. Dafür brauchte es menschliche Erfahrung und spontane Kreativität. Etwas, das unser Gehirn leisten kann, jedoch die technischen Möglichkeiten von KI noch auf absehbare Zeit an harte Grenzen stoßen lässt.

Auch die im Behavioural-Finance-Problem angelegten, auf emotionalem Verhalten basierenden Fehler können nur bedingt durch KI-Systemunterstützung gelöst werden. Ein bei Produktabschluss mit hohem Vertrauensvorschuss auf Kundenseite versehenem, algorithmenbasierter, digitaler Berater wird im Falle eines Finanzcrashs besorgten Anlegern via Chatbot nur schwer die Unterstützung bieten können, die in einem solchen Moment des starken Ungleichgewichts zwischen Ratio und Emotio vonnöten ist.

Ein persönlicher Berater wirkt in Krisenzeiten präventiv. Er setzt sich individuell mit dem jeweils konkreten Finanzbedarf auseinander und bindet diesen optimal in die gesamte Finanzsituation des Kunden ein. Ähnlich wie bei einem Arzt oder Rechtsanwalt geht es also vor allem darum, den Kunden kompetent in dessen spezifischer Lebenssituation zu beraten, ohne die Gesamtsituation aus den Augen zu verlieren. So ist beispielsweise ein zwischenzeitlicher Wertverlust um 30 Prozent auch für einen langfristig orientierten Anleger zunächst schmerzhaft, doch gleichzeitig auch eine gute Gelegenheit zum Nachkaufen. In einem solchen Krisenfall stellt sich die Frage, ob ein Kunde in einem von Panik gekennzeichneten Umfeld besser von einem Chatbot oder einem Menschen zu rationalen Überlegungen veranlasst wird.

Aktuell ist es noch zu früh, um im Detail vorherzusagen, welche operativen Bereiche der Finanzwelt durch den Einsatz neuer Systeme einen disruptiven Wandel erfahren werden. Die bisherigen Finanzkrisen haben jedoch immer wieder gezeigt: Eine vertrauensbasierte persönliche Beratung kann entscheidend sein für eine erfolgreiche langfristige Geschäftsbeziehung.

Jochen Werne, Direktor, Bankhaus August Lenz & Co. AG, München
Jochen Werne , Direktor, Bankhaus August Lenz & Co. AG, München

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