Frage an Lutz Freitag

Ist die Genossenschaft noch eine zeitgemäße Wohnform?

Eingängig wirbt ein weltweit agierendes nordisches Möbelhaus mit dem Slogan "Wohnst Du noch oder lebst Du schon?" Darauf kontert die Wohnungswirtschaft: Wohnen ist Leben. Wohnen ist mehr als steinerne Behausung. Die Wohnung, das Umfeld und das Quartier, die Nachbarschaft sowie wohnbegleitende Dienst- und Serviceleistung - das alles macht Wohnen aus. Das Wohnen speziell in Genossenschaften besitzt darüber hinaus eine ideelle Komponente, ist ein Lebensstil. Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung - das sind die genossenschaftlichen Prinzipien. Das genossenschaftliche Wohnen steht für einen dritten Weg zwischen individuellem Eigentum und Wohnen zur Miete.

Persönliche Eigenverantwortung und Solidarität

Auf der Basis rationaler Betriebswirtschaft verbinden Wohnungsgenossenschaften persönliche Eigenverantwortung mit Solidarität innerhalb einer überschaubaren Gemeinschaft.

- Nach dem Prinzip der Subsidiarität leisten Wohnungsgenossenschaften damit viel, was der Staat so nicht oder nicht mehr leisten kann: In Erfüllung ihres genossenschaftlichen Förderzwecks für die Mitglieder.

- Sie erbringen dabei nicht nur den für sie charakteristischen "Member Value", sondern auch einen erheblichen "Public Value". Denn: Sie ermöglichen auch Haushalten mit geringerem Einkommen ein lebenslanges Wohnen im solidarischen Eigentum bei hoher Wohnqualität.

- Gleichzeitig werden durch die nachhaltige Wirtschaftsweise der Wohnungsgenossenschaften zusätzliche Vorteile für das Quartier, die Stadt und die Gesellschaft generiert.

In Deutschland gibt es 2,2 Millionen Wohnungen in Genossenschaften, in denen rund 5 Millionen Menschen, also über sechs Prozent der deutschen Bevölkerung wohnen. Der Anteil der Genossenschaftswohnungen am Gesamtwohnungsbestand von rund 39 Millionen macht rund sechs Prozent aus, bezogen auf den Mietwohnungsbestand rund zehn Prozent. Insgesamt gibt es rund 2 000 Wohnungsgenossenschaften mit rund 2,9 Millionen Mitgliedern, die vom GdW als genossenschaftlichem Spitzenverband auf bundespolitischer Ebene vertreten werden. Pro Jahr beträgt das Investitionsvolumen der Wohnungsgenossenschaften rund 3,4 Milliarden Euro. Die kleinste Wohnungsgenossenschaft weist einen Bestand von unter zehn Wohnungen auf, die größte besitzt über 17 000 Wohneinheiten, und die mitgliederstärkste Wohnungsgenossenschaft hat rund 25 000 Mitglieder.

Eine interessante Variante sind die 43 Wohnungsgenossenschaften mit Spareinrichtungen, die einen Gesamteinlagenbestand von 1,4 Milliarden Euro besitzen. Sie dürfen das Passivgeschäft eines Finanzierungsinstituts betreiben, unterliegen einem speziellen Regelwerk und auch der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Sie bieten ihren Mitgliedern eine attraktive und sichere Geldanlage und besitzen dadurch selbst gute Finanzierungsbedingungen für die Modernisierung und den Ausbau der genossenschaftlichen Wohnungsbestände im Interesse der Mitglieder.

Innovativ bei der Entwicklung von neuen Wohnformen

Wohnungsgenossenschaften sind innovativ bei der Entwicklung und Realisierung von neuen Wohnformen. Sie bieten nicht nur ein lebenslanges Wohnrecht. Sie praktizieren auch Wohnmodelle für ein langes Leben. Dazu gehören spezielle Angebote für junge Menschen, Familien mit Kindern und die verschiedenen Altersgruppen der Senioren. Wohnungsgenossenschaften praktizieren in großer Vielfalt generationsübergreifendes Wohnen. Sie ergänzen das differenzierte Wohnungsangebot durch entsprechende Wohnumfeldgestaltung sowie wohnbegleitende Service- und Dienstleistungen. In einer großen Wohnungsgenossenschaft in Bielefeld gibt es von der Kita bis zum Hospiz alle Serviceangebote rund um das Wohnen - meist in Kooperation mit qualifizierten und verlässlichen sozialen Dienstleistern. Angebote für die Freizeitgestaltung - vom gemeinsamen Nordic Walking bis zum Quigong, Briefmarkentausch oder Kulturveranstaltungen - finden zunehmend Interesse. Derartige Angebote stabilisieren Nachbarschaften, fördern den Zusammenhalt und verhindern Konflikte im Quartier.

Das Wohnen in Genossenschaften führt zu einer überdurchschnittlichen Wohnzufriedenheit. Die durchschnittliche Mitgliedschaftsdauer liegt in Westdeutschland bei 30 Jahren und in Ostdeutschland - zeitgeschichtlich bedingt etwas kürzer - bei 21 Jahren. Diese lange Verweildauer führt zwangsläufig dazu, dass heute die Mitglieder- und Nutzerstruktur der Wohnungsgenossenschaften durch viele ältere Menschen geprägt wird. Wer ein lebenslanges Wohnrecht hat, sich in der Wohnung und im Wohnumfeld wohlfühlt und zusätzlich durch wohnbegleitende Dienstleistungen in der selbstbestimmten Lebensweise bis ins hohe Alter unterstützt wird, bleibt eben sehr lange wohnen.

So ist es kein Wunder und schon gar nicht Ausdruck einer Schwäche der Wohnform Genossenschaft, dass die Mitglieder- und Nutzerstruktur der Wohnungsgenossenschaften heute schon der Bevölkerungsstruktur Deutschlands im Jahrzehnt 2020 bis 2030 entspricht. Dies ist kurz- und mittelfristig kein Problem, wohl aber langfristig, wenn in der Zukunft viele Nutzer/innen etwa zur gleichen Zeit ihre Wohnung nicht mehr nutzen können. Daher ist eine gezielte Mitgliederwerbung junger Menschen und Familien und die Ausweitung des speziellen Wohnangebots für diese Bevölkerungsgruppen dringend erforderlich.

Herausforderungen für die Zukunft

Die letzte Bundesregierung hat eine Expertenkommission eingesetzt, die ein 750 Seiten umfassendes Werk mit rund 60 konkreten Handlungsempfehlungen für die zukünftige Entwicklung der Wohnungsgenossenschaften vorgelegt hat. Die neue Bundesregierung hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung vom November 2005 verpflichtet, diese Erkenntnisse und Empfehlungen weiter zur Grundlage ihrer Politik für den Bereich der Wohnungsgenossenschaften zu machen.

Konkret betrifft dies beispielsweise die Einbeziehung des genossenschaftlichen Wohnens in die Altersvorsorge, und zwar möglichst als staatlich gefördertes Vorsorgeprodukt. Dabei geht es vor allem um den Erwerb zusätzlicher Geschäftsanteile oder auch eines Dauerwohnrechts nach § 31 Wohnungseigentumsgesetz (WEG). Durch die Anlage in zusätzlichen Genossenschaftsanteilen während der Erwerbsphase aus dem - möglichst unversteuerten - Arbeitseinkommen soll Vorsorge für das genossenschaftliche Wohnen im Alter getroffen und die späteren Wohnkosten vermindert werden. Über diesen Vorsorgeweg informiert ein Handbuch die Wohnungsgenossenschaften, das das Bundesbauministerium, das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und der GdW aktuell herausgegeben haben.

Unabhängig davon hat der GdW - gemeinsam mit den anderen Spitzenverbänden der Immobilienwirtschaft - bereits im Frühjahr 2006 ein konkretes Modell zur Integration der Wohnimmobilie in die staatlich geförderte Altersvorsorge entwickelt und der Politik zur Beratung überreicht (Kanape-Modell). In der bisherigen politischen Diskussion hat dieses Modell zuletzt breite Unterstützung durch die Bauwirtschaft und die IG-Bauen-Agrar-Umwelt sowie durch den Deutschen Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung erhalten.

Getreu dem Motto "Tue Gutes und sprich darüber" besitzt ein effizientes Marketing für Genossenschaften einen hohen Stellenwert. Einen wichtigen Schritt stellt hierbei die am 18. Oktober diesen Jahres offiziell gegründete Marketinginitiative der Wohnungsgenossenschaften, die vom GdW im Rahmen eines umfassenden Kooperationsvertrages unterstützt wird. Die Initiative unterstützt Unternehmen mit rund 600 000 Genossenschaftswohnungen im Marketingauftritt und mobilisiert dabei Synergieeffekte bei der Öffentlichkeitsarbeit und Mitgliedergewinnung. Entscheidend ist: Die Konzepte und die Organisation der Maßnahmen werden auf der Regionalebene entwickelt und realisiert. Auf der Bundesebene wird lediglich koordiniert. Genossenschaften bewegen sich seit dem 18. August 2006 in einem veränderten Rechtsrahmen. Durch das novellierte Genossenschaftsrecht wurde die genossenschaftliche Rechtsform insgesamt moderner und attraktiver gestaltet. Große Teile der beschlossenen Regelungen, so zum Beispiel die Stärkung der Mitgliederrechte bei Erhalt der wichtigen Regelungen zur Vertreterversammlung und vor allem die Stärkung der Satzungsautonomie sind sinnvoll. Grundsätzlich gilt das auch für die Verbesserung der Rahmenbedingungen für kleine oder sich neu gründende Genossenschaften, wobei vorrangiges Ziel - auch der Politik die Erhöhung der Zahl der Mitglieder in den bestehenden Wohnungsbaugenossenschaften sein muss.

Wohnungsgenossenschaften sind Zukunft

Das Wohnen bei Genossenschaften verbindet die Flexibilität des Wohnens zur Miete mit der Sicherheit des Wohneigentums und entspricht damit gerade auch den zukünftigen Wohnbedürfnissen junger Menschen und Familien. Genossenschaften bieten ein Wohnangebot für ein langes Leben und ermöglichen gleichzeitig den Wechsel der Wohnung oder des Wohnorts ohne erhebliche Transaktionskosten, wenn zum Beispiel berufliche Veränderungen oder familiäre Entwicklungen es erfordern. Sie bieten das sichere und gute Wohnen im solidarischen Eigentum ohne belastende Kapitalbindung.

In einer Zeit, in der die Risiken in der Arbeitswelt und bei der sozialen Sicherung für die Bürgerinnen und Bürger zunehmen, bieten Wohnungsgenossenschaften Wohnsicherheit - nicht als kuscheliger Fluchtpunkt für wenige, sondern als rationales, auf Eigenverantwortung beruhendes Geschäftsmodell und nicht durch Pflege sozialromantischen Brauchtums, sondern durch Innovation und Wandel.

"Der Geist der freien Genossenschaft ist der Geist der modernen Gesellschaft", so formulierte es der Genossenschaftspionier Hermann Schulze-Delitzsch. Diese Aussage hat auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, und die 2 000 Wohnungsgenossenschaften in Deutschland liefern täglich den Beweis dafür: Wohnen bei Genossenschaften hat Zukunft - Wohnungsgenossenschaften sind Zukunft.

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