REGULIERUNG

Prozyklität der Bankenregulierung im Kreditgeschäft

Prof. Dr. Anja Schulz, Foto: S-Hochschule

Wirkt Regulierung prozyklisch? Diese Frage analysiert Anja Schulz am Beispiel des Kreditgeschäfts und geht hierfür den Baukasten regulatorischer Maßnahmen durch. Der Praxistest dieser Instrumente in der Corona-Krise steht noch aus. Angesichts der Ad-hoc-Maßnahmen im Umfeld der Pandemie ist die Autorin jedoch zuversichtlich, dass sich zumindest keine großen prozyklischen Effekte zeigen werden. Red.

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Infolge der Finanzmarktkrise in den Jahren 2007/2008 wurde eine mögliche prozyklische Wirkung der Bankenregulierung intensiv diskutiert, insbesondere im Hinblick auf die regulatorischen Eigenmittelanforderungen. Auch aktuell - während der Corona- Krise - wird ihre Prozyklizität kritisch betrachtet. Am Beispiel des Kreditgeschäfts heißt das: Risikoabhängige Eigenmittelanforderungen werden mit der Konjunktur variieren. Bei konstant angenommenem Kreditvolumen werden die Eigenmittelanforderungen für Kreditrisiken in der Rezession steigen und vice versa. Ein Anstieg der Eigenmittelanforderungen aufgrund gestiegener Risiken ist beabsichtigt und als sinnvoll zu erachten. An dem Risiko ausgerichtete Eigenmittelanforderungen reduzieren die Anreize zur aufsichtlichen Regulierungsarbitrage sowie die "Moral-Hazard"-Problematik, dass Geschäftsleiter von Kreditinstituten risikoreichere Geschäfte auf Kosten ihrer Kapitalgeber eingehen. Steigen nun in einem wirtschaftlichen Abschwung die Eigenmittelanforderungen für die ausgereichten Kredite an, stehen den Kreditinstituten weniger bis gar keine Eigenmittel als Risikodeckungsmasse zur Ausgabe neuer Kredite zur Verfügung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Eigenmittel in solchen Phasen häufig bereits durch die Bildung höherer Risikovorsorge belastet sind. Da die Beschaffung neuer Eigenmittel in einer Rezession schwierig ist, resultiert eine Verknappung der Kreditvergabe.

Mehr als bloße Theorie

Die restriktive Kreditvergabe ("Kreditklemme"), könnte die wirtschaftliche Abschwungphase insbesondere in Staaten mit kreditfinanzierten Unternehmen verschärfen. Dagegen sinken die Eigenmittelanforderungen aufgrund verbesserter Bonität der Kreditnehmer in Aufschwungphasen. Die Entlastung könnten Kreditinstitute nutzen, um das Kreditvolumen übermäßig auszudehnen, wodurch auch die Aufschwungphase verstärkt werden könnte bis hin zu einer Überhitzung. Diese die Konjunktur verstärkende Wirkung der regulatorischen Eigenmittelanforderungen wird als Prozyklizität bezeichnet. In verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen wurde die Abhängigkeit des Kreditverhaltens der Kreditinstitute analysiert und eine prozyklische Wirkung tatsächlich beobachtet.

Abbildung 1: Prozyklische Wirkung der risikosensitiven Eigentmittelanforderungen für Kreditrisiken Quelle: Anja Schulz in Anlehnung an EZB (2009)

Die unerwünschten prozyklischen Nebeneffekte einer Schwankung der Eigenmittelanforderungen sind umso heftiger, je kürzer der Zeitraum ist, auf den sich die Bonitätseinschätzung bezieht. Im Internal-Rating-Based-Ansatz (IRBA) ermitteln die Kreditinstitute mit eigenen Verfahren die einjährige Ausfallwahrscheinlichkeit des Kreditnehmers. Dabei scheinen zumindest in der Vergangenheit häufiger sogenannte Point-in-Time- anstelle von Through-the-Cycle-Ansätzen genutzt worden zu sein, die im Einklang mit der Capital Requirements Regulation, (CRR) stehen.

Behn/Haselmann/Wachtel (2016) zeigen in ihrer empirischen Untersuchung für Deutschland, dass insbesondere Kreditinstitute, die den IRBA verwenden, ihr Kreditangebot nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers als Folge der prozyklischen Regulierung wesentlich reduziert haben. Neben der geforderten Eigenmittelunterlegung für Kreditrisiken sind auch die Kapitalanforderungen für Marktpreisrisiken aufgrund ihrer Konstruktion anfällig für eine prozyklische Wirkung.

Basel III: Instrumente zur Reduzierung der Prozyklizität

Als eine der wesentlichen Schlussfolgerungen aus der Finanzmarktkrise sollte die Prozyklizität durch geeignete Maßnahmen abgemildert und damit die Stabilität des Finanzmarktes, aber auch die Kreditversorgung der Wirtschaft sichergestellt werden. Das Basel-III-Rahmenwerk enthält daher einen Mix verschiedener Instrumente, von denen fast alle bereits in der EU um gesetzt sind. Die eingeführten Maßnahmen lassen sich in vier Gruppen einteilen: Nutzung von Kapitalpuffern, Stärkung der makroprudenziellen Aufsicht, komplementärer Einsatz von risikounabhängigen Mindestgrößen sowie stärkere Berücksichtigung von Abschwung- oder Stressperioden bei der Bestimmung regulatorischer Messgrößen.

Mit dem Basel-III-Rahmenwerk wurden fünf Kapitalpuffer eingeführt. Von besonderer Bedeutung hinsichtlich der Milderung der Prozyklizität sind der Kapitalerhaltungspuffer sowie der antizyklische Kapitalpuffer. Der Kapitalerhaltungspuffer ist Anfang 2014 mit der Verpflichtung eingeführt worden, diesen bis 2019 zeitlich gestuft bis zu einer Höhe von 2,5 Prozent der Gesamtrisikoposition eines Kreditinstituts aus hartem Kernkapital aufzubauen. Er ist zusätzlich zu der Mindestkapitalquote von 8 Prozent einzuhalten. Mit dem Kapitalerhaltungspuffer wird neben der Erhöhung der Eigenmittel die Idee verfolgt, dass in Abschwungphasen zusätzliches Kapital zur Verlustabsorption und zur Kreditvergabe verfügbar ist und folglich die Prozyklizität abgemildert wird. Die Abmilderung soll auch in wirtschaftlichen Aufschwungphasen eintreten. Während der Kapitalpuffer wiederaufgefüllt werden muss, steht eine geringere Kapitalbasis für das Neukreditgeschäft zur Verfügung, welche Übertreibungen im Kreditwachstum begrenzt. Dieser Mechanismus kann jedoch nur funktionieren, wenn die Aufsichtsbehörden und (bei kapitalmarktorientierten Kreditinstituten) die Marktteilnehmer eine Auflösung des Kapitalpuffers in einem Abschwung dulden.

Die Höhe des antizyklischen Kapitalpuffers in einem Staat wird von der zuständigen Behörde anhand von verschiedenen Kenngrößen eines Kreditzyklus festgelegt. Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2010) schlägt hierzu das Verhältnis aus Kreditvolumen an den privaten Sektor zum BIP vor. Bei einer Abweichung dieses Verhältnisses von seinem auf Basis eines geeigneten Filters (Hod rick-Prescott-Filter) ermittelten langfristigen Trend in Höhe von mindestens zwei Prozentpunkten soll mit dem Aufbau des Puffers begonnen werden. Die Abweichung wird auch als Kredit/BIP-Lücke bezeichnet. Der Kapitalpuffer kann in Schritten von 0,25 Prozent bis zu seinem Höchstwert von 2,5 Prozent erhöht werden, der bei einer Abweichung von mindestens 10 Prozentpunkten zur Anwendung kommen soll. Die Nutzung der Kredit/ BIP-Lücke zur Bestimmung des Zeitpunktes und der Höhe des Kapitalpuffers ist nicht unumstritten.

Abbildung 2: Kredit/BIP-Lücke nach nationaler Methode 1989 bis 1. Quartal 2019 in Deutschland Quelle: Anja Schulz, Daten von Deutscher Bundesbank und BaFin

In Deutschland stützt sich die BaFin bei der Ermittlung des Kapitalpuffers auf das Methodenpapier von BaFin und Deutsche Bundesbank (2015), in dem eine sogenannte nationale Methode für die Ermittlung der Kredit/BIP-Lücke und die Ableitung des Pufferrichtwerts vorgeschlagen wird. Diese nimmt im Vergleich zur Methodik des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht zwei Modifikationen vor: Verwendung eines engeren Kreditbegriffs im Zähler der Kredit/BIP-Quote sowie die Anpassung der Umrechnungsformel zur Ableitung des Richtwerts für den Kapitalpuffer. Ursprünglich sollte mit der Allgemeinverfügung der BaFin vom 28. Juni 2019 ab dem 1. Juli 2020 erstmals ein antizyklischer Kapitalpuffer in Höhe von 0,25 Prozent für Deutschland eingeführt werden, da entsprechend der Begründung der BaFin ein Erreichen beziehungsweise Überschreiten der Schwelle von 2 Prozentpunkten aufgrund der BIP-Prognosen ab dem zweiten Quartal 2020 damals zu erwarten war.

Auch die anderen drei Kapitalpuffer (der Systemrisikopuffer, der Puffer für global systemrelevante Institute und der Puffer für anderweitig systemrelevante Institute) sollen in wirtschaftlichen Abschwungphasen beziehungsweise in Stresssituationen genutzt werden können. Damit soll die Widerstandfähigkeit der Kreditinstitute gestärkt und die Kreditversorgung der Realwirtschaft aufrechterhalten werden.

Stärkung der makroprudenziellen Aufsicht

Die bis zur Finanzmarktkrise vorherrschende mikroprudenzielle Aufsicht wurde auf europäischer Ebene mit der Einrichtung des Europäischen Ausschusses für Systemrisiken (European Systemic Risk Board, ESRB) und auf deutscher Ebene mit dem Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) um eine makroprudenzielle Sichtweise ergänzt. Beide Ausschüsse haben die übergeordnete Aufgabe, systemische Risiken frühzeitig zu erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen vorzuschlagen.

Eine mikroprudenzielle Aufsicht, deren Fokus auf dem einzelnen Kreditinstitut liegt, ist nicht hinreichend in der Lage, systemische Risiken zu identifizieren. Die ergänzende makroprudenzielle Aufsicht ist daher sinnvoll, um Systemrisiken rechtzeitig zu erkennen und durch entgegenwirkende Maßnahmen das Eintreten von Krisensituationen zu verhindern oder deren Auswirkungen zu mildern. Seit 2016 warnen ESRB und AFS insbesondere vor mittelfristigen Risiken aus einer möglichen Überbewertung von Wohnimmobilien und empfahlen die Einleitung entsprechender Gegenmaßnahmen. Dieser Empfehlung kam der deutsche Gesetzgeber mit einer Ergänzung des KWG nach. Gemäß § 48u Abs. 2 KWG darf die Ba-Fin durch die Festlegung einer Obergrenze für den Loanto-Value und/oder eine maximale Kreditlaufzeit die Kreditvergabe beschränken.

Mit der Einführung der risikoinsensitiven Leverage Ratio verfolgt der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht mehrere Zielsetzungen. Ein wesentliches Ziel ist die Reduzierung der übermäßigen Verschuldung von Kreditinstituten, die sich in der Finanzmarktkrise als Ursache für Notveräußerungen von Vermögensgegenständen herausstellte. Weiterhin soll mit der Leverage Ratio parallel zu den risikobasierten Eigenmittelanforderungen eine risikoinsensitive Größe zur Anwendung kommen, um die mit der Risikobasierung verbundenen Nachteile zu beheben. Ab Sommer 2021 ist die Leverage Ratio von den europäischen Kreditinstituten als verbindliche Mindestgröße einzuhalten. In wirtschaftlichen Aufschwungphasen wird tendenziell die Leverage Ratio die dominierende Eigenmittelanforderung darstellen. Dadurch wird im Vergleich zu einer alleinigen Anwendung der risikosensitiven Eigenmittelanforderungen das Eigenmittelpotenzial für die Kreditvergabe reduziert. In Abschwungphasen werden tendenziell die risikosensitiven Eigenmittelanforderungen die relevante Mindestgröße sein, sodass die Leverage Ratio keine mildernde Wirkung auf die Prozyklizität haben kann.

Praxistest steht noch aus

Die European Banking Authority, EBA fordert in der Leitlinie EBA/GL/2017/16 eine stärkere Berücksichtigung von wirtschaftlichen Abschwungphasen bei der institutseigenen Schätzung von Ausfallwahrscheinlichkeiten und Verlustquoten im IRBA. Der Baseler Ausschuss hat zudem regulatorische Messgrößen bei anderen Risikoarten auf Basis von Abschwung- oder Stressperioden kalibriert, um für eine in schlechten Zeiten ausreichende Eigenmittel- und Liquiditätsausstattung vorzusorgen. Zu nennen sind hier beispielhaft die kurzfristige Liquiditätsrisikokennziffer ("Liquidity Coverage Ratio") für das Liquiditätsrisiko, die Berücksichtigung eines stressed-VAR als Bestandteil der gegenwärtigen internen Marktrisikomodelle sowie die Ermittlung des Expected Shortfall in den zukünftigen internen Marktrisikomodellen. Eine Kalibrierung der Instrumente für das Kredit- und Marktrisiko basierend auf Rezession- beziehungsweise Stressphasen führt zu höheren Eigenmittelanforderungen über den Konjunkturzyklus hinweg, wodurch in Aufschwungphasen übermäßigem Kreditwachstum entgegengewirkt wird.

Die Einführung der Instrumente wurde von einer intensiven Diskussion über die mögliche dämpfende Wirkung auf die Prozyklizität begleitet. Der Praxistest der regulatorischen Maßnahmen steht jedoch noch aus. Zur Milderung prozyklischer Effekte werden sicherlich auch die Kreditinstitute durch die Verfolgung nachhaltiger Geschäftsmodelle und daraus abgeleiteter Kreditrisikostrategien beitragen.

Im Zuge der Corona-Krise wurden verschiedene Ad-hoc-Maßnahmen beschlossen, um temporäre Erleichterungen bei den Kapital- und Liquiditätsanforderungen zu schaffen und damit auch der Prozyklizität entgegenzuwirken. Die Aufsichtsbehörden haben verkündet, dass die festgesetzten Kapital- und Liquiditätspuffer vorübergehend nicht eingehalten werden müssen. Nach der Krise soll den Kreditinstituten ausreichend Zeit gegeben werden, um sie wiederaufzufüllen. Die EZB hat den qualitativen Multiplikator für Marktrisikomodelle im April 2020 gesenkt, um einem weiteren Anstieg der Eigenmittelanforderungen zu bremsen. Und die BaFin verzichtet auf die Einführung des antizyklischen Kapitalpuffers.

Ob das im Rahmen von Basel III eingeführte Instrumentarium in der Corona- Krise eine nachteilige, prozyklische Wirkung auf die Wirtschaft im ausreichenden Maße verhindert oder zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind, kann abschließend erst in einigen Jahren beantwortet werden. Durch die zusätzlichen Adhoc-Maßnahmen ist aber Optimismus gerechtfertigt, dass keine großen pro zyklischen Effekte entstehen. Denn Adhoc-Maßnahmen sind flexibel einsetzbar und können im Gegensatz zu den permanenten Instrumenten schlechter antizipiert werden und dadurch größere Wirkung entfalten.

Literaturhinweise

BaFin/Deutsche Bundesbank (2015): Der antizyklische Kapitalpuffer in Deutschland, November 2015, Link: https://www.bundesbank.de/resource/blob/598690/e627e8ef7407a27adf5d001bfafb4e92/mL/der-antizyklische-kapitalpuffer-data.pdf (abgerufen am 14. Dezember 2020)

Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht (2010): Guidance for national authorities operating the countercyclical capital buffer, BCBS 187, Dezember 2010.

Behn, M./Haselmann, R./Wachtel, P. (2016): Procyclical Capital Regulation and Lending, Journal of Finance 71 (2), S. 919-956.

Borio, C./Furne, C. and Lowe, P. (2001): Procyclicality of the financial system and financial stability: issues and policy options, BIS Working Paper No 1. Europäische Zentralbank (2009), Financial Stability Review, Dezember 2009, Link: https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/fsr/financial-stabilityreview200912en.pdf (abgerufen am 14. Dezember 2020).

European Banking Authority (2017): Leitlinien für die PD-Schätzung, die LGD-Schätzung und die Behandlung von ausgefallenen Risikopositionen, EBA/GL/2017/16.

Schüler, Y. (2019): Über den Leitindikator zur Ermittlung des antizyklischen Kapitalpuffers unter Basel III, Deutsche Bundesbank, Research Brief, 27. Ausgabe.

Schulte-Mattler, H. (2014): Antizyklische und systemische Eigenmittelpuffer, die bank, Heft 2014, S. 8-15.

Walther, S. (2012): Dämpfung der prozyklischen Wirkung von Kapitalanforderungen in Basel III? Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Bankwirtschaft, Band 8.

Prof. Dr. Anja Schulz, Professur für Bankbetriebslehre, insbesondere Bankenregulierung, Hochschule für Finanzwirtschaft & Management GmbH, Bonn
Prof. Dr. Anja Schulz , Inhaberin der Stiftungsprofessur für Bankenregulierung

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