Bausparen und Bausparkassen 2012

Die Akquisitionsstrategie von Wüstenrot

Seit 2006 erlebt die Wüstenrot & Württembergische (W&W), die 1999 aus dem Zusammenschluss der Traditionsunternehmen Wüstenrot und Württembergische hervorging, einen tiefgreifenden Umbau. Unter neuer Führung wurde der W&W-Gruppe ein umfassendes Modernisierungs- und Restrukturierungsprogramm auferlegt mit dem Ziel, geschäftsfeldübergreifend mehr Wachstum, mehr Effizienz und mehr Rentabilität zu erzielen.

Es galt, den Verlust von Marktanteilen nachhaltig zu stoppen, die Unternehmensgruppe wieder auf Wachstumskurs zu bringen und langfristig als "den Vorsorge-Spezialisten" auf dem Markt zu etablieren. Insbesondere die Wüstenrot Bausparkasse war Mitte des vergangenen Jahrzehnts in einer Existenzkrise, da entscheidende Trends zur Rationalisierung der Prozesse und zur wertorientierten Ausrichtung ihres Geschäftsmodells versäumt wurden.

Die W&W als Muttergesellschaft der ältesten heimischen Bausparkasse definierte vor diesem Hintergrund konkrete strategische Ziele: Der Marktzugang sollte stark ausgebaut und das Unternehmen infolge dessen zur Nummer zwei der deutschen Bausparkassen heranreifen. Es ist für alle Branchen-Insider eine simple Erkenntnis, dass diese Ambitionen allein aus den bestehenden Vertriebsstrukturen heraus nicht zu bewerkstelligen war. Wüstenrot erhielt daher eine "license to buy" und den klaren Auftrag, eine aktive Rolle in der Konsolidierung der privaten Bausparkassen in Deutschland zu übernehmen. Für den Erfolg der Wachstumsstrategie spielten somit neben organischem Wachstum zusätzliche Akquisitionen eine entscheidende Rolle.

Kaufen ist keine Kunst integrieren schon

Bei Übernahmen und Zusammenschlüssen scheitern viele Unternehmen an den Tücken der Integration. Jede zweite Integration - die Zahlen variieren je nach Quelle zwischen 50 und 70 Prozent - misslingt, gemessen an der Differenz von erwarteten zu tatsächlich erreichten Vorteilen des Zusammenschlusses. Die Ursachen, warum sich die Erwartungen von Investoren, Management, Mitarbeitern und Kunden nicht erfüllen, sind insbesondere auf empirischer Basis bestens erforscht - ebenso die Erfolgsfaktoren einer Post-Merger- Integration (PMI).

Die Analysen von Übernahmeerfahrungen zeigen zudem, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit weit weniger vom konkreten Zeitpunkt des Kaufs abhängt als von der Qualität und Stringenz der Vorarbeiten. Dies gilt sowohl für die Klarheit über die eigene Wachstumsstrategie als auch für die Such- und Filterkriterien bei der Wahl eines Fusions- oder Übernahmekandidaten und die Etablierung von M&A- und Integrationskompetenz im Unternehmen. Jeder konkrete Fall eines gelungenen Zusammenschlusses lohnt daher einen genaueren Blick.

Im Fall von Wüstenrot wurden im Zuge der Restrukturierung in den Jahren 2006 und 2007 konkrete Wachstumsziele skizziert und ebenso geduldig wie konsequent verfolgt. Die Klarheit über die eigene Strategie ermöglicht eine zielgerichtete Auswahl geeigneter Übernahme- oder Fusionskandidaten, gemessen am strategischen, kulturellen und finanziellen "Fit": Welche Option ist tatsächlich geeignet, den maximalen Wert zu realisieren und die Unternehmensstrategie zu fördern? Welche Risiken ergeben sich zum Beispiel aus dem aktuellen Wettbewerbsumfeld, der konjunkturellen Entwicklung und Unsicherheiten an den Finanzmärkten? Und welcher Preis ist vor dem Hintergrund dieser Erwägungen angemessen?

Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine realistische Einschätzung von Synergieeffekten und Werttreibern, den Abgleich mit den eindeutigen, zuvor definierten Zielen und die systematische Vorbereitung der Verhandlungen. Im Unterschied zu einer Akquisitionsstrategie, die aus der Gelegenheit heraus die einzelne Transaktion bewertet, schafft ein systematischer Prozess für die Durchführung von M&A die Voraussetzungen dafür, realistische Erwartungen in realisierbare Ergebnisse zu verwandeln und die Risiken zu minimieren.

Dieser Prozess beginnt mit einer dauerhaften Wettbewerbsbeobachtung, auch wenn aktuell keine Übernahme ansteht, und endet lange nach der eigentlichen Integration mit einem konsequenten Nachhalten der Erfüllung der gesetzten Ziele durch geeignete Kennziffern. Die hierfür notwendigen betriebs- und personalwirtschaftlichen sowie organisatorischen und technischen Kompetenzen bauen erfolgreiche Übernehmer nicht ad hoc, sondern systematisch und langfristig im Unternehmen als Teil der strategischen Planung auf.

Steht dann eine konkrete Übernahme an, kann ein Unternehmen auf diese Kompetenzen zurückgreifen, um zum Beispiel in der Planungs- und Prüfungsphase zuverlässig die risikobehafteten Werthebel frühzeitig zu identifizieren und ihre Auswirkungen auch im Blick auf den Kaufpreis und die künftige Geschäftsentwicklung quantitativ einzuschätzen. Die Gefahr, dass finanzielle, operative oder kulturelle Risiken nicht erkannt und Synergien über- und Integrationskosten unterschätzt werden, verringert sich entsprechend.

Eine Wachstumsstrategie, die auch auf Akquisitionen beruht, setzt die Verfügbarkeit geeigneter Zielunternehmen voraus. Im Falle von Wüstenrot kamen in den Jahren 2009 und 2010 mit der Vereinsbank Victoria Bauspar (VVB) und der Allianz Dresdner Bauspar (ADB) gleich zwei potenzielle Kandidaten innerhalb kurzer Zeit in Reichweite, die direktes Wachstum und einen Ausbau der Marktposition von Wüstenrot ermöglichten, stand-alone profitabel waren, über den Vertriebskanal Banken und Versicherungen verfügten und eine schnelle, reibungslose Integration umsetzbar machten.

Für die W&W-Gruppe war der strategische Fit sowohl bei der VVB als auch bei der ADB somit ersichtlich: Die VVB verfügte über den Bankenvertrieb der Hypovereinsbank mit rund 600 Filialen und den Flächenvertrieb der Ergo mit rund 13000 Mitarbeitern über eine Vertriebsreichweite, die für die Erzielung des geplanten Wachstums der W&W-Gruppe einen wesentlichen Beitrag leisten konnte. Dass die VVB mit rund 250 Mitarbeitern am Standort München sehr viel kleiner als Wüstenrot mit seinen rund achtmal so vielen Mitarbeitern war, hat eine schnelle und reibungslose Integration begünstigt.

Ähnlich gut wie die VVB fügte sich die ADB, die zur Commerzbank gehörte, in die Wachstumsstrategie der W&W-Gruppe ein. Die ADB vertrieb ihre Produkte über die 1200 Filialen der Commerzbank, rund 10000 hauptamtliche Allianz-Vertreter sowie einen eigenen Außendienst und führte Wüstenrot ein direktes Neugeschäftswachstum um 25 bis 30 Prozent zu. Mit 330 Mitarbeitern an den Standorten Bad Vilbel und München war die ADB zwar größer als die VVB, doch konnten die Integrationserfahrungen und -fähigkeiten aus der VVB-Transaktion genutzt und eine ebenfalls schnelle und reibungslose Eingliederung umgesetzt werden.

Opportunitäten allein reichen aber nicht zum Erfolg. Die Erfahrungen aus beiden Transaktionen lassen den Schluss zu, dass die Realisierung des Wachstums vor allem Ergebnis des Zusammenspiels dreier Faktoren ist: Neben der skizzierten systematischen Vorbereitung des Unternehmens auf Übernahmen und die Transaktion selbst sind die zügige Umsetzung der Integration und schließlich die nachhaltige Einbindung aller Beteiligten die entscheidenden Faktoren.

Denn eine erfolgreiche Akquisitionsstrategie endet für das übernehmende Unternehmen nicht mit dem formalen Abschluss des Integrationsprojekts.

Zügige Umsetzung - Basis für langfristigen Erfolg

In der Analyse von Übernahmeprozessen hat sich häufig gezeigt, dass der tatsächliche Aufwand für die Integration und seine Folgen für das Tagesgeschäft stark unterschätzt werden. Die Bedeutung einer rigorosen Planung und Steuerung des Integrationsprozesses kann daher nicht genug betont werden und unterscheidet erfolgreiche Übernahmen von Wert vernichtenden Transaktionen. Schnelligkeit und Gründlichkeit sind dabei gegeneinander abzuwägen: Eine zügige Realisierung der Synergien sollte nicht zulasten der Nachhaltigkeit der Umsetzung und damit der vollen Ausschöpfung der Potenziale aus der Transaktion gehen.

Die Zeit, die vor der Vertragsunterzeichnung für detaillierte Überlegungen hinsichtlich der betriebswirtschaftlichen, organisatorischen, technischen und kulturellen Integration aufgewendet wird oder unabhängig von der einzelnen Akquisition in den Aufbau systematischer M&A-Kompetenzen und-Prozesse im Unternehmen investiert wird, rechnet sich um ein Mehrfaches in den Monaten danach, im Integrationsprozess - genau dann, wenn es auf Geschwindigkeit ankommt. Denn je länger die Umbruchphase dauert und sich die Organisation mit sich selbst beschäftigt, desto schwieriger ist es, die Aufbruchsstimmung und das Engagement der Beteiligten aufrechtzuerhalten, die parallel zum Tagesgeschäft die Integration leisten müssen.

Die Realisierung der Wüstenrot-Akquisitionen belegt, dass die Zeit vor dem Kauf gut investiert war: So hat bereits vier Monate im Voraus ein Kompetenzteam die Integration der ADB geplant und die Verhandlungen vorbereitet. Im Anschluss an die Due Diligence wurden Vorgehen, Finanzierungsoptionen und Transaktionsstruktur festgelegt, die in der Verhandlungsführung beispielsweise die Vertriebskooperation für Wüstenrot als Kernelement der Akquisition klassifizierten. Für den Verhandlungserfolg wesentlich ist somit eine klare Priorisierung der Verhandlungsthemen und der angestrebten Vertragsinhalte

Entlang der Achsen "hoher/niedriger Einfluss auf die Bewertung" und "offen für Diskussion/nicht debattierbar" lassen sich die Themen vier Gruppen zuordnen. Vertragsinhalte, deren Einfluss auf die Bewertung als gering eingestuft wird und die einen niedrigen Grad an Unsicherheit aufweisen, können als "diplomatischer Goodwill" in der Verhandlung genutzt werden. Themen, welche die Bewertung stark beeinflussen und verhandelbar sind, stehen im Mittelpunkt der Verhandlungsführung. So galt es beispielsweise insbesondere die kritischen personalwirtschaftlichen Themen wie Stellenverlagerungen frühzeitig mit der Arbeitnehmerseite zu verhandeln, um Unruhe innerhalb der Belegschaft zu minimieren. Hier waren eine ehrliche und offene Arbeitsatmosphäre mit dem Betriebsrat und eine zugleich zeitnahe und umfassende Kommunikation in Richtung Belegschaft wichtige Eckpfeiler für einen erfolgreichen Verlauf der Integration.

Module und Faktoren

Eine Integration benötigt darüber hinaus eine eigene Projektorganisation neben der Linienorganisation mit einem für die Integration abgestellten Team aus erfahrenen Führungs- und Fachkräften sowie eigenen Steuerungsprozessen, die schneller als im Tagesgeschäft üblich Entscheidungen ermöglichen. Die Integration der ADB beispielsweise wurde in zehn Modulen organisiert und entlang von acht Kernthemen durchgeführt: Transaktion, Vertrieb, Marke & Produkte, Produktion, Übergangsprozesse, Organisation, Personal & Standorte, IT sowie Budgets, Ressourcen & Steuerung. Für jedes der zehn Module wurden die Ziele definiert und in konkrete Handlungsschritte übersetzt.

Über die gesamte Integrationsphase hinweg erfolgte eine ständige Beobachtung der Risiken entlang dieser Kernthemen und Module, um die Möglichkeit zu schaffen, bei auftretenden Problemen schnell einzugreifen und Ressourcen entsprechend umzusteuern. Im Oktober 2010, kaum fünf Monate nach der Vertragsunterzeichnung, konnte Wüstenrot die fachliche Integration der ADB erfolgreich abschließen; die Migration der IT-Systeme ist für Ende 2012 vorgesehen. Der vergleichsweise geringe Zeitaufwand für die Integration lässt sich auf sechs Faktoren zurückführen, die als Erfolgsfaktoren in Integrationsprozessen verallgemeinerbar sind:

- Prozesse, Systeme und Strukturen (in diesem Fall von Wüstenrot) sind gesetzt - nur so lassen sich zeitraubende Diskussionen über "die bessere Lösung" vermeiden.

- Ablauf und Zeitplan der Integration sind vorab klar definiert - eine realistische Planung bietet allen Beteiligten Orientierung und verhindert ein Durch- und Nebeneinander von Regelungen und Prioritäten.

- Konzeptionelle Themen werden schnell und pragmatisch bearbeitet, durch die vorgehaltenen Ressourcen und die verkürzten Entscheidungswege im Projektteam - das gilt beispielsweise für Planungsbeschlüsse und den Einsatz von Mitarbeitern.

- Eine starke Projektleitung mit einem Projektteam, in dem Leistungsträger beider Organisationen vertreten sind.

- Priorität der Integration - im Fall möglicher Ressourcenengpässe sollte die Integration klaren Vorrang vor anderen laufenden Projekten genießen.

- Frühzeitige, offene Kommunikation verkürzt die Phase der Unsicherheit und stärkt die Mitarbeiterbindung.

Klare Worte - von Anfang an

Je konkreter und realistischer die Details der Integration vorab geklärt sind, desto klarer können die anstehenden Veränderungen vermittelt und rascher umgesetzt werden. So früh wie möglich gilt es daher, auf allen Ebenen der Organisation die Fragen zu beantworten, die sich Mitarbeiter und mittleres Management stellen: "Wie geht es nun weiter? Wohin soll das führen?" und vor allem "Was heißt das konkret für mich?".

Nur so kann Ungewissheit minimiert und das Vertrauen von Mitarbeitern und Management aufrechterhalten werden. Das umfasst auch offene Worte zu unangenehmen Aspekten, seien es Verlagerungen von Stabsbereichen oder Personalreduzierung. Bereits in den ersten vier Wochen nach dem Signing wurde daher an den Standorten der ADB in Bad Vilbel und München klar kommuniziert, dass die Betreuung der neuen Vertriebswege und die Produktion erhalten bleiben, aber auch die Zentralisierung von Stabsaufgaben in Ludwigsburg und Stuttgart geplant ist.

Die personellen Veränderungen, die mit den Übernahmen der VVB beziehungsweise ADB einhergingen, wurden in drei Phasen vorbereitet und umgesetzt: In der ersten Phase, die rund zwei Monate umfasste, wurden auf der Grundlage der bestehenden Stellen und Aufgabenbeschreibungen eine Blaupause der Zielorganisation entwickelt und Personalsynergien ermittelt. Die zweite Phase, die weitere zwei Monate umfasste, konzentrierte sich auf die Verhandlungen mit dem Betriebsrat über die Zielorganisation und den damit verbundenen Personalabbau bis zum Sozialplan. Dieser ambitionierte Zeitrahmen setzte eine frühe Einbindung der Betriebsräte vor Ort und eine ernstgemeinte, gemeinsame Suche nach tragfähigen, dauerhaften Lösungen voraus. Die dritte Phase beinhaltete die Durchführung der Betriebsübergänge sowie die Veränderungsgespräche mit betroffenen Mitarbeitern.

Umsetzung der Wachstumsstrategie

Die erfolgreiche Integration der VVB und der ADB zeigt modellhaft, wie eng Theorie und Praxis bei M&A-Strategien aneinander gekoppelt sind: Eine klare Wachstumsstrategie bereitet den Boden für eine wertschaffende Akquisition; doch erst nach dem Kauf, in der Praxis der Integration, verwandeln sich die Möglichkeiten in reale, messbare Erfolge.

Eine schnelle und reibungslose Integration ist kein Zufall - auch wenn die hohe Zahl misslingender Post-Merger-Integrationen das Gegenteil nahelegt. Sie ist vielmehr das Ergebnis klarer Entscheidungen: Viel Zeit und Energie in die Vorbereitung und Phase vor dem Kauf zu investieren, von Anfang an Ziele und Veränderungen klar zu kommunizieren, und vor allem die Beteiligten und Betroffenen frühzeitig einzubinden. Denn am Ende sind sie es, die in der täglichen Arbeit und im Kontakt zum Kunden den Erfolg in der Praxis tragen.

Im Falle von Wüstenrot kann man als Bilanz der Akquisitionen durchaus das olympische Motto: "citius, altius, fortius" ziehen. Denn mit einer Neugeschäftssteigerung um nahezu 100 Prozent gegenüber dem Ausgangsjahr 2006, dem theoretischen Kundenpotenzial von 40 Millionen Bürgern aus dem eigenen Außendienst sowie den Bank- und Versicherungsvertriebswegen und dem Aufstieg zur unangefochtenen Nummer 2 der Bausparbranche ist Wüstenrot - auch dank seiner M&A-Strategie - schneller, höher und stärker geworden.

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