Flexibilität der EZB wünschenswert

Prof. Dr. Michael Heise, Chefvolkswirt, Allianz Deutschland AG, München - Man kann aus Sicht des Autors sehr wohl in Zweifel ziehen, ob das im Januar 2015 angestoßene umfangreiche Ankaufprogramm für Vermögenswerte der Europäischen Zentralbank überhaupt notwendig war, um die Inflationsrate in den gewünschten Zielkorridor zu bringen. Und er hält auch die Frage für berechtigt, inwieweit die Aufkäufe die erhofften Impulse auf die Kreditentwicklung entfalten können. Aber ohne das Quantitative Easing schätzt er mögliche Ansteckungseffekte durch die aktuelle Politik in Griechenland eindeutig als höher ein. In diesem Sinne wertet er die EZB-Politik als starkes Signal für den Erhalt des Euros, warnt aber vor Risiken und Nebenwirkungen - angefangen von den massiven Belastungen für die Altersvorsorge bis hin zu schwer kalkulierbaren Übertreibungen an den Finanzmärkten. An die EZB appelliert er, nicht starr an dem QE-Programm festzuhalten, sondern je nach Wirkung für einen vorzeitigen Ausstieg offen zu sein. (Red.)

Mit dem im März 2015 begonnenen Programm zum Ankauf von Staatsanleihen hat die EZB ihre Geldpolitik ein weiteres Mal gelockert. Sie macht damit auch einen Schritt in den Grenzbereich zur Staatsfinanzierung. Die Rendite zehnjähriger deutscher Staatsanleihen ist als eine Folge dieser Politik weiter gesunken und liegt (Stand Mitte April) nur noch knapp über null. In Anbetracht der sich bessernden Konjunkturentwicklung und der beträchtlichen Nebenwirkungen ist diese Politik als problematisch anzusehen.

Bei näherer Betrachtung können die Argumente für weitere Expansionsmaßnahmen nicht überzeugen. Erstens ist das derzeitige leichte Minus bei den Inflationsraten in der Eurozone kein Indiz für eine gefährliche Deflation, sondern durch Öl- und Rohstoffpreissenkungen zu erklären, die die Konjunktur bereits erkennbar ankurbeln. Zweitens lässt sich die Wirkung des aktuellen Quantitative Easing an zweifeln, wenn man keinen Wettbewerb um eine Währungsabwertung betreiben möchte. Drittens ist der Preis dieser vermeintlichen Medizin in Form von negativen Nebenwirkungen auf die Stabilität der Finanzmärkte und die Entwicklung der Altersvorsorgevermögen der Privathaushalte zu hoch.

Expansives Anleihekaufprogramm trotz verbesserter Konjunktur

Die EZB hat am 22. Januar dieses Jahres ein erweitertes Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) beschlossen, das die bereits bestehenden Kaufprogramme für Asset-Backed Securities (ABSPP) und gedeckte Schuldverschreibungen (CBPP3) einschließt. Im Rahmen dessen werden nun seit 9. März Wertpapiere des öffentlichen und privaten Sektors in Höhe von monatlich insgesamt 60 Milliarden Euro gekauft. Die Ankäufe sollen bis Ende September 2016 und in jedem Fall so lange dauern, bis die Inflationsentwicklung wieder in Einklang mit dem EZB-Ziel "mittelfristiger Inflationsraten von unter aber nahe 2 Prozent" steht. Im Zuge der Ankündigung und Umsetzung von APP haben die Renditen europäischer Staatspapiere neue Tiefstände erreicht und in einigen EWU-Ländern sind erhebliche Teile der Zinsstrukturkurve im negativen Bereich. Zugleich kletterten die Aktienkurse und der Euro wertete markant ab.

Die EZB-Bilanzsumme ist inzwischen auf über 2 100 Milliarden Euro angestiegen, aber weit entfernt von der "3 Billionen Euro Intention" der EZB. Bilanzsteuerung kann für eine Notenbank kein Ziel an sich sein, zumal die Bilanzsumme der Notenbank erheblich von der Liquiditätsnachfrage der Banken abhängt. Das Hauptanliegen der Zentralbank, mit QE deflationären Tendenzen vorzubeugen, ist zwar legitim, doch bestehen keine ernstlichen Deflationsgefahren im Euroraum. Denn der Rückgang der Öl- und Rohstoffpreise drückt die EWU-Inflationsraten nur vorübergehend in den negativen Bereich und er ist gut für das wirtschaftliche Wachstum. Auch geht von der Euroabwertung ein positiver Konjunktur- und Preisimpuls aus. Ohne den ökonomisch willkommenen Ölpreisrückgang und die notwendigen Kosten- und Preisanpassungsprozesse in den Peripherieländern läge die aktuelle EWU-Inflationsrate um schätzungsweise über einen Prozentpunkt höher, als dies der Fall ist.

Wirksamkeit fraglich

Darüber hinaus kann von Kaufzurückhaltung, die eine echte Deflation kennzeichnet, weil die privaten Haushalte Anschaffungen in Erwartung weiter sinkender Preise in die Zukunft verschieben, keine Rede sein. Bereits im zweiten Halbjahr 2014 entwickelte sich der Privatkonsum im Euroraum recht günstig (mit Zuwachsraten nahe 0,5 Prozent gegenüber Vorquartal) und dies dürfte sich in diesem Jahr fortsetzen nicht zuletzt getragen von Kaufkraftgewinnen aufgrund der gesunkenen Rohstoffpreise. Insgesamt wird sich das Wirtschaftswachstum in der Währungsunion 2015 aller Wahrscheinlichkeit nach auf etwa 1,5 Prozent beschleunigen. Und dabei ist die Chance, dass die Konjunkturbelebung im Euroraum unterschätzt wird, größer als das Risiko, dass es schlechter kommt. Die jüngsten Ergebnisse von EWU-Stimmungsumfragen sind ermutigend und die bisherige Investitionszurückhaltung der Unternehmen hat andere Gründe als Deflationsbefürchtungen. Hier schlägt die große Verunsicherung durch Finanzmarktturbulenzen oder Unsicherheitsfaktoren wie etwa den Ukraine-Konflikt belastend zu Buche.

Die geringe Investitionstätigkeit und damit einhergehend auch die schwache Kreditnachfrage der Unternehmen leiten über zum zweiten Hauptargument gegen die neuen EZB-Anleihekäufe - zur Frage der Wirksamkeit dieser unkonventionellen Maß nahmen. Wegen des ohnehin niedrigen Renditeniveaus ist fraglich, ob durch QE ein nennenswerter Impuls auf die Kreditentwicklung ausgeht. Die Bankenliquidität ist bereits sehr hoch und Liquiditätsengpässe sind sicher nicht der Grund für eine stockende Kreditvergabe. Hier muss vielmehr ins Bild genommen werden, dass es in Teilen des Euroraums vor der Krise zu Übertreibungen bei der Verschuldung der privaten Haushalte und der Unternehmen und beim Aufbau von Verbindlichkeiten im Bankensystem kam. Nötige Bereinigungsprozesse sind in Gang gekommen, brauchen aber Zeit. Solange Schuldenabbau und Risikominderung in den Unternehmen und Banken anhalten, ist mit einer gedämpften Kreditentwicklung zu rechnen.

Das Anleihekaufprogramm wirkt allerdings auch über Veränderungen der Wechselkurse. Schon die Erwartung einer solchen geldpolitischen Aktion und die spätere Ankündigung des Kaufprogramms selbst erzeugten Abwertungsdruck auf den Euro. Denn damit wurde unterstrichen, dass die Geldpolitik dies- und jenseits des Atlantiks in verschiedene Richtungen tendiert. Mit der Umsetzung des neuen Kaufprogramms bleibt die Gemeinschaftswährung unter Abgabedruck, erstens weil das Eurosystem die Wertpapiere teils von außerhalb der EWU erwirbt, zweitens weil es Anlagen im Euroraum mit niedrigen oder gar negativen Renditen noch unattraktiver macht.

Die bisherige Euroabwertung ist aufgrund der bereits angesprochenen Konjunktur- und Preiseffekte zu begrüßen. So steigert eine Abwertung des handelsgewichteten Euro von 10 Prozent (die seit Mitte 2014 derzeit mindestens vorliegt) - sofern sie längere Zeit anhält - über höhere Exporte das Wachstum des EWU-BIP um etwa 0,8 Prozentpunkte. Zugleich erhöht sie das Verbraucherpreisniveau nach einigen Quartalen um schätzungsweise 0,5 Prozent. Der negative Effekt dieses Kaufkraftentzugs dürfte bei etwa 0,3 Prozent des BIP liegen. Folglich ergibt sich in der Summe dann noch ein positiver Konjunkturimpuls der Abwertung in der Größenordnung von 0,5 Prozentpunkten zusätzliches BIP-Wachstum. Die bisherige Wechselkursbewegung hält sich in Grenzen, doch die EZB-Maßnahmen bergen das Risiko eines Überschießens. Hohe Wechselkursvolatilität schafft ein unsicheres Umfeld für Handelsund Investitionsentscheidungen. Länger anhaltende Fehlbewertungen bei den Wechselkursen bergen die Gefahr einer Fehlleitung von Kapital und können politische Spannungen erzeugen. Es gilt, Wettbewerb um eine Währungsabwertung zu vermeiden.

Schutzschild gegenüber der Entwicklung in Griechenland

Trotz der angeführten Bedenken und bevor auf die negativen Nebenwirkungen von QE eingegangen wird, muss ein positiver Effekt hervorgehoben werden. Die EZB-Staatsanleihekäufe wirken als ein weiteres Schutzschild angesichts der gegenwärtigen Entwicklung in Griechenland. Zwar hat die EWU während der Krise große Fortschritte gemacht - sowohl in institutioneller Hinsicht mit insbesondere der Einrichtung des ESM und der Bankenunion als auch in puncto wirtschaftliche Stabilität vor allem durch die Konsolidierungs- und Reformanstrengungen in den Problemländern. Doch der "Ansteckungseffekt" durch die aktuellen Geschehnisse in Griechenland wäre ohne QE sicher spürbarer. Die Risikoprämien der Staatspapiere aus Ländern wie Italien, Spanien oder Portugal lägen wahrscheinlich nicht so tief, wie es der Fall ist.

Die unkonventionelle EZB-Politik ist ein weiteres starkes Signal für den Erhalt des Euro beziehungsweise gegen Spekulationen auf ein Auseinanderbrechen des Währungsraumes. Kritiker wenden dagegen ein, dass die EZB-Maßnahmen die Anreize für nötige Reformen und Konsolidierungsmaßnahmen auf der Ebene der Mitgliedsländer bedenklich verringern. Dieses Argument kann sicher nicht ohne Weiteres verworfen werden, man kann ihm aber begegnen, indem der neue institutionelle Rahmen der EWU mit den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts und dem Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten dazu genutzt wird, den Mitgliedsländern Anreize für Reformen zu geben und auch Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung zugesagter Maßnahmen zu beschließen.

Risiken und Nebenwirkungen

Der wichtigste Aspekt bei der Bewertung der aktuellen Geldpolitik ist die Abwägung möglicher konjunktureller Auswirkungen mit den Risiken und Nebenwirkungen, die eine solche Politik mit sich bringt. Den eher unsicheren und mit einer Abwertung des Euro verbundenen Konjunktur- und Preisimpulsen stehen nämlich gravierende Nebenwirkungen gegenüber. Die unattraktive Verzinsung von sicheren Staatsanleihen zwingt Investoren, in risikoreichere Anlagen mit höheren Erträgen umzuschichten. Die "Jagd nach Rendite" führt zwar auf der einen Seite zu günstigeren Finanzierungsbedingungen für die Unternehmen, sie wird jedoch längerfristig zu erheblichen Fehlentwicklungen führen, da die Risikoübernahme nur unzureichende Prämien generiert - oder anders formuliert, da die hohen Preise für Vermögenswerte die Risiken dieser Papiere nicht hinreichend widerspiegeln. Zu beobachten ist das etwa bei Staatsanleihen hochverschuldeter Länder oder bei Ramschanleihen am Markt für Unternehmensbonds. Das Niedrigzinsumfeld bildet auf diesem Wege den Nährboden für künftige finanzielle Ungleichgewichte.

Problematisch ist auch, dass niedrige Zinsen auf Dauer schlecht für die Vermögen von Sparern sind. Hier wird plakativ oft von "Enteignung der Sparer" gesprochen. Besonders bedenklich in diesem Zusammenhang sind die entstehenden Lücken in der Altersvorsorge. Um die Lebensqualität im Alter finanziell abzusichern, sind angesichts der Nullzinsen und des fehlenden Zinseszinseffekts eigentlich noch höhere Sparanstrengungen erforderlich. Und obwohl das Sparen derzeit sehr unattraktiv ist, was erzielbare Renditen angeht, gibt es keineswegs einen scharfen Rückgang der Sparquoten in der Eurozone.

Das ist angesichts der Verunsicherung vieler Menschen über die Höhe ihrer Altersvorsorge durchaus verständlich. Auch ein weiterer Rückgang der Zinsen, den Nachfragetheoretiker fordern, dürfte somit keinen Konsumboom entfachen. Das gilt auch deswegen, weil die Nullzinspolitik vor allem diejenigen Haushalte belastet, die eine relativ hohe Konsumquote haben. Die breite Masse der Bevölkerung spart auf niedrig verzinslichen Einlagen- oder Sparkonten, die seit einiger Zeit real an Wert verlieren. Die höheren Einkommensschichten der Bevölkerung, die über Aktienengagements verfügen, profitieren dagegen von der Nullzinspolitik. Sie sind aber nicht die Treiber der gesamtwirtschaftlichen Konsumnachfrage.

Risiko von Übertreibungen an den Finanzmärkten

Zu den Nebenwirkungen der ungewöhnlich expansiven Geldpolitik gehört auch das Risiko von Übertreibungen und Blasen an den Finanzmärkten. Je länger die Nullzinsphase anhält und mit einer Normalisierung der Geldpolitik gewartet wird, umso größer wird die Abhängigkeit der Märkte von der geldpolitischen Medizin und umso heftiger werden die Reaktionen, wenn der Entzug nicht behutsam genug erfolgt. Es ist zu hoffen, dass die EZB mit den genannten 3 Billionen Euro keine unverrückbare Richtmarke für die Bilanzsummenausweitung anstrebt und die Strategie mit der Zeit immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden kann, wenn sich die Bedingungen ändern. Die angekündigte Dauer der monatlichen Wertpapierkäufe deckt sich in etwa mit der Zusage unlimitierter Liquiditätszuteilung bei den Tendergeschäften bis Ende 2016 und dem Zeithorizont der Durchführung zielgerichteter Langfristtender. QE kann verlängert werden, wenn die Bedingungen es erfordern. Umgekehrt muss es möglich sein, in Abhängigkeit von der Inflationsentwicklung die Monatsbeträge der QE-Maßnahmen gegebenenfalls früher zu drosseln oder die Käufe ganz auszusetzen.

Zunächst bleibt erst einmal abzuwarten, ob die EZB ihren monatlichen Zielbetrag von 60 Milliarden Euro reibungslos erreichen kann, das heißt ohne dass zu große Teile der europäischen Zinsstrukturkurven in den negativen Bereich abrutschen und die EZB nicht genug Papiere zum Kauf findet, zumal sie hierfür als Renditegrenze den negativen Einlagensatz festgelegt hat. Mit Letzterem steht sie sich hinsichtlich der gewünschten Bilanzsummenausweitung ohnehin selbst im Weg, da der Strafzins die Liquiditätshaltung der Banken unattraktiv macht (mit der Intention, dass Mittel nicht geparkt, sondern Kredite vergeben werden). Alles in allem erwarten wir, dass die positive Konjunkturentwicklung im Euroraum und im Zuge dessen abnehmende Deflationssorgen die sehr expansive EZB-Politik nicht erst Mitte nächsten Jahres als zunehmend fraglich erscheinen lassen.

Vor diesem Hintergrund ist schon im zweiten Halbjahr 2015 eine Modifikation der QE-Maßnahmen zu erwarten und im ersten Halbjahr 2016 wäre sogar eine erste Leitzinsanhebung denkbar (und sei sie nur technischer Natur, um den negativen Einlagensatz zu beseitigen). Bei der Umsetzung des Anleihekaufprogramms wäre es sinnvoll, die gegebene Flexibilität zu nutzen, wenn sich die konjunkturellen Rahmenbedingungen weiter verbessern und die Inflationsraten, wie zu erwarten ist, wieder deutlich in den positiven Bereich gehen. Zum Beispiel wäre es denkbar, den nationalen Zentralbanken, die ihr Kaufsoll nur unter Inkaufnahme starker Marktverzerrungen erfüllen können, eine Reduzierung der Ankäufe zu ermöglichen.

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